Der Kalkülbegriff hat in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle gespielt (Arndt 1971a). Jahrhunderte lang hat der an Euklids Geometrie orientierte „mos geometricus" das Gardemaß an Wissenschaftlichkeit vorgegeben. Aber weit entfernt, eine Axiomatisierung im hilbertschen Sinne darzustellen, muss sie historisch als die Urform einer Modell-Betrachtung angesehen werden (Mueller 1969a): Eine euklidsche Ableitung [1]) ist allerdings nicht eine logische Ableitung aus Postulaten - eine derartige Interpretation wurde erst von Hilbert eingeführt - sondern ein Gedankenexperiment, durchgeführt an einem idealisierten Objekt, wobei zuvor Annahmen über die Natur desselben und die an demselben zulässigen Operationen getroffen wurden. So gesehen liegt einer jeden Modellbetrachtung eine Standardisierung der Gesprächssituation, diese als ein wissenschaftlicher Diskurs betrachtet, zugrunde. Jeder Diskurs setzt eine Scheidung des Fraglichen von dem als zumindest vorläufig als ungefragt Unterstellten voraus. Diese Relativierung eines jeden Modells auf eine Klasse bestimmter Voraussetzungen oder Annahmen ist unabweisbar und logisch bedingt. Man muss sich daher davor hüten, die jeweiligen logischen Bedingungen oder Annahmen eines Modells zu ontologisieren, sie zu unhintergehbaren Voraussetzungen der Realität zu machen.[2]) Was in einer Modellbetrachtung jeweils relativ dazu als gegeben unterstellt wird, ist nicht mit einer in der Realität absolut wahren Voraussetzung oder historischen Bedingung [3]) oder einer realen Invarianz zu verwechseln.
Die Frage der Modellbildung sowie des Verhältnisses zwischen Modell und Realität lässt sich also am Beispiel der Geometrie dennoch recht gut untersuchen. Die reine Geometrie ist eine rein begriffliche Angelegenheit und hat erst einmal mit der Realität nichts zu tun (Popper 1994b:205). Erst bei der Anwendung einer bestimmten Geometrie auf die Realität kommt es zu einem Gegensatz zwischen Empirismus und Konventionalismus. Beide Positionen sind durchführbar, impliziren jedoch unterschiedliche Konsequenzen für die Methodologie.
Der Konventionalist sagt, dass ein abweichendes Messergebnis nicht zur Wahl einer anderen Geometrie zwingt, sondern dass die benutzten Messkörper korrigiert werden müssen. Der Empirist wird sagen, dass der Messkörper durch eine explizite Zuordnungsdefinition festgelegt ist. Daher könne nur die Erfahrung über die der Realität entsprechende Geometrie entscheiden.
Man kann demnach sagen: Während der Konventionalist die Geometrie frei wählt und den Messkörper anpasst, hat der Empirist die Messkörper festgelegt und passt die zu wählende Geometrie den Messergebnissen an (Popper 1994b:210).
[1]) "I conclude, then, that a Euclidean derivation is an experiment performed on idealised physical objects, the experiment being limited by preliminary agreements (first principles) concerning the nature of the objects, some of their properties, and the operations that may be performed on them." (Mueller 1969a:295) Dies steht in Gegensatz zur Auffassung von "Ableitung" bei Hilbert: " a deduction according to principles of logic from a certain group of sentences called postulates"
[2]) "Man soll aus Definitionen nicht folgern das heißt entweder, man soll daraus, dass man sich ohne Widerspruch in die Beschreibung eines Dinges, welches ganz unabhängig von unserer Beschreibung existiert, ein gewisses Merkmal hat denken können, nicht ohne weiteren Grund schließen, dass dasselbe darum im wirklichen Dinge anzutreffen sein müsse; oder man soll bei einem Dinge, das selbst erst durch uns, nach einem davon gebildeten Begriffe, der den Zweck desselben ausdrückt, hervorgebracht werden soll, aus der Denkbarkeit dieses Zwecks noch nicht auf die Ausführbarkeit desselben in der Wirklichkeit schliessen; aber nimmermehr kann es heißen, man solle sich bei seinen geistigen oder körperlichen Arbeiten keinen Zweck aufgeben, und sich denselben, noch ehe man an die Arbeit geht, ja nicht deutlich zu machen suchen, sondern es dem Spiele seiner Einbildungskraft oder seiner Finger überlassen, was etwa herauskommen möge." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:26)
[3]) Dies hat Marx der vertragsrechtlich konstruierten Story vorgeworfen hat, wie sie Proudhon unterkommt.
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