Popper trifft hier jedoch eine begriffliche Scheidung: Planbarkeit und rationales Handeln ist innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems möglich. Gesellschaftliche Revolutionen sind jedoch an sich unkontrollierbar und daher irrational. In diesem Sinne ist Popper strukturkonservativ und politischer Positivist.
Der politische Positivismus akzeptiert für die Bemessung des Spielraums von Änderungen unreflektiert die bestehende Ordnung:
"Als wissenschaftlich unerlaubt gelten dieser Form von Positivismus vorwiegend jene Urteile, die den bestehenden Zustand der Gesellschaft transzendieren, wogegen Aussagen, in denen die bestehenden Verhältnisse verewigt bzw. in die Zukunft prolongiert werden, sich der allgemeinen Zustimmung erfreuen." (Lenk 1972a:298)
Das von Popper propagierte Schlagwort "piece-meal engineering" fußt auf einer derartigen positivistischen Voraussetzung. Es setzt eine Prämie auf eine Politik, die den Kopf in den Sand steckt. Denn dieses Schlagwort stellt eine Problemverkürzung dar - wie ja gemeinhin eine politische Position am besten dadurch gekennzeichnet zu werden pflegt, nicht was sie als Gemeinplatz behauptet, sondern was sie verschweigt, auslässt oder als Thematik unterdrückt.
Popper trennt mit seinem Slogan die reformistische Position aus dem Zusammenhang der Revisionismus-Diskurs (Sombart 1908a:244) heraus, die um die Jahrhundertwende innerhalb der Arbeiterbewegung sehr viel konkreter und differenzierter geführt worden war. Ging es damals um die Frage Reform oder Revolution, so war hiermit präzise die Frage definiert, um welche Gesellschaft, in welcher Situation und im Hinblick auf welches politische Ziel man diskutierte. Schon hier war jedoch der Begriff "Revolution" nie völlig eindeutig (Sombart 1908a:78): Meint man damit das Ergreifen der politischen Macht im Staate, oder meint man damit eine Umwälzung von sozioökonomischen Verhältnissen?[1])
Im Vergleich zu dieser historischen Debatte liefert Popper lediglich ein Schlagwort mit einigen Allgemeinen Überlegungen, die in einem sozialen Vakuum auf dem zeitlosen Hintergrund einer historischen tabula rasa vorgeführt werden. Man kann diese Vulgarisierung der einen, nämlich der reformistischen Position zu Recht als eine Problemdegeneration betrachten, da aus inhaltlich präzisen und unmittelbar problembezogenen Argumenten nichts weiter als Leerformeln abgezogen wurden, von denen niemand mehr recht zu sagen weiß, worauf sie eigentlich anwendbar sein sollen.
[1]) Ist ein Revolutionär so etwas Ähnliches wie eine Dampfmaschine? So pointierte Kautsky diese alternative Sichtweisen von "Revolution".
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen