Die Popperizismusfrage insgesamt ist schon daher nicht so einfach zu erledigen, weil Popper aufgrund seiner ihm eigentümlichen Definitionslehre nicht sehr deutlich darüber ist, welche Annahmen der attackierte Popperizismus nun genau umfasst. So hat es Popper noch nicht einmal für notwendig gehalten, die Beziehung seines Begriffs zu dem zumindest seit dem Methodenstreit in der Ökonomie im Schwange befindlichen Begriff „Historismus" aufzuklären. Besonders in der englisch sprechenden Literatur (z.B. Kiser, Hechter 1991a; Hanneman 1988a:21) werden beide Begriffe oft heillos durcheinander geworfen. Erstaunlicherweise zeigt sich auch Dahrendorf (1995a) bereits der anglophonen Begriffskonfusion angepasst und dessen völlig vergessen, was auf dem Kontinent schon mal unter „Historismus" verstanden wurde. Im Übrigen soll noch, da Popper soviel Wert auf neologische Prioritäten legt, angemerkt werden, verwendet Lukács (1968a:133) den Terminus „Historizismus", und zwar im Sinne eines historischen Relativismus.
Popper gebraucht oft Wendungen, denen sich zu widersetzen ebenso unmöglich ist als die Luft zu durchhauen. A fortiori ist es um so schwerer auszumachen, inwiefern von Poppers Popperizismuskritik die in diesem Feldzuge attackierten Philosophen und deren Anhänger überhaupt getroffen werden. Döring (1996a) findet Gelegenheit, hier von einer „Kritik am falschen Ort" (man könnte vielleicht noch besser sagen: am schlecht definierten Ort) zu sprechen. Quintessenz der unzureichenden Popperschen Problemexposition ist nämlich schlicht gesagt dies:
Wenn Popper in seiner Argumentation einen Sieg erfochten hat - gegen wen?
Der Unterschied im Stil der wissenschaftlichen Darstellung zwischen dem Kritiker Marx und dem Kritiker Popper ist frappierend. Während Marx oft minutiös exzerpiert und seine Kritik eng am vorliegenden kritisierten Text vollzieht, ist zwar auch er mitunter nicht von dem Vorwurf freizusprechen, Texte nicht von der Zielsetzung des Autors her zu interpretieren, sondern so, wie sie in seinen Kram, d.h. sein Projekt der Theoriekonstruktion, passen. Dabei nennt Marx aber fast immer Ross und Reiter, wenn er kritisiert, und lässt uns somit an seinem theoriekritischen Durcharbeiten der Fachliteratur teilnehmen.
Im Gegensatz dazu wird von Popper das Opfer seiner Kritik erst von ihm logisch konstruiert. Er befasst sich daher mit einem idealen (Zerr-) Bild des kritisierten Arguments oder der Position. Das hat den Vorteil. dass Popper (fast) immer im Recht ist; man weiß nur nicht immer, gegen wen. Es droht auch bei dieser Form von Modell-Platonismus ständig die Gefahr, dass die Diskrepanz zwischen Modell und Realität unterschlagen wird. Vor allen Dinge lernt man die kritisierte Position nur in der Darstellung Poppers kennen. Die Überprüfung an unabhängiger Stelle wird vereitelt, wenn Popper nur zur Illustration zitiert. Popper wirft Marx vor, nicht alle erklärungsrelevanten Elemente in sein Prognosemodell eingeschlossen zu haben bzw. dies überhaupt zu können. Man kann jedoch Popper vorwerfen, in seiner Marx-Widerlegung nicht alle relevanten Theorie-Elemente der marxschen Theorie eingeschlossen zu haben. Sicherlich, viele Aussagen vieler Marxisten sind nicht (nur) ideologisch, sondern auch politisch oder methodologisch naiv. Ein Marx-Kritiker sollte jedoch auch nicht der gängigen stalinistischen Selbstdarstellung aufsitzen und wie diese Marx/Engels/Lenin/Stalin pauschal als Viererbande abzuhandeln.
Die marxsche Theorie wird jedoch von Popper nicht als empirisch überprüfbares Modell, wie es im „Kapital" vorliegt, rekonstruiert, sondern als ein transzendentales Argument. Der Scholastizismus liegt daher nicht fern, dass Poppers Popperizismuskritik nicht als Hegel- oder Marx-Kritik gefasst wird, also an Kritik zweier von Popper unabhängigen Theorien, sondern dass die Kritik ihren eigenen Anwendungsbereich definiert und erst auf diese Weise ihren eigenen Gegenstand konstituiert. Popperizismus wäre dann auf diese tautologische Art nichts weiter als dasjenige, was Popper als solchen behandelt hat. Wir erfahren dann dadurch nicht mehr etwas über Hegel oder Marx als historisch relevante Entitäten und Autoren, sondern nur noch etwas von Popper und seine Ansichten betreffs Objekte seines Denkens. Ob Hegel oder Marx Popperizisten waren, ist dabei genauso irrelevant, so wie es für manche Ökonomen, z. B. Robbins (1952a), irrelevant ist, ob alle Menschen so rational handeln, wie sie es mit ihrem Modell unterstellen (Albert 1954a:24). Damit verschafft sich Popper indes geschätzte Möglichkeiten logisch schlüssiger Beweisführungen.
Leider stellt sich dann jedoch jeweils die Frage, ob sich die Kritisierten als historisch-objektive Entitäten auch den Prämissen seiner an seinem Modell durchgeführten Kritik fügen. Aber für die dadurch geforderte hermeneutische Aufgabe scheint Poppers Situationslogik eher schlechter gerüstet zu sein als Hegels oder Marxens Dialektik.
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