Kein wissenschaftliches Resultat ist dagegen gefeit, aus dem theoretisch-methodologischen Kontext heraus, indem es als wissenschaftliches Argument notwendigerweise steht, herausgenommen und als absolute Wahrheit aufgefasst und verkündet zu werden. So stimmt es selbstverständlich, dass bei einer Popularisierung oder in der Propaganda die logischen Voraussetzungen einer Prognose meist unter den Tisch fallen (so wie bei jeder Veröffentlichung von Resultaten empirischer Sozialforschung in den Medien die methodischen Voraussetzungen derselben ungenannt bleiben). Auch Poppers Falsifikationismus kann naiv verabsolutiert, seine offene Gesellschaft simplifiziert werden. So ist zumindest Poppers Kritik die Undifferenziertheit anzulasten, mit der sie nicht zwischen der anspruchsvollen wissenschaftlichen Form des marxschen Arguments oder anderer marxistischer Theoretiker und deren popularisierten und ideologischen Fassungen unterscheidet, wie man sie in der Tagespraxis kommunistischer Agitation sowie beim normalen Medienkonsumenten vorfindet (Kolakowski 1984a; Burawoy 1990a). Angeblich jedoch kam es Popper ja darauf an, das Argument in seiner stärksten Form zu kritisieren, und nicht etwa nur ideologische Verflachungen oder Deformationen des Marxismus anzuprangern. War es aber wirklich Poppers Absicht, das politische Wunschdenken des Marxismus zu bekämpfen, d.h. die marxistische Politik auf eine realpolitische Basis zu stellen?!
Wenn Popper sein eigenes Anliegen offen betrachtet hätte, so wäre er darauf gekommen, dass es ihm um primär politische Differenzen mit kommunistischer Politik ging und nicht darum, ob Marxisten eine logisch einwandfreie Prognosetechnik benutzen. Poppers Strategie, Vorurteile durch Aufsuchen ihrer theoretischen oder philosophischen Ursprünge liquidieren zu wollen, stellt eine Argumentationslinie dar, die selbst auf einer mythischen Denkweise beruht, welche eine Idee als eine Substanz auffasst, wie mit sich selbst identisch bis auf ihren ersten Ursprung zurückzuverfolgen ist. Diesen verbreiteten Mythos [1]) hat Bhatt (1999a:75) rekonstruiert. Der verbreitete Glaube an Propheten beruht aber nicht so sehr auf einer falschen Philosophie oder bösen Ideen als an irrationalisierenden Einflüssen der betreffenden Form der Gesellschaft. Dies widerspricht auch eklatant Poppers Essentialismus-Kritik, dessen sog. „methodologischen Nominalismus“ viel eher Neurath in einer kurz und prägnanten Weber-Kritik zum Ausdruck bringt:
„Es gibt Protestanten, aber keinen Protestantismus.“ (Neurath 1931a:58)
Demzufolge müsste Popper als Nominalist konsequenterweise sagen: Es gibt keinen Essentialismus (oder Marxismus, Totalitarismus etc.), sondern nur Essentialisten (etc.) Elster (1982a) hat genau diesen Braten gerochen und plädiert für einen methodologischen Individualismus zuzüglich bei den Individuen kognitiv vorhandener Universalien - eine Lösung, der Popper später mit seiner 3-Welten-Lehre nähergetreten ist.
In den eigentlichen Kernpunkt des Problems führt vermutlich die Frage der Begriffslogik. Hegel hat die Identität zwischen Denken und Sein [2]) vorausgesetzt, hat aber diese klare idealistische Prämisse nur zur ex-post-Betrachtung ausgewertet. Es ist nur zu verständlich, dass Linkshegelianer wie Lukács diese idealistische Prämisse auszubeuten versuchen, um eine Theorie revolutionärer Praxis zu fundieren, die womöglich die Geschichte der Zukunft zu konstruieren erlauben soll. So wie Disneyland nicht mehr den Schein von Wirklichkeit, sondern den Schein einer Scheinwelt widerspiegelt, so ist der Neohegelianismus in seiner aufgewärmten Form eine Verdoppelung bereits ideologisch verdoppelter Scheinwelten, also IdeologieIdeologie. Die Nabelschnur zum realen Leben ist dem ungeübten Auge nicht mehr erkennbar, oft mit theorieimmanenten Mitteln nicht mehr auszumachen. Rationaler Zugang gelingt nur noch durch kritische Destruktion. Der Neohegelianismus ist ein Gerüst, das auf ein anderes Gerüst baut, ohne dessen Grundlagen zu geprüft zu haben.
Existenzgrundlage des Marxismus ist aber schon jeher die Arbeiterbewegung und darauf fußend die Kritik der politischen Ökonomie. Es ist daher begründeter Zweifel angebracht,
1. ob ein ideologisch-dogmatisches Ausbeuten der idealistischen Identitätsphilosophie jemals in Marxens Absicht lag (Es wäre nicht erfordert gewesen, jahrelange ökonomischen Grundlagen- und Detailanalysen für das „Kapital“ zu treiben, wenn ein spekulativer Zugriff auf die Zukunft für praktikabel gehalten wäre!) und
2. ob die materialistische Fundierung der marxschen Dialektik dies logisch und/oder philosophisch überhaupt zugelassen hätte.
Die Identität von Denken und Sein in der revolutionären Praxis stellt sich nämlich nur sehr widersprüchlich her und ist zu keinem Zeitpunkt der Geschichte absolut zu nehmen. Die absolute Identität von Sein und Bewusstsein ist für das marxsche Denken historisch nie erreicht; sie kann nichts weiter als eine philosophische Abstraktion darstellen. Einzig die Kritik in und durch die Praxis vermag wirklich zu werden.
„Dass aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei, und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube.“ (Kant XI:335) [3])
[1]) „’Blood’ invokes immediately the sexual metaphor and the heterosexual act itself. These sexual metaphors are allied closely to the patronymic of the ancient fathers (not the actual father, who is typically made to disappear) and the genealogical quest that shows one’s descent from and identity with them. In this project, time is both collapsed and is seen to be congruent with the travel of the patronymic, or with that quality which is transmitted patrilinearly. The mother, the ‘empty vessel’ (Theweleit 1987) is also created as disappearance in this mythical genealogy, but frequently reappears in various ancient geographical or spatial tropes. This ‘genealogy’ is a pure form, an immediate purity of the male self, or the purity of the substance that is transmitted unchanged, that provides a powerful mythical idea for one’s ownmost and purest history."
[2]) „Aus der Identität von Denken und Sein die Realität irgendeines Denkergebnisses beweisen zu wollen, das war ja grade eine der tollsten Fieberphantasien - eines Hegel." (Engels, Anti-Dühring:68)
[3]) Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Physischen oder Moralischen." (Kant XI:335, Anm.*)
2 Kommentare:
„Und nach dem kurzen Verzweifeln kommt nun, wie es sich gehört, die fröhliche Wissenschaft. Denn nun ist sie rechtfertigungsfrei, überhaupt ganz und gar frei. (...) Feyerabend ist konsequenter als Popper, er wählt nämlich gleich Anarchismus der Methoden." (Brentano 1971a:490)
Ebenfalls meldet Bhatt ) gewisse Zweifel an, ob mit der Kritik des Fundamentalismus durch den Fallibilismus schon der Sieg der aufklärerischen Vernunft sichergestellt sei. Indes, wenn er die leichte Verfügbarkeit selbst fallibilistischer Argumentationen für partikularistische Ideologie denunziert, erhebt sich die Frage, ob er damit von Philosophie oder Ideen nicht etwas verlangt, was sie per se nicht leisten können. Es gibt eben keine Gedanken mit eingebautem Missbrauchsschutz, in der Philosophie so wenig wie anderswo. Das Problem sitzt sogar noch tiefer. Begriffe bilden zusammen mit ihren typischen Anwendungsfällen ein Sinnganzes. Notorischer Missbrauch kann daher tatsächlich einen Begriff mit der Zeit völlig herunterwirtschaften, was dann aber weniger mit der Idee an sich zu tun hat, als mit den Leuten, ihren Verhältnissen und ihrer Geschichte.
"Western critics of teleological reason or foundationalism, such as Kuhn and Feyerabend, are mobilized in support of a project that seeks to create the human civilization record anew in fundamentally particularist directions. If this illustrates the ease with which anti-foundationalist ideas can allow themselves to be used for chauvinist enterprises, it perhaps also raises a more elemental question about the nature of the philosophical debate about foundation."(Bhatt 1999a:76)
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