Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Marx: Ein artistisches Ganzes

So wie Poppers (1979a:17ff) philosophisches Problembewusstsein gleich als Erstes sich an ei­nem begriffslogischen Unbehagen über Wortklauberei rieb, so ist Marxens begriffslogisches Ver­ständ­nis gleich zu Beginn seines Berliner Studiums durch die Bekanntschaft mit der philo­so­phi­schen Me­tho­de Hegels geweckt und gegründet worden. Wir besitzen darüber einen Be­richt aus seiner ei­genen Hand, nämlich in seinem Brief [1]) an den Vater. Dass dies keine ju­gend­liche Marotte blieb, zeigt der Brief Marx an Engels am 31.07.1865:

„Was nun meine Arbeit betrifft, so will ich Dir darüber reinen Wein ein­schen­ken. Es sind noch 3 Kapitel zu schreiben, um den theoretischen Teil (die 3 er­sten Bücher) fertig zu machen. Dann ist noch das 4. Buch, das historisch-litera­rische, zu schreiben, was mir relativ der leichteste Teil ist, da alle Fra­gen in den 3 er­sten Büchern gelöst sind, dies also mehr Repetition in historischer Form ist. Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Gan­ze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, dass sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreich­bar mit meiner Wei­se, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen. Mit der Jakob Grimmschen Methode ist dies unmöglich und geht überhaupt bes­ser für Schriften, die kein dialektisch Gegliedertes sind." (MEW 31:132) [2])

Eine vergleichbare Kritik am kantischen abstrakten Indi­vi­dualismus [3]) findet sich indes schon bei Fichte oder, wie Haym (1857a) fest­stellt, bereits mit Goethe und Schiller sowie allen Au­to­ren der Romantik. Wer aber wie Marx die Gesellschaft ändern will, kann dies immer nur hier und jetzt und in der konkre­ten Situation tun: Hic Rhodus, hic salta!



[1]) Marx: Brief an den Vater, MEW40:4-5)

[2]) Man vergleiche zum Thema "Artistik": „Die Virtuosität des Artisten fasziniert gerade durch ich­re völlige Zweck­lo­sigkeit, durch die Hingabe an die ganz funktionslose und - nach der ästhe­ti­schen Terminologie - zweckfreie Körperbeherrschung. Sie kommt zu ihrer paradoxen Vollendung, wenn die Steigerung der Virtuosität aufge­geben wird und statt dessen höchster künstlerischer Elan das völlige Feh­len von Virtuosität zum Vorschein bringt, etwa bei Franz Kafkas Sängerin aus dem Volk der Mäuse, von der nie­mand zu sagen vermag, ob sie singt oder pfeift und was ihr Pfeifen von dem andrer Mäuse unterscheidet außer die Hingabe, mit der sie es immer wieder zu Gehör bringt. Oder wenn umgekehrt in einem Stück von Peter Ablinger, zahl­reiche völlig starr geschla­ge­ne Metren einen in seiner Unregelmäßigkeit nicht mehr erfassbaren Rhythmus erge­ben, der zum er­sten Mal wirklich dem Rhythmus des Regens zu ähneln scheint." (Sanio 1996a)

[3]) „Kant ordnet also allerdings den Menschen der Menschheit unter. Aber ‘Menschheit’ be­deu­tet bei ihm nicht die konkrete Menschengemeinschaft, sondern den abstrakten Men­schen­wert. Nicht dass wir Glieder, sondern dass wir Repräsentanten der Menschheit seien, fordert der katego­ri­sche Imperativ. Auch in diesem Falle er­scheint Kants Werten, begrifflich und nach sei­ner logi­schen Struktur betrachtet, nicht als Eingliederung in ei­ne Totalität, sondern als Subsumtion unter einen Allgemeinbegriff. In­dem Kant das Verhältnis der Per­sön­lich­keit zum allgemeinen Sit­tenge­setz untersucht, abstrahiert er grade von jeder realen Verbundenheit oder Ge­mein­schaft der Indi­vi­duen untereinander. Der abstrakte Universalismus, der seine ganze Weltanschauung be­herrscht, steht darum jenseits des Gegensatzes von ‘Sozialismus’ und Anarchismus. Ja, grade die Al­leinherr­schaft dieses Uni­ver­salismus führt gradezu zur Vernachlässigung und Zerstörung des so­zi­alen Zu­sam­menhanges und insofern zum extremen ‘Individualismus’. Trotz dieser zweifellosen Dis­paratheit von abstrakter ‘Allgemeinheit’ und ‘Allheit’ oder ‘Totalität’ hat allerdings Kant selbst den Ge­danken der Gemeinschaft in die Begründung des formalen sittlichen Wertes mit­hin­ein­ge­zo­gen. Er hat näm­lich neben den beiden, durch die ganze Methode der Transzendentalphilosophie ge­recht­fertig­ten Be­deutungen von All­gemeinheit noch eine dritte Art von Allgemeinheit eingeführt und zwar die eines ‘Gesetzes’ in einem intelligiblen ‘Reich’. Durch diese metaphysisch-juristische Um­deu­tung des ‘Vernunftgesetzes’ konnte frei­lich leicht die Vorstellung einer Gemeinschaft oder eines ‘Reichs der Zwecke’ gewonnen und für eine bloße Fol­gerung aus dem formalen Sittengesetz ausge­geben wer­den. Auch in den sonstigen Erörterungen über den ka­te­gorischen Imperativ bildet die in diesem Zusammenhange völlig unbegründete Idee eines geschlossenen Ge­mein­wesens die still­schwei­gen­de Voraussetzung. Häufig wird ja - besonders bekanntlich in den ‘Beispielen’ - die Abso­lut­heit des ethischen Wertes und seine Notwendigkeit für jedes moralische Bewusstsein in die da­von ganz ver­schiedene gleichzeitige Ausführbarkeit einer bestimmten Handlung durch alle Mit­glie­der eines ge­dach­ten Gemeinwesens umgedeutet. Es handelt sich demnach hierbei nicht um eine formale Allge­meingültigkeit des sitt­lichen Willens, sondern um die Möglichkeit einer Verallge­mei­nerung, um die Ausführbarkeit der ganzen Hand­lung ihrem Inhalte nach. Von den daraus sich er­gebenden Folgen für die Gesellschaft wird die sittliche Qua­li­tät der Handlung abhängig gemacht; während der Ab­sicht nach ein formales Kriterium der Pflichtmäßigkeit ge­sucht wird, erhält so das sittliche Tun sei­ne Sanktion in letzter Linie von dem in­haltlichen Wert des Ge­mein­we­sens, dessen Bestehen mit un­kritischer Naivität und im Widerspruch mit der ganzen Frage­stel­lung als end­gül­ti­ger Maßstab auf­gestellt wird. Der Gemeinschaftsgedanke wird in allen diesen Ausführungen teils durch will­kür­li­che Umdeutung erschlichen, teils ohne jede Begründung von vornherein voraus­ge­setzt. Trotz al­ler Ansätze zu einer ethischen Be­gründung des Sozialen ver­mochte demnach Kant den mit der trans­zendentalen Methode so eng verknüpften ‘Atomismus’ niemals in der Tiefe der Spekulation zu überwinden." (Lask 1914a:247ff)

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