Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Utopien sind eine reale Notwendigkeit

Ist nicht das Utopische, das kluge Realpolitik und Opportunitätsdenken Über­schie­­ßende, durch­aus notwendig [1]) für den gesellschaftlichen Fortschritt?

Diese Frage stellte sich schon Lassalle (1919a:137f) [2]). „Utopien" erfüllen kriti­sche und po­li­tische Funktionen (Bloch 1946a). Aus unserer Perspektive der Zukunft von heute sind die Ra­di­kalen von gestern nur zu häufig Gefangene der Phantasie­lo­sigkeit [3]) ihrer eigenen Zeit. Heut­zutage ist je­doch schon der schlichte Wunsch nach einem lebenslangen Arbeitsplatz eine kon­krete Utopie, deren Verwirklichung Staat und Gesellschaft revolutionieren müsste. Die per­ma­nente Revolution, die un­sere heutige Zeit darstellt, zu überstehen, ist schon alles, was ein Kon­servativer über­haupt erreichen zu hoffen vermag.

„Die Moderne ist daher zu einem weltweiten Experiment geworden [...] Es han­delt sich nicht um ein Experiment unter Laboratoriumsbedingungen, denn wir können die Resultate nicht anhand fest stehender Parameter vorhersagen, viel­mehr um ein gefährliches Abenteuer, an dem jeder von uns teilzunehmen hat, möge es ihm gefallen oder nicht." (A. Giddens)



[1]) „Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden durchgearbeiteten Bewusstheit, mit welcher sie ihr Klassenin­ter­es­se, eben weil es ein bereits herrschendes, ausgearbeitetes ist, durchdringt. Die ewige Schwäche ei­ner jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem Mangel an Be­wusstheit seitens der Glieder der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an Organisation der ihr zu Gebote ste­hen­den Mittel. Der hierbei stets wiederkehrende dialektische Widerspruch ist kurz folgender. Die Stär­ke der Revolution besteht in ihrer Begeisterung, diesem unmittelbaren Zutrauen der Idee in ih­re ei­ge­ne Kraft und Unendlichkeit. Aber die Begeisterung ist - als diese unmittelbare Gewissheit von der Allmacht der Idee - zunächst ein abstraktes Hinwegsehen über die endlichen Mittel zur wirk­li­chen Ausführung und über die Schwierigkeiten der realen Verwicklung. Die Begeisterung muss sich somit auf die reale Verwicklung und in eine Operation mit den endlichen Mitteln einlas­sen, um in der endlichen Wirklichkeit ihre Zwecke zu erreichen. Sie scheint sonst in ihrem Schwär­men für das Was? (- den Zweck -) die reelle Seite des Wie?, der Verwirklichung, zu übersehen. Un­ter diesen Umständen scheint es ein Triumph übergreifender realistischer Klugheit seitens der Re­vo­lutionsführer, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung andern (und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst) geheim zu halten, und durch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen, ja durch die Benützung dieser, die Möglichkeit zur Organisation der neuen Kräfte zu gewinnen, um so durch dies klug erlangte Stück Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst dann zu besiegen." - „In der Tat, so schwer es dem Verstande wird, dies einzugestehen, beinahe scheint es, als ob ein unlöslicher Wider­spruch zwischen der spe­ku­lativen Idee, welche die Kraft und Berechtigung einer Revolution ausmacht, und dem endlichen Ver­stande und seiner Klugheit bestünde. Die meisten Revolutionen, die gescheitert sind, sind - ... - an dieser Klugheit gescheitert, oder mindestens alle sind gescheitert, die sich auf diese Klugheit ge­legt haben." (Lassalle 1919a:139)

[2]) Lassalle (1919a:139) fährt mit einem von Weber angeführten Gedanken fort, den Giddens (1979a:95) fälschlicherweise Lukács zuschreibt: „Denn erstens ist (...) das Interesse der herrschen­den Klasse, eben weil ihr Prinzip das herrschende und also ein ganz ausgearbeitetes, bewusstes ist, ein nicht zu täuschendes. Individuen sind zu täuschen. Klassen niemals!" Der ganze Gedanke be­steht, wie man leicht sieht, in der Verabsolutierung einer relativen Wahrheit.

[3]) „Das Licht des Unzerstörbaren an den großen Kunstwerken und philosophischen Texten ist weniger das Alte und ver­meint­lich Ewige, das selber der Zerstörung verschworen bleibt, als das der Zukunft. Ein jedes Geistige hat seine Wahrheit an der Kraft der Utopie, die durch es hindurch­leuchtet. Nur wenn die Menschheit, um zu überleben, die Utopie nicht länger mehr verbietet, son­dern dessen inne wird, dass Überleben selber heute mit der Verwirklichung der Utopie eines Sinnes wurde, dann wird auch die Starre des Geistes sich lösen - nicht etwa bloß durch seine Anstrengung oder die Verfeinerung seiner Mittel." (Adorno 1971a:31)

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