Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Marxismus keine Mono-Theorie

Der Marxismus ist aber schon bei ihren Begründern keine monolithische Theorie [1]). Wer sol­ches un­terstellt, landet beim Interpretieren rasch in Mystifikation. Problemge­schicht­lich [2]) gesehen ist schon die marxsche Theorie ein theoretisches Hybrid-Kondensat aus He­gel, Feu­er­bach, Smith und Ricardo etc. (Adler 1905a). Dies erklärt einmal das in ihm enthaltene gro­ß­ar­ti­ge the­oretische Potential, andererseits aber auch die teilweise nur kasuistisch inte­grier­baren Dif­fe­renzen, die dann bei jeder konkreten Analyse mit Leichtigkeit wieder auf­bre­chen. Ide­olo­gisch können sie durch Leerformeln, Scholastizismus und Schaukelpolitik (von He­gel zu Feuer­bach hin und zurück, wie dies etwa Lukács vorführt) diese Differenzen verkleistert oder auch rhe­to­risch mehr oder weniger geschickt ausgebeutet werden. Die Kraft einer solchen Synthese liegt aber in der Ver­knüpfung, in der sachlich-logischen Balance von gegensätzlichen Moti­ven. Wer dieses Band der Synthese löst, verliert damit das Ganze, wenn er es nicht auf neue Art zu bün­deln weiß. Die Hybridisierung ist bei Hegel oder Marx demnach kein defizienter Modus der The­ori­enkonstruktion, d.h. misslungene theoretische Vereinheitlichung, sondern die bewusst ge­wähl­te Methode, um sich die Tradition begrifflich anzueignen. Und dies ist kei­nes­wegs in­kom­patibel zu Burawoys (1990a) Auffassung vom Praxisbezug des Marxismus als der wissen­schaft­lichen Theorie einer politischen Bewegung.

Lakatos hält Hegels Dialektik und Kritik für inkompatibel [3]), weil Dia­lek­tik mit Not­wen­dig­keit voranschreite. Er weist damit wohl auf einen fundamentalen Punkt einer je­den Hegel- und Marx-Deutung hin. Er tut jedoch unrecht, sich wie Popper (1987a) in die­ser An­gelegenheit ein­sei­tig auf diese Seite der Sichtweise des marxschen Erbes zu schlagen - eine Sicht, die Bern­stein be­strit­ten und Kautsky verteidigt hat, deswegen aber noch nicht die origi­när marxsche sein muss. Ge­ra­de der jung­hegelianische Diskurs zeigt, dass Dialektik al­lent­hal­ben als Kritik und nicht als be­griffs­logische Notwendigkeit aufgefasst wurde. Es ist ei­ne offe­ne Frage, ob der Determinismus nicht erst über Engels in die marxistische Ge­schichts­philosophie geraten und dann durch Kautskys dar­wi­ni­stische Anleihen (Fülberth 1972a:VIIIf) oder durch Plechanow her­vor­gekehrt worden ist. Bei Hegel konn­te sich der Konflikt zwischen hi­sto­rischer Notwendigkeit und Offenheit für Kritik in dieser Form noch gar nicht äußern, da sei­ne Geschichtsphilosophie explizit als ex-post-Darstellung auftritt. Im Nachhinein stellt sich im­mer relativ einfach als not­wendig dar, was Kritik an Neuem historisch erst er­möglicht hat. Des­wegen tun sich Konser­va­tive auch so viel leichter mit Geschichtsbetrachtungen denn mit Zu­kunftsentwürfen.

Es steht demnach nichts im Wege, den Marxismus so aufzufassen, wie dies Popper (1969b: 108) in Be­zug auf jede Wissenschaftsdisziplin getan hat: als ein Konglomerat von Pro­blemen und eine auf dieser Pro­blem­geschichte basierenden Tradition theoretischer Lösungs­ver­suche. Mei­nes Erachtens stellt dies auch der einzige gangbare Weg dar, die wissenschaftlichen An­sprü­che des Marxismus wissenschaftlich zu kritisieren. So hat Burawoy (1990a) schließlich auch den Marxismus als eine Wissenschaft begriffen, die im Sinne von Lakatos ein For­schungs­pro­gramm einen harten Kern von Postulaten sowie eine po­sitive und negative Heuristik aufweise. In jedem Fall, d.h. unbeachtlich des jeweiligen Selbstver­ständ­nis­ses der jeweiligen Vertreter und Autoren, kann das Vorgehen der Marxisten prinzipiell an den Maß­stäben einer fallibi­listi­schen und theorienpluralistischen Methodologie gemessen werden. Dem liegt auch diese Ein­sicht zugrunde: Zur Prüfung, ob eine These wahr ist, kommt es mitnichten darauf an, ob und inwieweit ihr Autor von der­sel­ben Wahrheit im Einzelnen jeweils überzeugt ist oder et­wa nicht - es sei denn, man verwechselt Wissenschaft mit Kon­firmandenunterricht.



[1]) "Erst dem, der sehr genau hinschaut und sich die Mühe nimmt, in den Geist der Männer sich hinein­zu­le­ben, fügen sich die einzelnen Gedankenreihen zu Sinn und Ordnung. Er gewahrt dann, wie sich in den Schrif­ten von Marx und Engels zwar Grundideen hindurchziehen während der ganzen Periode ihrer schrift­stellerischen Tätigkeit, wie aber in den verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Gedan­ken­gän­ge das einheitliche System, wie es sich aus jenen Gedankengängen aufbauen würde, durchkreuzen und stören." (Sombart 1908a:62)

[2]) „All too often the entirety of Marxism is condemned for the supposed sins of one of its theories -...- instead of considering each as a part of an evolving tradition." (Burawoy 1990a:775)

[3]) „For Hegel and his followers change in conceptual frameworks is a predetermined, inevi­tab­le process, where individual creativity or rational criticism plays no essential role. Those who run ahead are equally at fault as those who stay behind in this ‘dialectic’. The clever man is not he who creates a better ‘prison’ or who demolishes criti­cally the old one, but the one who is always in step with history. Thus dialectic accounts for change without criti­cism." (Lakatos 1970a:104, Anm.3)

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