Das interessantere Problem für uns hier ist jedoch, ob Schumpeter im Hinblick auf das Verhältnis Marx zu Hegel nicht doch zu wenig eingeräumt hat. Hat vor allem nicht auch Hegels Dialektik die begriffslogische bzw. methodologische Vorgehensweise des „Kapital" auf eine wesentliche und auch bestimmbare Weise geprägt? Der Verdacht ist nur zu begründet, dass es dem auf die Autonomie [1]) der ökonomischen Disziplin bedachten Schumpeter schlichtweg darauf ankam, Marx als einen zünftigen Ökonomen zu deuten und dazu jedweden philosophischen Ballast über Bord werfen zu können. Wie Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" [2]) zeigt, ist dies ohne weiteres (d.h. ohne Rücksicht auf Verluste) bis zu einem gewissen Grade sinnvoll durchführbar. Schumpeters Marx-Recycling [3]) stellt jedoch weder eine authentische Interpretation des betreffenden Oeuvre dar noch kann sie unfraglich den berechtigten Anspruch geltend machen, die einzig wissenschaftlich sinnvolle darzustellen. Dass Schumpeter Marxens Hegel-Rezeption auf terminologische Einflüsse reduziert, offenbart nur sein positivistisches Verständnis von Sprache: Atomistisch und nominalistisch auswechselbar, gilt Sprache ihm als eine subjektive Veranstaltung, deren inhaltliche Neutralität [4]) das objektive Wesen der besprochenen Sache nicht zu berühren vermag.
Selbst wenn Hegels Dialektik lediglich Terminologie und Rhetorik des „Kapital" mitgeprägt hätte (nicht auch seine Erkenntnistheorie, Methodologie und Begriffslogik etc.), kann wohl eine Theorie nicht umstandslos in eine andere Sprache übersetzt werden, ohne dass sich damit Begriffe und deren Bedeutungen ändern (Kamlah 1978a:42). Eine empirische Theorie ist zwar in einem gewissen Rahmen und Maße unabhängig von der Metaphysik, woraus sie erwachsen ist; dennoch gibt es zwischen beiden wechselseitige Beziehungen der Unterstützung oder Abstoßung, aber keine Indifferenz schlechthin. Neuraths [5]), Schumpeters wie Robinsons Vorgehensweise muss daher nicht anders aufgefasst werden, als dass diese de facto die marxsche Ökonomie in ihrer eigenen, ihnen selbst gewohnten ökonomischen Fachsprache diealtypisch rekonstruieren. Ihre ökonomische Marx-Kritik richtet sich daher präzise verstanden gegen nichts weiter als dieses Bild, das sie sich, durch ihre eigene gewohnte metaphysische Brille betrachtet, von Marx fabriziert haben (d.h. einen Schumpeter-Marx).
Wie wir aber vorstehend gesehen haben, verbietet es Marxens materialistische Position von vornherein, seine Dialektik, welche er auch ausdrücklich als „materialistisch" kennzeichnete, im philosophischen Sinne von Hegel zu interpretieren, vor allen Dingen auch nicht als eine Logik des Beweisens.[6]) Grob gesagt, dient die materialistische Dialektik der Exposition dessen, was Popper neben der Logik am meisten am Herzen liegt, nämlich einer empirischen Theorie (Malewski 1959a), und beutet dabei großzügig sowohl begriffslogische wie soziologische Ideen Hegels aus.
Marx sagt bekanntlich, dass er Hegel dabei „umstülpe" [7]). Von dem, was Hegel damit ursprünglich systematisch verfolgt hatte, bleibt hierbei oft wenig, bzw. das Gegenteil übrig (Wahsner 1998a; Wagenknecht 1997a). Übrigens äußert Döring [8]) eine etwas verwegene Vermutung darüber, weshalb Marx von „Umstülpung" gesprochen hat; was sich vermutlich schon dadurch erklärt, dass Döring vom idealistischen Standpunkt gegen Poppers Realismus [9]) Bedenken trägt und schon von daher sich außer Stande sieht, Feuerbachs und Marxens Wende zum Materialismus als philosophische Leistung zu würdigen. In dieser Wende liegt aber die ganze Pointe dieses bildlichen Vergleichs. Es überrascht daher überhaupt nicht, dieselbe sehr naheliegende Metapher auch schon bei Feuerbach [10]) zu finden. Das Verhältnis zwischen Bewusstsein und materiellen Verhältnissen lässt sich auf die folgenden Punkte bringen:
Verhalten ändert sich unter der Einwirkung der vorherrschenden Sanktionsmechanismen in der jeweiligen Umwelt.
Diese Sanktionsmechanismen (z. B. Markt oder Bürokratie) induzieren bestimmte ideologische Vorstellungsmuster über ihr Wirken und ihre Legitimität (z.B. Gerechtigkeit, Leistung, Verbrechen und Strafe).
In Wechselwirkung beeinflussen jedoch auch diese Vorstellungen das Wahrnehmen von Sanktionen (comparison level of deprivation, reference group, level of aspiration etc.).
[1]) Ironischerweise wird heute Schumpeter selbst einerseits nicht nur als stark in der marxschen Tradition verankert gesehen, sondern andererseits auch trotz einiger seiner eigentümlichen Unklarheiten über die eigene Position (Diskrepanz zwischen deklarierter und praktizierter Forschungsstrategie!) als ein Eckpfeiler von Wirtschaftssoziologie betrachtet: "Schumpeter basically saw capitalism as a dialectically unfolding whole. In this aspect his theory belongs to the German social science tradition, which includes such works as MARX [1867] Das Kapital, SOMBART's [1902-27] Der moderne Kapitalismus und WEBER's [1922] Wirtschaft und Gesellschaft." (Swedberg 1989a:517). Zu Schumpeters Methodologie siehe Dahmen(1984a).
[2]) Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und deren Konjunkturzyklus, Berlin 5. Aufl. 1952 Siehe dazu Predöhl 1964a.
[3]) "Auf Abfallhaufen entsteht neues Leben. Man gewöhnt sich daran, Abfallhaufen als 'Felder' systematisch zu behandeln." (Neurath 1931a:89)
[4]) Auch Popper (1994b:291) zeigt sich nur zu gerne bereit, der bequemen Fiktion der Neutralität der Terminologie sich hinzugeben: "Die Ersetzung einer Bezeichnungsweise durch eine andere ist lediglich eine Frage der Terminologie. Durch die Wahl einer zweckmäßigen oder unzweckmäßigen Terminologie kann man zwar dazu beitragen, ein Problem klar darzustellen oder zu verwirren; aber selbstverständlich kann eine solche Umbenennung allein an dem Problem selbst nichts ändern." Der Problemcharakter einer Frage und der Bereich der möglichen Antworten werden jedoch bestimmt durch die zur Formulierung gewählte Sprache und Theorie. Eine Formulierung in einer anderen kann zu einer Lösung führen, die ansonsten nie ins Blickfeld gekommen wäre.
[5]) Als gleichermaßen Marxist und Positivist reinsten Wassers trennt Neurath (1931a:37) ebenfalls scharf Marxens metaphysische Redeweise von dessen Argumentation und hält erstere für letztere unwesentlich. Der Streit zwischen Positivisten und Metaphysikern ist eine Frontlinie, die sich ebenfalls historisch querbeet durch den Marxismus zieht (cum grano salis: Hegel vs. Feuerbach, Marx vs. Engels, Lenin vs. Kautsky, Horkheimer u. Adorno vs. Neurath).
[6]) Damit dürfte Böhm-Bawerks (1973a:25ff) Frage zur Interpretation der marxschen Einführung des Wertes im „Kapital", Bd.1 hinreichend beantwortet sein.
[7]) "Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken." (Marx, K1:27)
[8]) Döring (1996a:100) bezieht das „auf dem Kopf gehen" ausschließlich auf eine Stelle in Hegels Phänomenologie (25), wo das Verhältnis des natürlichen Bewusstseins zum wissenschaftlichen behandelt wird.
[9]) "... until some new arguments are offered, I shall naîvely accept realism." (Popper 1973a:65)
[10]) „Hegel steht auf einem die Welt konstruierenden, ich auf einem die Welt als seiend voraussetzenden, sie als seiend erkennen wollenden Standpunkte; er steigt herab, ich hinauf. Hegel stellt den Menschen auf den Kopf, ich seine auf der Geologie ruhenden Füße." (Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, 1874a:319)
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