Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Hegel der Prophet

Die Beurteilung der Rationalität ist schließlich immer standpunktbedingt und wis­sensab­hän­gig. Eine schlech­te Hypothese oder Theorie ist aber in vielen Entschei­dungssituationen des all­täglichen Lebens oft bes­ser als gar keine. Dies erklärt viel­leicht, warum Horoskope sogar bis ins Internet heute verbreitet und be­liebt sind, selbst wenn kaum jemand daran ernstlich glaubt bzw. solches vehement in Abre­de stellt. Sie stellen in mehr oder minder unter­halt­sa­mer Weise einen Erwartungs­rah­men für den zu­künf­tigen Tag, Wo­che etc. her, ersparen also dem ge­stressten Alltagsroutinier ein Übermaß an kog­ni­tiver Anstrengung.

„Meine Kritik des pseudo-wissenschaftlichen, pseudo-historischen und mytho­lo­gischen Charak­ters der Geschichtsphilosophien, besonders der von Marx..." (Popper 1987a:VII)

Der Springquell des Popperizismus sei aber - Hegel. Dessen romantische" [1]) Phi­losophie habe Platons Essentialismus mit der aristotelischen Teleologie zu einer geschichtsträchtigen Pro­phetie verrührt.

„Nach Aristoteles ist eine der vier allgemein wirkenden Ursachen - also auch ei­ne der Ursachen der Bewegung oder Veränderung - die Endursache oder das Ziel, dem die Bewegung zustrebt. Insofern die Endursache ein Ziel oder ein ge­wünsch­ter Zweck ist, ist sie auch gut. (...) Die Form oder Wesenheit jedes sich ent­wickelnden Dinges ist identisch mit dem Zweck oder dem Ziel oder dem End­zustand, auf den es sich hin entwickelt." (Popper 1980b:11)

Hegel (1930a:17) selbst hat seine Geschichtsphilosophie indessen explizit als ex-post-Betrach­tung ver­stan­den [2]). Dies ficht Popper jedoch nicht an. Indessen ist auch Poppers trial and error-Verfahren eher als ein simples Prinzip der ex-post-Be­trach­tung einzuschätzen. Als ex-ante-Prin­zip erscheint es wenig taug­lich, insbesondere wenn es zu praktizieren, ein hohes Kostenrisiko oder gar letale Konsequenzen zei­tigt. In­sofern zeigt dieses Prinzip sich der Evolutionstheorie verwandt, nicht jedoch dem Prinzip individueller Ra­tiona­lität. Denn hiermit überlebt die Art, aber nicht das Individuum, was sich im Hinblick auf Theorien si­cherlich nicht so existentiell aus­nimmt wie bei Menschen.

Was Hegels Dialektik angeht, so kommt Kaufmann (1965a:175) in seinem Re­sumé zu eben der­selben Feststellung. Unterdessen hat auch Agassi einige Mühe, Poppers Hegel-Kritik [3]) et­was abzugewinnen. Da Marx sich auf Hegel stützte, heißt die Devise für Popper: Mitgehan­gen, mitgefangen! Auch in Marxens „Ka­pi­tal" als geschichtlicher Rekonstruktion des Kapitalismus steckt ein Großteil ex-post-Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Nun ist sicher­lich richtig, dass mit ent­spre­chen­den Zusatzannahmen aus einer ex-post-Be­trach­tung wie z.B. der Evolutionstheorie auch Nutzen für eine ex-ante-Projektion zu gewinnen ist. Nur müss­te die­ses aber dann näher analysiert und nachgewiesen wer­den.



[1]) Poppers „Romantik"-Begriff ist Nominalismus pur, d.h. zum Klischee ver­kom­mene defini­to­rische Willkür. Zu einer um eine historisch zutreffenden Einordnung von Ro­mantik und Idealis­mus vgl. „Die romantische Schule" und „Zur Geschichte der Religion und Phi­losophie in Deutschland", in: Hei­ne (1963a, Bd. 4 und 5). - „Von jener Ästheti­sie­rung aller Kultur­in­halte, die das Zeitalter der Ro­man­tik auszeichnet, war Fichte vielmehr stets weit entfernt." (Lask 1914a:217). „Aber schon dieses Ich, das bei Fichte einer strengen Gesetzmäßigkeit unter­wor­fen ist, erfährt durch die Rezepti­on der Romantiker eine Wendung ins Geniale, Unbestimmte. Da­ne­ben waren auch die Interessengebiete der Romantiker und Fichtes alles andere als identisch." (Batscha 1977a:17) Der Prototyp des Ro­man­tikers war etwa Friedrich Wilhelm IV., der den preu­ßischen Staat der Kirche unterordnen woll­te, wozu aber gerade die gesamte Hegelingen-Schar in diame­tra­lem Gegensatz stand; siehe z.B. den Konflikt um Bruno Bauers Lehrerlaubnis (McLellan 1969a: 67). Zum Verhältnis Romantik und deut­schem Idealismus aufschlussreich auch das DFG-Projekt „Romantische Anthropologie" (ROM_ANT 1998). Wenn Popper Hegel als "romantisch" ab­qua­li­fiziert, so widersteht diesem Be­streben schon die einfache Tatsache, dass Hegels Angriffe auf die Roman­tik genau aus eben dem­sel­ben Standpunkt des rationalen Denkens gegenüber Gefühl und re­ligiöser Innerlichkeit erfolgen. Entlastungszeuge ist hier Haym (1857a:437), der eben daraus He­gel einen Strick zu drehen sucht. Deswegen nämlich spricht er Hegels Behandlung von Religion und Kunst den we­sensgemäßen Zu­gang zu diesen a-rationalen Sphären des Geistes letztlich ab: "Es ist die Macht des Gegen­stan­des selbst, wel­che die Kunst bis auf einen gewissen Grad dem harten Ratio­na­lismus des Systems entzieht: es ist die Macht dieses Systems, welche immer wieder fordert, dass in letzter In­stanz doch das Den­ken als Grundlage und Quelle und ebendeshalb als der Gipfel und die echte Bewährung der Kunst zur Geltung komme."

[2]) "Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu oh­ne­hin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nach­dem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Be­griff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ide­ale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Ge­stalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist ei­ne Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."

[3]) „And yet the doctrine of historical inevitability or of destiny as pseudo-science is not He­ge­lian but post-Hegelian: Kaufmann is right on this but not when he tries to present Hegel as not ha­ving endorsed this doctrine at all: it was a mistake of both author and critic to fuse the pseudo-scien­tific and the anti-scientific variants of the doctrine of historical destiny, especially since it was in Popper’s own The Poverty of Historicism that the two were distinguished and dealt with sepa­ra­tely for the first time." (Agassi 1993a:194)

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