Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Hegel und "Das Kapital"

Das interessantere Problem für uns hier ist jedoch, ob Schumpeter im Hinblick auf das Ver­hält­nis Marx zu Hegel nicht doch zu we­nig eingeräumt hat. Hat vor allem nicht auch Hegels Di­alektik die be­griffslogische bzw. me­thodologische Vorgehensweise des „Kapital" auf eine we­sentliche und auch bestimm­ba­re Weise geprägt? Der Verdacht ist nur zu begründet, dass es dem auf die Au­to­nomie [1]) der öko­no­mischen Dis­zip­lin bedachten Schumpeter schlichtweg dar­auf ankam, Marx als einen zünftigen Öko­no­men zu deuten und dazu jedweden philoso­phi­schen Ballast über Bord werfen zu können. Wie Schum­pe­ters „Theorie der wirtschaft­lichen Entwicklung" [2]) zeigt, ist dies ohne weiteres (d.h. ohne Rücksicht auf Verluste) bis zu einem gewissen Gra­de sinnvoll durchführ­bar. Schumpeters Marx-Recyc­ling [3]) stellt je­doch weder ei­ne authen­ti­sche Interpre­ta­tion des betreffenden Oeuv­re dar noch kann sie un­frag­lich den be­rech­tigten Anspruch gel­tend ma­chen, die einzig wissenschaftlich sinnvolle darzu­stel­len. Dass Schumpe­ter Marxens He­gel-Re­zep­tion auf termino­lo­gi­sche Ein­flüs­se reduziert, of­fenbart nur sein positivisti­sches Ver­ständnis von Spra­che: Ato­mi­stisch und no­mi­nalistisch auswechselbar, gilt Sprache ihm als ei­ne subjektive Ver­an­stal­tung, deren in­halt­liche Neutralität [4]) das objek­tive Wesen der be­spro­che­nen Sache nicht zu be­rühren ver­mag.

Selbst wenn Hegels Dialektik lediglich Terminologie und Rhetorik des „Kapital" mitgeprägt hät­te (nicht auch seine Erkenntnistheorie, Methodologie und Begriffslogik etc.), kann wohl eine Theorie nicht um­stands­los in eine andere Sprache übersetzt werden, ohne dass sich damit Be­grif­fe und de­ren Bedeutungen ändern (Kamlah 1978a:42). Eine empirische Theorie ist zwar in ei­nem ge­wis­sen Rahmen und Maße unabhängig von der Metaphysik, woraus sie erwachsen ist; dennoch gibt es zwischen bei­den wechselseitige Bezie­hun­gen der Unterstützung oder Absto­ßung, aber kei­ne Indifferenz schlecht­hin. Neuraths [5]), Schumpeters wie Robinsons Vorge­hens­weise muss da­her nicht anders aufgefasst wer­den, als dass diese de facto die marxsche Öko­nomie in ihrer ei­genen, ihnen selbst gewohnten öko­no­mischen Fachsprache die­altypisch re­konstruieren. Ihre öko­nomische Marx-Kritik richtet sich daher prä­zise verstanden gegen nichts weiter als dieses Bild, das sie sich, durch ihre eigene gewohnte meta­phy­sische Brille be­trachtet, von Marx fabriziert ha­ben (d.h. einen Schumpeter-Marx).

Wie wir aber vorstehend gesehen haben, verbietet es Marxens materialistische Position von vorn­her­ein, seine Dialektik, welche er auch ausdrücklich als materialistisch" kennzeichnete, im phi­lo­sophi­schen Sinne von Hegel zu interpretieren, vor allen Dingen auch nicht als eine Lo­gik des Beweisens.[6]) Grob ge­sagt, dient die materialistische Dialektik der Exposition dessen, was Popper neben der Lo­gik am meisten am Herzen liegt, nämlich einer empirischen Theorie (Ma­lew­ski 1959a), und beu­tet dabei großzügig sowohl begriffslogische wie soziologische Ideen He­gels aus.

Marx sagt bekanntlich, dass er Hegel dabei „umstülpe" [7]). Von dem, was Hegel da­mit ur­sprüng­lich systematisch verfolgt hatte, bleibt hierbei oft wenig, bzw. das Gegenteil übrig (Wahs­ner 1998a; Wagenknecht 1997a). Übrigens äußert Döring [8]) eine etwas verwegene Ver­mu­tung darüber, weshalb Marx von „Umstülpung" gesprochen hat; was sich vermutlich schon da­durch erklärt, dass Dö­ring vom idealistischen Standpunkt gegen Poppers Realismus [9]) Be­den­ken trägt und schon von da­her sich außer Stande sieht, Feuerbachs und Mar­xens Wende zum Ma­terialismus als philosophische Leistung zu würdigen. In dieser Wende liegt aber die gan­ze Poin­te die­ses bildlichen Vergleichs. Es überrascht daher überhaupt nicht, dieselbe sehr na­he­lie­gende Metapher auch schon bei Feuerbach [10]) zu finden. Das Verhältnis zwischen Be­wusst­sein und materiellen Verhältnissen lässt sich auf die fol­gen­den Punkte bringen:

Verhalten ändert sich unter der Einwirkung der vorherrschenden Sanktionsmechanismen in der jewei­ligen Umwelt.

Diese Sanktionsmechanismen (z. B. Markt oder Bürokratie) induzieren bestimmte ideo­logi­sche Vor­stel­lungsmuster über ihr Wirken und ihre Legitimität (z.B. Gerechtigkeit, Leistung, Ver­brechen und Stra­fe).

In Wechselwirkung beeinflussen jedoch auch diese Vorstellungen das Wahrnehmen von Sank­tionen (comparison level of deprivation, reference group, level of aspiration etc.).



[1]) Ironischerweise wird heute Schumpeter selbst einerseits nicht nur als stark in der marxschen Tradition ver­ankert gese­hen, sondern andererseits auch trotz einiger seiner eigentümlichen Unklar­hei­ten über die eigene Po­si­tion (Diskrepanz zwischen deklarierter und praktizierter Forschungs­stra­tegie!) als ein Eckpfeiler von Wirt­schafts­soziologie betrachtet: "Schumpeter basically saw capi­ta­lism as a dialectically unfolding whole. In this aspect his theory belongs to the German social science tradition, which includes such works as MARX [1867] Das Kapital, SOMBART's [1902-27] Der moderne Kapitalismus und WEBER's [1922] Wirtschaft und Gesellschaft." (Swedberg 1989a:517). Zu Schumpeters Methodologie siehe Dahmen(1984a).

[2]) Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unterneh­mer­gewinn, Kapital, Kredit, Zins und deren Konjunkturzyklus, Berlin 5. Aufl. 1952 Sie­he dazu Predöhl 1964a.

[3]) "Auf Abfallhaufen entsteht neues Leben. Man gewöhnt sich daran, Abfallhaufen als 'Felder' systema­tisch zu be­handeln." (Neurath 1931a:89)

[4]) Auch Popper (1994b:291) zeigt sich nur zu gerne bereit, der bequemen Fiktion der Neu­tra­li­tät der Ter­mi­no­logie sich hinzugeben: "Die Ersetzung einer Bezeichnungsweise durch eine andere ist lediglich eine Frage der Ter­minologie. Durch die Wahl einer zweckmäßigen oder unzweck­mä­ßi­gen Terminologie kann man zwar dazu bei­tragen, ein Problem klar darzustellen oder zu verwirren; aber selbstverständlich kann eine sol­che Um­benen­nung allein an dem Problem selbst nichts än­dern." Der Problemcharakter einer Frage und der Bereich der möglichen Ant­worten werden je­doch bestimmt durch die zur Formulierung gewählte Sprache und Theorie. Eine Formu­lie­rung in einer anderen kann zu einer Lösung füh­ren, die ansonsten nie ins Blick­feld gekommen wäre.

[5]) Als gleichermaßen Marxist und Positivist reinsten Was­sers trennt Neu­rath (1931a:37) eben­falls scharf Marxens metaphysische Rede­wei­se von dessen Ar­gumentation und hält erstere für letz­te­re unwesentlich. Der Streit zwischen Positivisten und Metaphysikern ist eine Frontlinie, die sich ebenfalls historisch querbeet durch den Marxismus zieht (cum grano salis: Hegel vs. Feuerbach, Marx vs. Engels, Lenin vs. Kautsky, Hork­heimer u. Adorno vs. Neurath).

[6]) Damit dürfte Böhm-Bawerks (1973a:25ff) Frage zur Interpretation der marx­schen Einfüh­rung des Wertes im „Kapital", Bd.1 hinreichend beantwortet sein.

[7]) "Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Wei­se, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dar­gestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken." (Marx, K1:27)

[8]) Döring (1996a:100) bezieht das „auf dem Kopf gehen" ausschließlich auf eine Stelle in Hegels Phä­nome­no­lo­gie (25), wo das Verhältnis des natürlichen Bewusstseins zum wissenschaft­li­chen be­handelt wird.

[9]) "... until some new arguments are offered, I shall naîvely accept realism." (Popper 1973a:65)

[10]) „Hegel steht auf einem die Welt konstruierenden, ich auf einem die Welt als seiend voraus­setzenden, sie als sei­end erkennen wollenden Standpunkte; er steigt herab, ich hinauf. Hegel stellt den Menschen auf den Kopf, ich seine auf der Geologie ruhenden Füße." (Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, 1874a:319)

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