Ist nicht das Utopische, das kluge Realpolitik und Opportunitätsdenken Überschießende, durchaus notwendig [1]) für den gesellschaftlichen Fortschritt?
Diese Frage stellte sich schon Lassalle (1919a:137f) [2]). „Utopien" erfüllen kritische und politische Funktionen (Bloch 1946a). Aus unserer Perspektive der Zukunft von heute sind die Radikalen von gestern nur zu häufig Gefangene der Phantasielosigkeit [3]) ihrer eigenen Zeit. Heutzutage ist jedoch schon der schlichte Wunsch nach einem lebenslangen Arbeitsplatz eine konkrete Utopie, deren Verwirklichung Staat und Gesellschaft revolutionieren müsste. Die permanente Revolution, die unsere heutige Zeit darstellt, zu überstehen, ist schon alles, was ein Konservativer überhaupt erreichen zu hoffen vermag.
„Die Moderne ist daher zu einem weltweiten Experiment geworden [...] Es handelt sich nicht um ein Experiment unter Laboratoriumsbedingungen, denn wir können die Resultate nicht anhand fest stehender Parameter vorhersagen, vielmehr um ein gefährliches Abenteuer, an dem jeder von uns teilzunehmen hat, möge es ihm gefallen oder nicht." (A. Giddens)
[1]) „Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden durchgearbeiteten Bewusstheit, mit welcher sie ihr Klasseninteresse, eben weil es ein bereits herrschendes, ausgearbeitetes ist, durchdringt. Die ewige Schwäche einer jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem Mangel an Bewusstheit seitens der Glieder der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Der hierbei stets wiederkehrende dialektische Widerspruch ist kurz folgender. Die Stärke der Revolution besteht in ihrer Begeisterung, diesem unmittelbaren Zutrauen der Idee in ihre eigene Kraft und Unendlichkeit. Aber die Begeisterung ist - als diese unmittelbare Gewissheit von der Allmacht der Idee - zunächst ein abstraktes Hinwegsehen über die endlichen Mittel zur wirklichen Ausführung und über die Schwierigkeiten der realen Verwicklung. Die Begeisterung muss sich somit auf die reale Verwicklung und in eine Operation mit den endlichen Mitteln einlassen, um in der endlichen Wirklichkeit ihre Zwecke zu erreichen. Sie scheint sonst in ihrem Schwärmen für das Was? (- den Zweck -) die reelle Seite des Wie?, der Verwirklichung, zu übersehen. Unter diesen Umständen scheint es ein Triumph übergreifender realistischer Klugheit seitens der Revolutionsführer, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung andern (und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst) geheim zu halten, und durch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen, ja durch die Benützung dieser, die Möglichkeit zur Organisation der neuen Kräfte zu gewinnen, um so durch dies klug erlangte Stück Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst dann zu besiegen." - „In der Tat, so schwer es dem Verstande wird, dies einzugestehen, beinahe scheint es, als ob ein unlöslicher Widerspruch zwischen der spekulativen Idee, welche die Kraft und Berechtigung einer Revolution ausmacht, und dem endlichen Verstande und seiner Klugheit bestünde. Die meisten Revolutionen, die gescheitert sind, sind - ... - an dieser Klugheit gescheitert, oder mindestens alle sind gescheitert, die sich auf diese Klugheit gelegt haben." (Lassalle 1919a:139)
[2]) Lassalle (1919a:139) fährt mit einem von Weber angeführten Gedanken fort, den Giddens (1979a:95) fälschlicherweise Lukács zuschreibt: „Denn erstens ist (...) das Interesse der herrschenden Klasse, eben weil ihr Prinzip das herrschende und also ein ganz ausgearbeitetes, bewusstes ist, ein nicht zu täuschendes. Individuen sind zu täuschen. Klassen niemals!" Der ganze Gedanke besteht, wie man leicht sieht, in der Verabsolutierung einer relativen Wahrheit.
[3]) „Das Licht des Unzerstörbaren an den großen Kunstwerken und philosophischen Texten ist weniger das Alte und vermeintlich Ewige, das selber der Zerstörung verschworen bleibt, als das der Zukunft. Ein jedes Geistige hat seine Wahrheit an der Kraft der Utopie, die durch es hindurchleuchtet. Nur wenn die Menschheit, um zu überleben, die Utopie nicht länger mehr verbietet, sondern dessen inne wird, dass Überleben selber heute mit der Verwirklichung der Utopie eines Sinnes wurde, dann wird auch die Starre des Geistes sich lösen - nicht etwa bloß durch seine Anstrengung oder die Verfeinerung seiner Mittel." (Adorno 1971a:31)
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