Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

c) Prognose nicht-stationärer Systeme

c) Prognose nicht-stationärer Systeme

„Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, aus­nahmslos alle Unternehmungen und ausnahmslos alle Staaten ver­schlingenden Welttrust ver­läuft. Doch diese Entwicklung erfolgt unter sol­chen Umständen, in einem solchen Tempo, un­ter solchen Widersprüchen, Kon­flikten und Erschütterungen - keineswegs nur ökono­mi­schen, sondern auch po­li­ti­schen, nationalen usw. usf. -, dass notwendigerweise, bevor es zu einem ein­zi­gen Welttrust, zu einer ‚ultraimperialistischen’ Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unweigerlich bersten muss, dass der Kapitalismus in sein Gegenteil umschlagen wird.“ [1])

Der Popperizismus sei gezwungen, unkonditionale Voraussagen zu machen, weil er nach Lang­zeitprognosen für Gesellschaften strebe, nämlich nach einer "histori­schen Prognose gro­ßen Stils" (Neurath 1931a:38). Die sei jedoch für Gesellschaften nicht möglich, weil Gesell­schaf­ten keine isolierten, stationären Systeme darstell­ten.

Popper verstärkt noch seine Argumentation, die prinzipielle Unmöglichkeit nach­zu­weisen, dass der Prophet gar kein Prognostiker werden könne, selbst wenn er Randbe­din­gun­gen ange­ben wollte. Denn der Historizist könne seine Vorhersagen gar nicht aus bedingten wis­sen­schaft­lichen Prognosen ableiten,

"da langfristige Prophetien aus bedingten wissenschaftlichen Prognosen nur dann abgeleitet werden können, wenn sie sich auf Systeme beziehen, die als iso­liert, stationär und zyklisch beschrieben werden können. Solche Systeme sind in der Natur sehr selten; und die moderne Gesellschaft gehört mit Si­cher­heit nicht dazu." (Popper 1967a:117)

"isoliertes, stationäres, zyklisches System" soll fürderhin mit "ISZ" abgekürzt werden.

Poppers Argument beinhaltet somit zweierlei Thesen:

(T1) Nur für ISZ können langfristige Prognosen aufgestellt werden.

(T2) Keine relevanten theoretischen Modelle von Gesellschaft lassen sich als ISZ darstellen.

Zu (T1): Bei offenen Systemen sei es prinzipiell unmöglich, die Veränderung der für wissenschaftliche Prognosen erforderlichen Randbedingungen vorauszusehen. Bei langfristigen Prognosen stelle sich aber das Problem, wie die logisch erforder­li­chen Randbedingungen als empirisch gegeben voraus­gesehen werden können. Die­ses sei nur in geschlossenen Systemen praktisch möglich.

Es ist jedoch logisch möglich, die Gegebenheit der Randbedingungen für Theorie t1 aus einer zweiten Theorie t2 abzuleiten. Das Merkmal "Systemoffenheit" ist im­mer systemrelativ. Mit­ein­an­der in Wechselwirkung stehende Systeme können auf einer anderen Ebene der Betrach­tung the­oretisch erklärt werden.

Zu (T2):

"Soweit übrigens innerhalb der Gesellschaft Systeme vorkommen, die annä­hernd dieser Beschreibung genügen, ist eine entsprechend langfristigere Pro­gno­semög­lichkeit eventuell gegeben. Die Gesellschaft als Ganzes ist jedenfalls kein Repetitionsphänomen." (Albert 1967b:140, Anm.28)

Wem geht es aber schon um die Erklärung oder Prognose der "Gesellschaft als Ganzes"?! Wie­derholungen in der Geschichte der Menschheit sind immer nur re­lativ. Es gibt auch eine klei­ne Anzahl von Aussagen, die für alle Raum-Zeit-Gebiete gelten; diese sind jedoch, wenn nicht trivial, so doch für die Er­klä­rung historischer Prozesse in keinem Fall ausreichend (Engels 1970a:83). "Gesellschaft" ist immer schon eine theoretische Abstraktion aus der Geschichte "an sich". Es wäre ein Fehlschluss, vom abstrakten Be­griff auf die konkrete Realität zu schließen. Theo­rien kennzeichnen Invarianzen in der Geschichte, und In­varianzen sind immer theo­rie­re­la­tiv. Dass sich Geschichte als konkrete Totalität permanent wiederhole, will wohl niemand be­haupten. Geschichte ist aber auch kein Chaos. Die Mitte zwi­schen beiden Extremen, das struk­turell und prozessual In­variante unter dem Zufäl­li­gen herauszufinden, das ist die Aufgabe, die sich dem Sozialwissenschaftler stellt. Alberts Argument stellt lediglich heraus, dass jede Aus­sa­ge über eine hi­sto­rische Veränderung eine relative Stabilität des erklärten System gegen­über dem un­erklärten hi­storischen Hintergrund impliziert. Diese relative Stabilität ist jedoch nicht un­abhängig von der be­haup­te­ten Aussage empirisch prüfbar.

Ob Poppers These T2 zutrifft, stellt eine empirisch zu beantwortende Frage dar, die sich nicht schon allein durch a priori-Überlegungen abweisen lässt. Es gilt so­mit gegen Poppers A-priori-Ar­gumen­tation prinzipiell genau dasselbe Argument, das Albert gegen die prinzipi­elle Leug­nung der Exi­stenz sozialwissenschaftlicher Gesetze durch den Historismus [2]) vorge­bracht hat:

„Da wir die Geltung von Gesetzesaussagen nicht apriorisch beurteilen kön­nen, können wir die Unangemessenheit solcher Aussagen auf die Struktur der ge­sell­schaftlichen Realität nur daran erkennen, dass dieselben empirisch schei­tern. Aufgrund von a priori-Überlegungen die Möglichkeit der Entdeckung von Geset­zen zu leugnen, ist nichts weiter als die ‘Ontologisierung einer Wissens­lü­cke’." (Albert 1967b:133f)



[1]) W. I. Lenin, Vorwort zu N. Bucharins Broschüre "Weltwirtschaft und Imperialismus". Quelle: Wla­di­mir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, (unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960), Berlin/DDR, S. 101-106; zuerst veröffentlicht am 21. Januar 1927 in der "Prawda" Nr. 17.

[2]) Zum ersten Methodenstreit: Menger (1871a), (1883a), (1884a); Schmoller (1873a), (1888a), (1911a); Salin (1944a). Zum neueren Methodenstreit: Gottl (1901a), Spann (1924a), Jecht (1928a), Meinecke (1928a), Troeltsch (1922a), Mannheim (1924a), Rickert (1924a), Barth (1922a), Brunner (1927a), Sombart (1967a), Eucken (1959a).

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