„Er weiß sehr wohl, dass meine Entwicklungsmethode nicht die hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist. Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form, und dies gerade unterscheidet meine Methode."
Dies schrieb Marx den 6.3.1868 an Kugelmann bezüglich des ersten Rezensenten des „Kapital". Noch für Weber [1]) war die Logik des „Kapital" nichts anderes als eine Spielart hegelscher Dialektik.
Zur Quellensituation, welche einer solchen Interpretation vorgegeben ist, muss nun allerdings berücksichtigt werden, dass etliche für die Entstehung der marxschen politischen Ökonomie nicht unwichtigen Manuskripte erst erstaunlich spät der Öffentlichkeit zugänglich wurden:
1932 die Exzerpthefte über den Beginn Marxens ökonomischer Studien Anfang der 1840er Jahre;
1932 das Manuskript„Zur Kritik der Nationalökonomie - Ökonomisch-philosophische Manuskripte", das Marx aufgrund der Exzerpthefte 1844 verfasste;
1939 die „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie", die Marx 1857/58 schrieb.
Diese Publikationsgeschichte ist insbesondere relevant zur historisch angemessenen Beurteilung der zeitgenössischen Kritik, insbesondere derjenigen Böhm-Bawerks und schließlich auch der Webers; aber auch Kautskys, Luxemburgs, Plechanows, Gramscis und auch Lenins (Schaff 1969a:128). Ebenso ist nicht zu übersehen, dass ebenfalls Webers „Wirtschaft und Gesellschaft" erst 1922 posthum publiziert wurde. Erst heute sind vor allem durch Schluchters verdienstvolle Herausgeberarbeit [2]) Begleitumstände und Entstehung dieses Werkes deutlich erkennbar geworden. - Zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) siehe Harstick, Neuhaus (1999a).
Die Frage nach der Kontinuität der marxschen Denkens ist nichts weiter als die Frage, ob wir es mit 1, 2, 3, usw. Theorien zu tun haben. Wie bereits Schumpeter zurecht betont hat, ist zumindest dem heutigen Leser die Interpretation der marxschen Ökonomie keine einfache und jedem Leser direkt zugängliche [3]) Angelegenheit. Seinen Ausführungen lässt sich dreierlei entnehmen:
(1) Marx hat einen Ansatz geliefert, der eine ernstzunehmende Alternative zu den vorliegenden Theorieansätzen der ökonomischen Fachdisziplin ist.
(2) Marx nahm eine originelle Sicht bzw. „Vision" [4]) der Gesellschaft und der durch diese geprägten Verhältnisse wirtschaftlichen Handelns zum Hintergrund.
(3) Hegels Philosophie aber hat Marxens Terminologie bzw. theoretische Sprache geprägt.
"Eine solche objektive politische Ökonomie kann nur die politische Ökonomie jener Klasse sein, die nicht daran interessiert ist, die Widersprüche des Kapitalismus zu verschleiern und seine Geschwüre zu verbergen, die nicht an der Erhaltung der kapitalistischen Ordnung interessiert ist, deren Interessen mit den Interessen der Befreiung der Gesellschaft von der kapitalistischen Knechtschaft zusammenfallen,... Daher kann eine objektive und uneigennützige politische Ökonomie nur eine politische Ökonomie sein, die sich auf die Interessen der Arbeiterklasse stützt." (Akademie 1955a:14) Diese Position ist nichts weniger als relativistisch. Das Argument lautet mitnichten, dass alle Wahrheit nur relativ sei, sondern dass von einer an Wahrheit nicht interessierten Seite nicht erwartet werden kann, dass sie diese wahrhaft darstellt. Wenn Popper daher mit dem Angriff auf die mannheimsche Wissenssoziologie auch den Sowjetmarxismus zu treffen dachte, war er damit ganz schön auf dem Holzweg. Die zitierte Position ist sogar eine begrenzt brauchbare Regel politischer Klugheit: Vertraue nicht darauf, dass dein Gegner konträr zu seinen Interessen handelt! Der Fehler besteht eher in der Auslegung des Arguments als eine strikt-allgemeine Gesetzesaussage, d.h. als eine Regel, die keinerlei Ausnahme kennt oder der empirischen Kontrolle nicht weiter bedürftig sei. Dass Interessen Erkenntnisprozesse steuern, ist beste empirische Wissenssoziologie. Es ist jedoch äußerst problematisch, darauf allein schon eine Erkenntnistheorie oder Methodologie gründen zu wollen. Entscheidend scheint vielmehr zu sein, Erkennen und Motivation institutionell auszudifferenzieren und durch Kontrollmechanismen auszubalancieren.
[1]) „Eine eingehendere Auseinandersetzung mit derjenigen Form der hegelschen Dialektik, welche das ‘Kapital’ von Marx repräsentiert, hat Roscher nie unternommen." (Weber 1988a:17, Anm.6) Max Weber hat sich selten direkt mit Marx, sondern überwiegend mit dem zeitgenössischen Vulgärmarxismus (in dessen positivistischer Variante) auseinandergesetzt; vgl. Giddens (1971a:192ff); Kocka (1966a)
[2]) "Max Webers Grundrissbeitrag ist also tatsächlich kein Buch in zwei Teilen unter dem Titel 'Wirtschaft und Gesellschaft'. Es ist vielmehr ein Projekt, von dem es zwei, genau genommen sogar drei Versionen gibt. Die ersten beiden, die eine mit dem 'Stoffverteilungsplan', die andere mit der 'Einteilung des Gesamtwerkes' verbunden, lassen sich auf der Ebene der Texte heute kaum mehr unterscheiden. Anders verhält es sich mit der Version, die 1919/20 entstand. Sie baut zwar auf dem 'alten dicken Manuskript' auf, aber im Sinne gründlicher Umgestaltung. Insofern ist sie gegenüber diesem Manuskript selbständig, stellt eine eigene Fassung dar. Wir haben es also zu tun mit drei Arbeitsphasen an ein und demselben Projekt, wobei die späteren auf den früheren aufbauen, das zuvor Erreichte umgearbeitet wird und Neues hinzukommt. Erst in der zweiten Arbeitsphase entstehen beispielsweise Herrschafts- und Religionssoziologie, in der dritten Arbeitsphase kommt die Wirtschaftssoziologie hinzu. Max Webers Grundrissbeitrag aber steht seit der zweiten Arbeitsphase unter dem Titel ‘Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte’." (Schluchter 1998a: 343)
[3]) „Es hat keinen Wert, ausgewählte Stücke aus den Schriften von Marx oder ausschließlich den ersten Band des Werkes Das Kapital zu lesen. Jeder Wirtschaftswissenschaftler, der sich überhaupt mit Marx befassen will, muss sich damit abfinden, alle drei Bände des Kapitals und die drei Bände der Theorien über den Mehrwert sorgfältig durchlesen zu müssen. Ferner ist es sinnlos, Marx unvorbereitet in Angriff zu nehmen. Er ist nicht nur ein schwieriger Autor, sondern man kann ihn wegen seines Wissenschaftlichen Apparates ohne eine brauchbare Kenntnis der Wirtschaftswissenschaft seiner Zeit, besonders Ricardos, und der ökonomischen Theorie im Allgemeinen nicht verstehen. Das ist umso wichtiger, da diese notwendige Voraussetzung nicht sofort klar ersichtlich ist." (...) „Außerdem muss sich der Leser davor hüten, sich von Spuren hegelscher Terminologie irreführen zu lassen. Ich werde im folgenden beweisen, dass Marx sich in seiner Analyse nicht von der hegelschen Philosophie beeinflussen ließ. Aber er gebraucht manchmal Begriffe in ihrer spezifisch hegelschen Bedeutung, und ein Leser, der sie in ihrer üblichen Bedeutung auffasst, erkennt die Bedeutung nicht, die sie bei Marx annehmen." (Schumpeter 1965a:491)
[4]) „Der Leser wird sich daran erinnern, welchen Nachdruck ich auf den Unterschied von Theorie und Vision im Fall von Marx gelegt habe. Es ist jedoch immer wichtig, eingedenk zu bleiben, dass die Fähigkeit, die Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen, von der Fähigkeit, richtig zu argumentieren, getrennt sein kann, und umgekehrt." (Schumpeter 1987a:127, Anm.3). Ich pflichte Morf (1970a:125) bei: Schumpeter fällt als Vision und Ökonomie auseinander, was ihm als Theorie und historische Empirie methodologisch nicht zu vermitteln gelingt (siehe 1. und 2. Methodenstreit!).
1 Kommentar:
Also: Schumpeter hält an Marx die Visionskraft für großartig; für überflüssiges und störendes Beiwerk tut er hingegen Marxens an Hegel anlehnende Terminologie ab.
Wie aber, wenn Sprache und Vision nicht voneinander zu trennen sind?
Marxens Projekt des "Kapital" kann man nämlich so formulieren: die klassische Ökonomie zu reformulieren unter Verwendung methodologischer Ideen Hegels.
Wie weit man auf diesem Gebiet auch ohne Hegel gelangen kann, wird an Proudhon deutlich.
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