Die Beurteilung der Rationalität ist schließlich immer standpunktbedingt und wissensabhängig. Eine schlechte Hypothese oder Theorie ist aber in vielen Entscheidungssituationen des alltäglichen Lebens oft besser als gar keine. Dies erklärt vielleicht, warum Horoskope sogar bis ins Internet heute verbreitet und beliebt sind, selbst wenn kaum jemand daran ernstlich glaubt bzw. solches vehement in Abrede stellt. Sie stellen in mehr oder minder unterhaltsamer Weise einen Erwartungsrahmen für den zukünftigen Tag, Woche etc. her, ersparen also dem gestressten Alltagsroutinier ein Übermaß an kognitiver Anstrengung.
„Meine Kritik des pseudo-wissenschaftlichen, pseudo-historischen und mythologischen Charakters der Geschichtsphilosophien, besonders der von Marx..." (Popper 1987a:VII)
Der Springquell des Popperizismus sei aber - Hegel. Dessen „romantische" [1]) Philosophie habe Platons Essentialismus mit der aristotelischen Teleologie zu einer geschichtsträchtigen Prophetie verrührt.
„Nach Aristoteles ist eine der vier allgemein wirkenden Ursachen - also auch eine der Ursachen der Bewegung oder Veränderung - die Endursache oder das Ziel, dem die Bewegung zustrebt. Insofern die Endursache ein Ziel oder ein gewünschter Zweck ist, ist sie auch gut. (...) Die Form oder Wesenheit jedes sich entwickelnden Dinges ist identisch mit dem Zweck oder dem Ziel oder dem Endzustand, auf den es sich hin entwickelt." (Popper 1980b:11)
Hegel (1930a:17) selbst hat seine Geschichtsphilosophie indessen explizit als ex-post-Betrachtung verstanden [2]). Dies ficht Popper jedoch nicht an. Indessen ist auch Poppers trial and error-Verfahren eher als ein simples Prinzip der ex-post-Betrachtung einzuschätzen. Als ex-ante-Prinzip erscheint es wenig tauglich, insbesondere wenn es zu praktizieren, ein hohes Kostenrisiko oder gar letale Konsequenzen zeitigt. Insofern zeigt dieses Prinzip sich der Evolutionstheorie verwandt, nicht jedoch dem Prinzip individueller Rationalität. Denn hiermit überlebt die Art, aber nicht das Individuum, was sich im Hinblick auf Theorien sicherlich nicht so existentiell ausnimmt wie bei Menschen.
Was Hegels Dialektik angeht, so kommt Kaufmann (1965a:175) in seinem Resumé zu eben derselben Feststellung. Unterdessen hat auch Agassi einige Mühe, Poppers Hegel-Kritik [3]) etwas abzugewinnen. Da Marx sich auf Hegel stützte, heißt die Devise für Popper: Mitgehangen, mitgefangen! Auch in Marxens „Kapital" als geschichtlicher Rekonstruktion des Kapitalismus steckt ein Großteil ex-post-Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Nun ist sicherlich richtig, dass mit entsprechenden Zusatzannahmen aus einer ex-post-Betrachtung wie z.B. der Evolutionstheorie auch Nutzen für eine ex-ante-Projektion zu gewinnen ist. Nur müsste dieses aber dann näher analysiert und nachgewiesen werden.
[1]) Poppers „Romantik"-Begriff ist Nominalismus pur, d.h. zum Klischee verkommene definitorische Willkür. Zu einer um eine historisch zutreffenden Einordnung von Romantik und Idealismus vgl. „Die romantische Schule" und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland", in: Heine (1963a, Bd. 4 und 5). - „Von jener Ästhetisierung aller Kulturinhalte, die das Zeitalter der Romantik auszeichnet, war Fichte vielmehr stets weit entfernt." (Lask 1914a:217). „Aber schon dieses Ich, das bei Fichte einer strengen Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, erfährt durch die Rezeption der Romantiker eine Wendung ins Geniale, Unbestimmte. Daneben waren auch die Interessengebiete der Romantiker und Fichtes alles andere als identisch." (Batscha 1977a:17) Der Prototyp des Romantikers war etwa Friedrich Wilhelm IV., der den preußischen Staat der Kirche unterordnen wollte, wozu aber gerade die gesamte Hegelingen-Schar in diametralem Gegensatz stand; siehe z.B. den Konflikt um Bruno Bauers Lehrerlaubnis (McLellan 1969a: 67). Zum Verhältnis Romantik und deutschem Idealismus aufschlussreich auch das DFG-Projekt „Romantische Anthropologie" (ROM_ANT 1998). Wenn Popper Hegel als "romantisch" abqualifiziert, so widersteht diesem Bestreben schon die einfache Tatsache, dass Hegels Angriffe auf die Romantik genau aus eben demselben Standpunkt des rationalen Denkens gegenüber Gefühl und religiöser Innerlichkeit erfolgen. Entlastungszeuge ist hier Haym (1857a:437), der eben daraus Hegel einen Strick zu drehen sucht. Deswegen nämlich spricht er Hegels Behandlung von Religion und Kunst den wesensgemäßen Zugang zu diesen a-rationalen Sphären des Geistes letztlich ab: "Es ist die Macht des Gegenstandes selbst, welche die Kunst bis auf einen gewissen Grad dem harten Rationalismus des Systems entzieht: es ist die Macht dieses Systems, welche immer wieder fordert, dass in letzter Instanz doch das Denken als Grundlage und Quelle und ebendeshalb als der Gipfel und die echte Bewährung der Kunst zur Geltung komme."
[2]) "Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."
[3]) „And yet the doctrine of historical inevitability or of destiny as pseudo-science is not Hegelian but post-Hegelian: Kaufmann is right on this but not when he tries to present Hegel as not having endorsed this doctrine at all: it was a mistake of both author and critic to fuse the pseudo-scientific and the anti-scientific variants of the doctrine of historical destiny, especially since it was in Popper’s own The Poverty of Historicism that the two were distinguished and dealt with separately for the first time." (Agassi 1993a:194)
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