So wie Poppers (1979a:17ff) philosophisches Problembewusstsein gleich als Erstes sich an einem begriffslogischen Unbehagen über Wortklauberei rieb, so ist Marxens begriffslogisches Verständnis gleich zu Beginn seines Berliner Studiums durch die Bekanntschaft mit der philosophischen Methode Hegels geweckt und gegründet worden. Wir besitzen darüber einen Bericht aus seiner eigenen Hand, nämlich in seinem Brief [1]) an den Vater. Dass dies keine jugendliche Marotte blieb, zeigt der Brief Marx an Engels am 31.07.1865:
„Was nun meine Arbeit betrifft, so will ich Dir darüber reinen Wein einschenken. Es sind noch 3 Kapitel zu schreiben, um den theoretischen Teil (die 3 ersten Bücher) fertig zu machen. Dann ist noch das 4. Buch, das historisch-literarische, zu schreiben, was mir relativ der leichteste Teil ist, da alle Fragen in den 3 ersten Büchern gelöst sind, dies also mehr Repetition in historischer Form ist. Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, dass sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen. Mit der Jakob Grimmschen Methode ist dies unmöglich und geht überhaupt besser für Schriften, die kein dialektisch Gegliedertes sind." (MEW 31:132) [2])
Eine vergleichbare Kritik am kantischen abstrakten Individualismus [3]) findet sich indes schon bei Fichte oder, wie Haym (1857a) feststellt, bereits mit Goethe und Schiller sowie allen Autoren der Romantik. Wer aber wie Marx die Gesellschaft ändern will, kann dies immer nur hier und jetzt und in der konkreten Situation tun: Hic Rhodus, hic salta!
[1]) Marx: Brief an den Vater, MEW40:4-5)
[2]) Man vergleiche zum Thema "Artistik": „Die Virtuosität des Artisten fasziniert gerade durch ichre völlige Zwecklosigkeit, durch die Hingabe an die ganz funktionslose und - nach der ästhetischen Terminologie - zweckfreie Körperbeherrschung. Sie kommt zu ihrer paradoxen Vollendung, wenn die Steigerung der Virtuosität aufgegeben wird und statt dessen höchster künstlerischer Elan das völlige Fehlen von Virtuosität zum Vorschein bringt, etwa bei Franz Kafkas Sängerin aus dem Volk der Mäuse, von der niemand zu sagen vermag, ob sie singt oder pfeift und was ihr Pfeifen von dem andrer Mäuse unterscheidet außer die Hingabe, mit der sie es immer wieder zu Gehör bringt. Oder wenn umgekehrt in einem Stück von Peter Ablinger, zahlreiche völlig starr geschlagene Metren einen in seiner Unregelmäßigkeit nicht mehr erfassbaren Rhythmus ergeben, der zum ersten Mal wirklich dem Rhythmus des Regens zu ähneln scheint." (Sanio 1996a)
[3]) „Kant ordnet also allerdings den Menschen der Menschheit unter. Aber ‘Menschheit’ bedeutet bei ihm nicht die konkrete Menschengemeinschaft, sondern den abstrakten Menschenwert. Nicht dass wir Glieder, sondern dass wir Repräsentanten der Menschheit seien, fordert der kategorische Imperativ. Auch in diesem Falle erscheint Kants Werten, begrifflich und nach seiner logischen Struktur betrachtet, nicht als Eingliederung in eine Totalität, sondern als Subsumtion unter einen Allgemeinbegriff. Indem Kant das Verhältnis der Persönlichkeit zum allgemeinen Sittengesetz untersucht, abstrahiert er grade von jeder realen Verbundenheit oder Gemeinschaft der Individuen untereinander. Der abstrakte Universalismus, der seine ganze Weltanschauung beherrscht, steht darum jenseits des Gegensatzes von ‘Sozialismus’ und Anarchismus. Ja, grade die Alleinherrschaft dieses Universalismus führt gradezu zur Vernachlässigung und Zerstörung des sozialen Zusammenhanges und insofern zum extremen ‘Individualismus’. Trotz dieser zweifellosen Disparatheit von abstrakter ‘Allgemeinheit’ und ‘Allheit’ oder ‘Totalität’ hat allerdings Kant selbst den Gedanken der Gemeinschaft in die Begründung des formalen sittlichen Wertes mithineingezogen. Er hat nämlich neben den beiden, durch die ganze Methode der Transzendentalphilosophie gerechtfertigten Bedeutungen von Allgemeinheit noch eine dritte Art von Allgemeinheit eingeführt und zwar die eines ‘Gesetzes’ in einem intelligiblen ‘Reich’. Durch diese metaphysisch-juristische Umdeutung des ‘Vernunftgesetzes’ konnte freilich leicht die Vorstellung einer Gemeinschaft oder eines ‘Reichs der Zwecke’ gewonnen und für eine bloße Folgerung aus dem formalen Sittengesetz ausgegeben werden. Auch in den sonstigen Erörterungen über den kategorischen Imperativ bildet die in diesem Zusammenhange völlig unbegründete Idee eines geschlossenen Gemeinwesens die stillschweigende Voraussetzung. Häufig wird ja - besonders bekanntlich in den ‘Beispielen’ - die Absolutheit des ethischen Wertes und seine Notwendigkeit für jedes moralische Bewusstsein in die davon ganz verschiedene gleichzeitige Ausführbarkeit einer bestimmten Handlung durch alle Mitglieder eines gedachten Gemeinwesens umgedeutet. Es handelt sich demnach hierbei nicht um eine formale Allgemeingültigkeit des sittlichen Willens, sondern um die Möglichkeit einer Verallgemeinerung, um die Ausführbarkeit der ganzen Handlung ihrem Inhalte nach. Von den daraus sich ergebenden Folgen für die Gesellschaft wird die sittliche Qualität der Handlung abhängig gemacht; während der Absicht nach ein formales Kriterium der Pflichtmäßigkeit gesucht wird, erhält so das sittliche Tun seine Sanktion in letzter Linie von dem inhaltlichen Wert des Gemeinwesens, dessen Bestehen mit unkritischer Naivität und im Widerspruch mit der ganzen Fragestellung als endgültiger Maßstab aufgestellt wird. Der Gemeinschaftsgedanke wird in allen diesen Ausführungen teils durch willkürliche Umdeutung erschlichen, teils ohne jede Begründung von vornherein vorausgesetzt. Trotz aller Ansätze zu einer ethischen Begründung des Sozialen vermochte demnach Kant den mit der transzendentalen Methode so eng verknüpften ‘Atomismus’ niemals in der Tiefe der Spekulation zu überwinden." (Lask 1914a:247ff)
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