Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Spekulantentum wird legitimiert

Wie die aktuelle Asienkrise [1]) durch diese normative Brille betrachtet aussieht, bringt mit der Stringenz eines nobelpreisgekrönten Sonntagsredners, welchem qua Amt die Verkündigung des „Herkömmli­chen Konzepts" obliegt, Friedman auf den Punkt:

„Spekulanten wie George Soros [2]) üben eine extrem nützliche Funktion aus, sie stabilisieren die Märkte. Man kann sagen, dass die Analysen der Spekulan­ten oft untragbare Situationen auf­zeigen, noch bevor diese offenbar werden. Wer spekuliert, beschränkt sich also nur dar­auf, die extremen Auswirkungen in­stabiler Wirtschaftssysteme vorwegzunehmen." (SSS)

Im Stile einer sol­chen Argumentation könnte man sagen, dass ein Hacker nur die Sicherheits­ri­si­ken eines EDV-Systems aufdeckt, ein erfolgreicher Einbrecher den mangelnden Sicher­heits­standard einer Bank oder ein Taschendieb die Mängel von Vorbeugungsmaßnahmen: womit je­der also jeweils nur eine höchst positiv gesell­schaftliche Funktion erfüllt. Damit beweist auch jede erfolgreiche politische Re­vol­ution [3]), dass die herrschende Elite nicht tüchtig genug war, ihre Machtposition zu verteidigen, bzw. dass Schwachstellen in der sozialen Kontrolle vorge­le­gen ha­ben müssen. Friedmans Argument hat alle Vor- und Nachteile einer ex-post-factum-Ana­lyse. Damit will ich hier nur andeuten, dass eine derartige legitimatorische Flos­kel beliebig re­produzierbar ist, jedoch im Falle der neoklassischen Öko­no­mie unter Einsatz von mathemati­schen Methoden und öffentlichen Belobigungen beim inter­es­sier­ten Publikum auch noch den Anstrich von Wissenschaftlichkeit erfolg­reich geltend macht. Albert sagt im Zusam­men­hang zur häufig unterstellten Unab­hängigkeit von Angebot und Nach­fra­ge und der dabei gerne ge­brauchten Floskel „Weckung latenter Bedürfnisse", was ebenso auf Friedmans Scheinerklärung an­wend­bar ist:

„Da der Begriff der Latenz sich hier im vollen Umfang mit dem der Realmög­lich­keit (Potenz) deckt, enthält die Annahme der Weckung latenter Bedürfnisse nur die in diesem Zusammenhang nicht sehr interessante Aussage, dass das Ak­­tu­­alisierte der Möglichkeit nach vorhanden gewesen sein muss, eine Aus­sa­ge, die für jedes Geschehen gilt." (Albert 1954a:79)

Nun ist „Spekulation" ja ein anrüchiger Begriff [4]). Doch wie Mises bereits ein­ge­sehen hat, ist jeder Mensch ein Spekulant, indem er nämlich sein Handeln stets dem zukünftig erwarteten Handeln anderer anpasst (Horwitz o.J.). Nichtsde­stowe­niger enthält diese Maxime vernünftige Politik:

"Overall, the international system has an interest in creating a tax regime that motivates capital to make long-term investments in the real economy, rather than one that rewards speculators for destabilizing currency markets." (Kap­stein 1999a)

Der fast ausschließlich ideologische Nutzen der neoklassischen Ökonomie zeigt sich späte­stens dann, wenn es nicht darum geht, dem wirtschaftlich Unterlegenen zum Schaden noch den Spott anzuhän­gen, sondern um Politikberatung zur Lösung aktueller Probleme, die es in der kon­kreten wirtschaft­li­chen Realität ja wohl immer noch gibt. Wir haben in Deutschland vor­zugs­weise das externe Modell von Bera­tung, wobei die sog. reine ökonomische Theorie eher an den Universitäten und die empiri­sche Forschung eher an den Wirtschaftsinstituten betrieben wird. Gefordert ist aber eine Verzahnung von Theorie und Praxis. Hier kommt man nicht weit mit dem neoklassischen Brett vorm Kopf. Dann räumt der neoklassische Ökonom im Notfall so­gar der interdisziplinärer Aushilfe noch ihren Platz ein.

„...angewandte politikorientierte Forschung ist etwas Spezielles, da sie die Um­setzung theo­re­tischen Wissens auf konkrete, manchmal singuläre Probleme dar­­stellt. Hier reicht es nicht aus, konditionale, theoretische Aussagen zu ma­chen, die auf spezifischen Annahmen beruhen (‘Wenn wir annehmen, dass voll­kom­mene Markttransparenz herrscht, dann gilt ...’) Vielmehr ist es auch not­wendig, die ‘Wenn-Komponente' empirisch zu spezifizieren, um daraus kon­kre­te Anwen­dungen der ‘Dann-Komponente’ zu ziehen. Dabei kann auf ‘diszipli­näre Gren­zen’ traditioneller wissenschaftlicher Fächer, wie sie in Universitäten weltweit zu fin­­den sind, oft keine Rücksicht genommen werden." (Hoffmann, Wagner 1998a:189)

Allerdings liefe Ökonomie dann Gefahr, ihre ideologische und legitimatorische „Kern­kompe­tenzen" auf­zu­geben. Rationalität und Rationalisierung ist jedoch in der Praxis schwer zu unter­schei­den, darauf beruht schließlich die Wirkung von Ratio­na­lisierung. Der rationale Gebrauch von Irrationalität [5]) ist so wenig zu befür­wor­ten wie der irrationale Gebrauch von Rationalität. Es ist eine offene Frage, in­wie­weit in dem von We­ber behaupteten Trend der zunehmenden Ra­ti­onalisierung [6]) auch Elemente freudscher Rationalisierung ste­cken. Dem Kleinen Mann - heute nicht mehr auf der Stra­ße, sondern vorm Fernseher - ist schon jeher die „Pseudo­ra­tio­na­lität der Herrschenden" (Touraine 1972a:15) ein Greuel - abzulesen et­wa an abnehmenden Wahl­betei­ligungen. Im Zeitalter des Globalismus hat sich jedoch die Pseu­do-Ra­tionalisierung auch schön längst der Wirtschaft samt ihrer Pseudo-Wis­senschaft namens Betriebs­wirt­schaftslehre bemächtigt. Der Geist des Kapitalis­mus überschlägt sich in einer „Ra­ti­o­na­lisierungs-Spirale" (Deutschmann 1997a). Hier wird Ratio­na­lität nicht mit dem Ziel von Auf­klärung vollzogen, denn Manager als global player surft auf dem dernier cri.[7])



[1]) die nach Bowles (2000a) zu einer neuen Form des Regionalismus geführt hat

[2]) "On January 12, 1999, over a billion dollars fled Brazil. Three days later, the Central Bank attempted to bring about a limited devaluation of the Brazilian currency, the real, but it failed to pre­vent a free fall. Over the next two days, another $3 billion was pulled out, and by the end of the month, the real had lost over 40 percent of its value. The Central Bank president resigned, his suc­cessor lasted a week, and as speculative attacks continued, President Fernando Henrique Cardoso, in some desperation, sought out one of international financier George Soros's closest associates, Arminio Fraga, for the job. Fraga used to manage a fund that took bets on macroeconomic chan­ges, such as currency devaluations in places like Brazil. It was, as the Brazilian press pointed out, a case of putting the fox among the chickens. The outlook for 1999 is grim. Brazil is facing a deep re­cession and a return of inflation; continuing volatility in the value of its currency; a political cat fight over fiscal reform legislation in Congress; acute stress in the relationship between the federal government and the states; the risk of defaults on state and federal government debt as well as in the private sector; and astronomic and unsustainable interest rates." (Kenneth Maxwell, WORLD POLICY JOURNAL, ARTICLE SUMMARIES: SPRING 1999)

[3]) "Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Russland angenommen hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassen­ver­hältnisse erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bür­gerlichen Republik voranbewegt hat - wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe eine Lappalie geblieben ist -, all dies zeigt auf flacher Hand, dass die Befreiung Russlands nicht das Werk des Krieges und der militärischen Niederlage des Zarismus war, nicht das Verdienst ‘deutscher Bajonette in deutschen Fäu­sten’, wie die ‘Neue Zeit’ unter der Redaktion Kautskys im Leitartikel versprach, sondern dass sie im eigenen Lande tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war." (Luxemburg 1968c:106)

[4]) weshalb er im seriösen Steuerrecht völlig fehl am Platze sei, so jedenfalls Prof. Eckhoff bei der Anhörung des Finanzausschusses zum Steuerentlastungsgesetz. Hingegen: „’Alles theoretische Ge­danken’, kommentierte Dieter Ondracek von der Steuer-Gewerkschaft, solange die Kontrolle nicht greife; ihm sei überhaupt nur ein Fall der Erklärung eines Spekulationsgewinns mit Wertpa­pie­ren be­kannt." (Tenhaeff 1999a)

[5]) wie sie Adorno beim faschistischen Demagogen findet; vgl. Die Freudsche The­o­rie und die Struk­tur der faschistischen Propaganda, in: (1971a:59)

[6]) eine Kritik, die grundsätzlich zurückgeht bis auf die Kritik des aufklärerischen Ra­ti­ona­lis­mus und des ökonomischen Liebe­ra­lismus, insbesondere dann in philo­so­phischer Form durch­ge­führt durch den deutschen Idealismus

[7]) "It's amazing how many executives are driven by management fads and slogans - big hairy audacious goals (BHAGs), quantum leaps, inspirational leadership - and then refuse to deviate from course even when the environment changes dra­matically. Indeed, researchers have found that when the pressure is on, pe­op­le exhibit a dismaying tendency to focus on insignificant problems while the­ir perceptions become distorted and they insist on proving that their mis­taken view of the situation is actually correct." (Charan, Colvin 2001a:30)

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