c) Prognose nicht-stationärer Systeme
„Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, ausnahmslos alle Unternehmungen und ausnahmslos alle Staaten verschlingenden Welttrust verläuft. Doch diese Entwicklung erfolgt unter solchen Umständen, in einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten und Erschütterungen - keineswegs nur ökonomischen, sondern auch politischen, nationalen usw. usf. -, dass notwendigerweise, bevor es zu einem einzigen Welttrust, zu einer ‚ultraimperialistischen’ Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unweigerlich bersten muss, dass der Kapitalismus in sein Gegenteil umschlagen wird.“ [1])
Der Popperizismus sei gezwungen, unkonditionale Voraussagen zu machen, weil er nach Langzeitprognosen für Gesellschaften strebe, nämlich nach einer "historischen Prognose großen Stils" (Neurath 1931a:38). Die sei jedoch für Gesellschaften nicht möglich, weil Gesellschaften keine isolierten, stationären Systeme darstellten.
Popper verstärkt noch seine Argumentation, die prinzipielle Unmöglichkeit nachzuweisen, dass der Prophet gar kein Prognostiker werden könne, selbst wenn er Randbedingungen angeben wollte. Denn der Historizist könne seine Vorhersagen gar nicht aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen ableiten,
"da langfristige Prophetien aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen nur dann abgeleitet werden können, wenn sie sich auf Systeme beziehen, die als isoliert, stationär und zyklisch beschrieben werden können. Solche Systeme sind in der Natur sehr selten; und die moderne Gesellschaft gehört mit Sicherheit nicht dazu." (Popper 1967a:117)
"isoliertes, stationäres, zyklisches System" soll fürderhin mit "ISZ" abgekürzt werden.
Poppers Argument beinhaltet somit zweierlei Thesen:
(T1) Nur für ISZ können langfristige Prognosen aufgestellt werden.
(T2) Keine relevanten theoretischen Modelle von Gesellschaft lassen sich als ISZ darstellen.
Zu (T1): Bei offenen Systemen sei es prinzipiell unmöglich, die Veränderung der für wissenschaftliche Prognosen erforderlichen Randbedingungen vorauszusehen. Bei langfristigen Prognosen stelle sich aber das Problem, wie die logisch erforderlichen Randbedingungen als empirisch gegeben vorausgesehen werden können. Dieses sei nur in geschlossenen Systemen praktisch möglich.
Es ist jedoch logisch möglich, die Gegebenheit der Randbedingungen für Theorie t1 aus einer zweiten Theorie t2 abzuleiten. Das Merkmal "Systemoffenheit" ist immer systemrelativ. Miteinander in Wechselwirkung stehende Systeme können auf einer anderen Ebene der Betrachtung theoretisch erklärt werden.
Zu (T2):
"Soweit übrigens innerhalb der Gesellschaft Systeme vorkommen, die annähernd dieser Beschreibung genügen, ist eine entsprechend langfristigere Prognosemöglichkeit eventuell gegeben. Die Gesellschaft als Ganzes ist jedenfalls kein Repetitionsphänomen." (Albert 1967b:140, Anm.28)
Wem geht es aber schon um die Erklärung oder Prognose der "Gesellschaft als Ganzes"?! Wiederholungen in der Geschichte der Menschheit sind immer nur relativ. Es gibt auch eine kleine Anzahl von Aussagen, die für alle Raum-Zeit-Gebiete gelten; diese sind jedoch, wenn nicht trivial, so doch für die Erklärung historischer Prozesse in keinem Fall ausreichend (Engels 1970a:83). "Gesellschaft" ist immer schon eine theoretische Abstraktion aus der Geschichte "an sich". Es wäre ein Fehlschluss, vom abstrakten Begriff auf die konkrete Realität zu schließen. Theorien kennzeichnen Invarianzen in der Geschichte, und Invarianzen sind immer theorierelativ. Dass sich Geschichte als konkrete Totalität permanent wiederhole, will wohl niemand behaupten. Geschichte ist aber auch kein Chaos. Die Mitte zwischen beiden Extremen, das strukturell und prozessual Invariante unter dem Zufälligen herauszufinden, das ist die Aufgabe, die sich dem Sozialwissenschaftler stellt. Alberts Argument stellt lediglich heraus, dass jede Aussage über eine historische Veränderung eine relative Stabilität des erklärten System gegenüber dem unerklärten historischen Hintergrund impliziert. Diese relative Stabilität ist jedoch nicht unabhängig von der behaupteten Aussage empirisch prüfbar.
Ob Poppers These T2 zutrifft, stellt eine empirisch zu beantwortende Frage dar, die sich nicht schon allein durch a priori-Überlegungen abweisen lässt. Es gilt somit gegen Poppers A-priori-Argumentation prinzipiell genau dasselbe Argument, das Albert gegen die prinzipielle Leugnung der Existenz sozialwissenschaftlicher Gesetze durch den Historismus [2]) vorgebracht hat:
„Da wir die Geltung von Gesetzesaussagen nicht apriorisch beurteilen können, können wir die Unangemessenheit solcher Aussagen auf die Struktur der gesellschaftlichen Realität nur daran erkennen, dass dieselben empirisch scheitern. Aufgrund von a priori-Überlegungen die Möglichkeit der Entdeckung von Gesetzen zu leugnen, ist nichts weiter als die ‘Ontologisierung einer Wissenslücke’." (Albert 1967b:133f)
[1]) W. I. Lenin, Vorwort zu N. Bucharins Broschüre "Weltwirtschaft und Imperialismus". Quelle: Wladimir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, (unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960), Berlin/DDR, S. 101-106; zuerst veröffentlicht am 21. Januar 1927 in der "Prawda" Nr. 17.
[2]) Zum ersten Methodenstreit: Menger (1871a), (1883a), (1884a); Schmoller (1873a), (1888a), (1911a); Salin (1944a). Zum neueren Methodenstreit: Gottl (1901a), Spann (1924a), Jecht (1928a), Meinecke (1928a), Troeltsch (1922a), Mannheim (1924a), Rickert (1924a), Barth (1922a), Brunner (1927a), Sombart (1967a), Eucken (1959a).
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