Der Marxismus ist aber schon bei ihren Begründern keine monolithische Theorie [1]). Wer solches unterstellt, landet beim Interpretieren rasch in Mystifikation. Problemgeschichtlich [2]) gesehen ist schon die marxsche Theorie ein theoretisches Hybrid-Kondensat aus Hegel, Feuerbach, Smith und Ricardo etc. (Adler 1905a). Dies erklärt einmal das in ihm enthaltene großartige theoretische Potential, andererseits aber auch die teilweise nur kasuistisch integrierbaren Differenzen, die dann bei jeder konkreten Analyse mit Leichtigkeit wieder aufbrechen. Ideologisch können sie durch Leerformeln, Scholastizismus und Schaukelpolitik (von Hegel zu Feuerbach hin und zurück, wie dies etwa Lukács vorführt) diese Differenzen verkleistert oder auch rhetorisch mehr oder weniger geschickt ausgebeutet werden. Die Kraft einer solchen Synthese liegt aber in der Verknüpfung, in der sachlich-logischen Balance von gegensätzlichen Motiven. Wer dieses Band der Synthese löst, verliert damit das Ganze, wenn er es nicht auf neue Art zu bündeln weiß. Die Hybridisierung ist bei Hegel oder Marx demnach kein defizienter Modus der Theorienkonstruktion, d.h. misslungene theoretische Vereinheitlichung, sondern die bewusst gewählte Methode, um sich die Tradition begrifflich anzueignen. Und dies ist keineswegs inkompatibel zu Burawoys (1990a) Auffassung vom Praxisbezug des Marxismus als der wissenschaftlichen Theorie einer politischen Bewegung.
Lakatos hält Hegels Dialektik und Kritik für inkompatibel [3]), weil Dialektik mit Notwendigkeit voranschreite. Er weist damit wohl auf einen fundamentalen Punkt einer jeden Hegel- und Marx-Deutung hin. Er tut jedoch unrecht, sich wie Popper (1987a) in dieser Angelegenheit einseitig auf diese Seite der Sichtweise des marxschen Erbes zu schlagen - eine Sicht, die Bernstein bestritten und Kautsky verteidigt hat, deswegen aber noch nicht die originär marxsche sein muss. Gerade der junghegelianische Diskurs zeigt, dass Dialektik allenthalben als Kritik und nicht als begriffslogische Notwendigkeit aufgefasst wurde. Es ist eine offene Frage, ob der Determinismus nicht erst über Engels in die marxistische Geschichtsphilosophie geraten und dann durch Kautskys darwinistische Anleihen (Fülberth 1972a:VIIIf) oder durch Plechanow hervorgekehrt worden ist. Bei Hegel konnte sich der Konflikt zwischen historischer Notwendigkeit und Offenheit für Kritik in dieser Form noch gar nicht äußern, da seine Geschichtsphilosophie explizit als ex-post-Darstellung auftritt. Im Nachhinein stellt sich immer relativ einfach als notwendig dar, was Kritik an Neuem historisch erst ermöglicht hat. Deswegen tun sich Konservative auch so viel leichter mit Geschichtsbetrachtungen denn mit Zukunftsentwürfen.
Es steht demnach nichts im Wege, den Marxismus so aufzufassen, wie dies Popper (1969b: 108) in Bezug auf jede Wissenschaftsdisziplin getan hat: als ein Konglomerat von Problemen und eine auf dieser Problemgeschichte basierenden Tradition theoretischer Lösungsversuche. Meines Erachtens stellt dies auch der einzige gangbare Weg dar, die wissenschaftlichen Ansprüche des Marxismus wissenschaftlich zu kritisieren. So hat Burawoy (1990a) schließlich auch den Marxismus als eine Wissenschaft begriffen, die im Sinne von Lakatos ein Forschungsprogramm einen harten Kern von Postulaten sowie eine positive und negative Heuristik aufweise. In jedem Fall, d.h. unbeachtlich des jeweiligen Selbstverständnisses der jeweiligen Vertreter und Autoren, kann das Vorgehen der Marxisten prinzipiell an den Maßstäben einer fallibilistischen und theorienpluralistischen Methodologie gemessen werden. Dem liegt auch diese Einsicht zugrunde: Zur Prüfung, ob eine These wahr ist, kommt es mitnichten darauf an, ob und inwieweit ihr Autor von derselben Wahrheit im Einzelnen jeweils überzeugt ist oder etwa nicht - es sei denn, man verwechselt Wissenschaft mit Konfirmandenunterricht.
[1]) "Erst dem, der sehr genau hinschaut und sich die Mühe nimmt, in den Geist der Männer sich hineinzuleben, fügen sich die einzelnen Gedankenreihen zu Sinn und Ordnung. Er gewahrt dann, wie sich in den Schriften von Marx und Engels zwar Grundideen hindurchziehen während der ganzen Periode ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, wie aber in den verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Gedankengänge das einheitliche System, wie es sich aus jenen Gedankengängen aufbauen würde, durchkreuzen und stören." (Sombart 1908a:62)
[2]) „All too often the entirety of Marxism is condemned for the supposed sins of one of its theories -...- instead of considering each as a part of an evolving tradition." (Burawoy 1990a:775)
[3]) „For Hegel and his followers change in conceptual frameworks is a predetermined, inevitable process, where individual creativity or rational criticism plays no essential role. Those who run ahead are equally at fault as those who stay behind in this ‘dialectic’. The clever man is not he who creates a better ‘prison’ or who demolishes critically the old one, but the one who is always in step with history. Thus dialectic accounts for change without criticism." (Lakatos 1970a:104, Anm.3)
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