Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Rationaler Kapitalismus?

"Die Banken haben gepennt!" So bodenständig der Trierer Betriebswirt Hellmuth Milde zum Fall Philipp Holzmann AG, wo der Aufsichtsrats-Vorsitzende der Deut­schen Bank einen Kon­zern bis hin zur Zah­lungs­unfähigkeit vorgesessen hat (TV 23.11.1999). Milde spricht von "Seil­schaften" und "in­kom­pe­tenten alten Männern" und spricht dabei von Speerspitze des deutschen Finanz­kapita­lis­mus. Der viel­be­schwo­re­ne Wettbewerbsnachteil Deutschlands liegt nicht in der Quali­fi­kation der 40.000 Be­schäf­tig­ten [1]), deren Arbeitsplatze damit gefährdet sind, sondern am bankensystem-gesteuerten Missmanagement, wo­durch sich der Standort Deutsch­land offenbar zuse­hends auszeichnet. Der Deutschen Bank ist hier wieder einmal nicht bloß vorzuwerfen, dass sie ih­re besonderen Interessen und das bestehende Sy­stem vertritt - son­dern dass sie ihre eigenen In­ter­essen auf die denkbar schlech­teste Weise, d.h. ineffizient vertritt. Viel­leicht wären wir wirk­lich in einer etwas bes­seren Welt, wenn die Kapitalisten wenigstens ihre eigenen Rat­schlä­ge (z.B. mo­der­ne Be­triebswirtschaftsmethoden) befolgen würden.

Vielleicht besteht wirk­lich die Malaise Deutsch­lands darin, nicht zuviel Kapitalis­mus, sondern zu wenig davon, stattdessen noch zuviel Feu­dalis­mus und Kaiser-Wil­helms zu haben. Ein SPD-Bundeskanzler musste sich natürlich aufgerufen füh­len, hier piece-meal en­gineering am le­benden Objekt vorzuführen. Da wir überhaupt kein rein markt­wirt­schaft­liches System ha­ben, ist die be­rufene Kritik an der vorge­nom­menen "Unterneh­mens­beratung nach Husa­ren­manier" (FAZ-Kommentator 26.11.1999, S.1), sie sei nicht systemkonform, schwer­lich zu be­wer­ten, und den betroffenen Beschäftigten wohl ziemlich egal. Wer will schon sagen (außer den Schola­sti­kern der Ideo­lo­gie, deren Urteil nicht wohlfeil, aber wertlos ist), wo hier die Aus­nah­me und wo die Regel ist.

Auf jeden Fall: Der shareholder hat immer Recht! Freilich je­doch greift Stückwerk prinzipiell zu kurz, wenn es sich um strukturelle Mängel eines Sy­stems dreht.[2]) Der "soziale Ausgleich" erscheint immer erst dann auf der Bildfläche, wenn die Hin­­ter­las­sen­schaften des So­zi­al­dar­wi­nis­mus zu entsorgen sind.[3])

Die massenpsychologisch zureichend erklärbare Rationalität irrationalen Börsia­ner­verhaltens überträgt sich durch kommunikationstechnologische Innovationen po­tenziert auf Weltwirt­schaft: „Casino-Kapita­lismus". Die neuen Gurus der aller­neuesten Religion des verschlankten [4]) Instant-Kapitalismus mit ko­stenmin­mier­ten, besser: virtualisierten und externalisierten Selbst­kosten und vollflexibilisierten [5]) Arbeits­kraft­unternehmern [6]) sowie hochdosierten Sub­ventionen der Ange­bots­politiker und share­holder value-Schützer sind die Topberater, welche den Dorf­pa­stor schon längst aus dem Geschäft der Seelen­mas­sage des Kapitalisten verdrängt ha­ben. Positives Denken [7]) mit anderen Mitteln - denn nur wer glaubt bzw. posi­tiv denkt, der wird selig oder fitt für den Weltmarkt. Wer nicht daran zu glauben vermag, der ist reif für die In­sel oder, solange es nicht auch schon wegverschlankt und abgewickelt ist, das Sozialamt [8]).



[1]) "... focus on the quality of your people. We hope it's no longer necessary to argue that this is increasingly your company's only source of competitive advantage. Yet when times get tough, ma­ny companies ease up on recruiting, figuring a slow economy will drive more applicants their way, and they spend less on training as a way to raise profits quickly without doing immediate damage to the business." (Charan, Colvin 2001a:30)

[2]) "Der öffentliche Charakter der Großunternehmen wird auch dadurch dokumentiert, dass ih­re Eigentümer, handele es sich um wenige Großaktionäre oder um eine Vielzahl von kleinen An­teils­eignern, faktisch nicht mehr in der Lage sind, für Verluste, die aus ihren Beschlüssen oder de­nen ihrer Beauftragten entstehen, zu haften. (...) dann lässt sich ihre ausschließlich private Lenkung nicht mehr legitimieren." (Pross, 1970a:91)

[3]) „The truth, of course, is that the era of big government is not over. It is not over for the big bu­siness lobbyists who crawl all over this town. Every working day, they insert another little amend­­ment in an obscure law, or influence a federal regulatory decision, or fund a special program that helps their clients. Under cover of ‘free trade,’ we make international agreements that protect in­vestors at the expense of working people and the environment. Under co­ver of deregulation, we en­courage megamergers that further concentrate economic power at the top." (Faux 1998a)

[4]) What's about "Downsizing the Pentagon"?! Siehe dazu Hartung 1999a. "This is a job for Vice Presi­dent Al Gore. He has tried to make a name for himself promoting a series of initiatives on 're­in­ven­ting government' so cutting waste at the Pentagon should be a natural assignment. And unlike President Clinton, he served in Vietnam and had significant experience on national security issues be­fore arriving at the White House, so one hopes he will not be quite as timid about taking on the Pentagon bureaucracy. If Gore rises to the challenge, there will be plenty of work to do. A recent Ge­neral Accounting Office report sug­gests rather tactfully that 'many of DOD's programs are still vul­ne­rable to waste, abuse, and mismanagement.' A summary in Defense Week noted that among the re­port's most jarring findings were the following: 'auditors could not match about $22 billion in signed checks with corresponding obligations; $9 billion in known military materials and supplies were unaccounted for; and con­tractors received $19 million in overpayments.' As a result, 'the Pentagon doesn't know what it can send to troops, can't avoid buying more of something that the military already owns, and can't tell how much its programs actually cost.'"

[5]) Flexibilisierung steht in Widerspruch zu Mitbestimmung. das erkennt zumindest das ZEW (Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung) im Vorspann zu einem Managementkursus mes­ser­scharf: "Im Anschluss an die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist ein Flexibilisierungsdruck auf das Arbeitsentgelt festzustellen. Aus­schlaggebend hierfür ist zum einen, dass variable Entgeltbe­stand­teile dann mehr Motivationskraft erzeugen, wenn sie leistungs- bzw. erfolgsabhängig ausge­stal­tet werden. Zum anderen erlauben leistungs- und er­folgs­ab­hängige Komponenten des Arbeits­ent­gelts eine systematische Anpassung an konjunkturelle Ent­wick­lun­gen, indem in konjunkturell gu­ten Zeiten die Erfolgskomponenten ansteigen und in schlechten Zeiten zu­rück­ge­führt werden kön­nen, ohne mit Einstellungen oder Entlassungen reagieren zu müssen. Die rechtlichen Rah­men­be­din­gungen für die Entgeltflexibilisierung hängen entscheidend davon ab, ob die Flexibilisierung im Ta­rif­vertrag, in der Betriebs­ver­ein­barung oder in den Arbeitsverträgen vereinbart werden soll. Die Wahl der rich­tigen Rege­lungs­ebene gibt auch den Einfluss des Unternehmens vor. Zudem ist re­gelungstechnisch darauf zu achten, ob die Entgelt­an­pas­sung automatisch dynamisch durch Aus­richtung an bestimmten Faktoren ge­schehen soll, wie etwa dem Aktienkurs des Un­ter­nehmens oder dem Bilanzgewinn. Anpassung kann auch durch Wahl- und Bestimmungsrecht einer Seite, sei es des Ar­beit­gebers, insbesondere bei der Nutzung von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt ge­schehen. Denkbar sind allerdings auch Entscheidungsrechte des Ar­beit­nehmers, insbesondere in so­genannten Cafeteriasystemen. Ergänzend ist ein Blick auf die Mit­be­stim­mung des Betriebsrats ge­boten, die die Entgeltanpassung erschweren kann und damit ein Flexibilitätshin­der­nis darstellt." - Da haben wir's: Mitbestimmung kostet Arbeitsplätze. Mit derselben Situationslogik der herr­schen­den Klasse hat schon Popper (1992b) nachgewiesen, dass revolutionäres Aufmucken von Un­ter­drückten nur dazu geeignet ist, die Herrschen­den zu Gegenrevolution und Faschismus her­auszufordern, also in jedem Fall irrational oder kontraproduktiv ist. Sei immer be­scheiden und näh­re Dich redlich! Ausgezeichnet wird im voranstehenden Text jedoch klargemacht, dass all diese Kon­se­quen­zen völlig unintendiert sind. Selbst wenn in dem Kursus ein paar neue Ideen vorkom­men sollten (andernfalls wäre er viel­leicht auch ziemlich überflüs­sig), so erfolgen derlei Verschlan­kungs-Innovationen immer nur im Hinblick darauf, selber mög­lichst schnell vorwegzunehmen, was andere sowieso tun werden. Denn die ökonomisch "Mächtigen" beugen sich ja nur dem Diktat des Marktes! Welcher Unternehmer würde nicht noch mehr Leute einstellen, wenn er nur könnte, wie er wollte! - Zur deutschen Unternehmermentalität vgl. Max Weber: "Ich kann das nicht aus­führ­lich erör­tern, namentlich nicht, inwieweit die selbstverständlich bis zu einem gewissen Grade be­rechtigte Behauptung der Herren Arbeitgeber zutrifft, dass ihnen die al­ler­verschiedensten tech­nischen und ökonomischen Schwie­rig­keiten durch das Vorhandensein von Gewerkvereinen ge­macht würden. Ich kann nur darauf hinweisen, dass die hochstehenden Industrien der Welt in Eng­land und Amerika trotz aller Schwie­rigkeiten eben im Er­fol­ge doch damit vorzüglich auskom­men. Es liegt das zum guten Teil nicht in ökonomischen Not­wen­dig­kei­ten, sondern in unseren deut­schen Traditionen.(...) wie unsere gegenwärtige Politik nicht selten den Eindruck er­weckt und erwecken muss, dass sie nicht etwa die Macht, sondern vor allem den Schein der Macht, das Auf­protzen mit der Macht sucht. (...) So etwas steckt auch unseren Arbeitgebern im Blute, sie kommen über den Herrenkitzel nicht hinweg, sie wol­len nicht bloß die Macht, die gewaltige, faktische Ver­ant­wortung und Macht, die in der Leitung jedes Großbetriebes liegt, al­lein - nein, es muss auch äu­ßerlich die Unterwerfung des anderen dokumentiert werden." (Baumgarten 1964a:521f) Zur Frage Lehrstellenknappheit oder Investi­ti­on in "Humankapital": "Wir haben gesagt, dass der Sklave nur für die Arbeiten des Lebensbedarfs gebraucht wird, so dass er auch nur geringer Tugend bedarf, ge­rade genügend, damit er nicht aus Zuchtlosigkeit oder Trägheit den Dienst versäumt." (Ari­sto­teles 1970a:89)

[6]) Der Arbeitskraftunternehmer ist die gesellschaftliche Form der Ware Arbeitskraft, bei der Arbeitende nicht mehr primär ihr latentes Arbeitsvermögen verkaufen, sondern (inner- oder über­betrieblich) vorwiegend als Auftragnehmer für Arbeitsleistung handeln - d.h. ihre Arbeitskraft weit­gehend selbstorganisiert und selbstkontrolliert in konkrete Beiträge zum betrieblichen Ablauf über­führen, für die sie kontinuierlich funktionale Verwendungen (d.h. 'Käufer') suchen müssen." (Voß, Pongratz 1998a:139f)

[7]) "Von der Macht des Gemüts, durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein",Kant (XI:371ff )

[8]) "Brennpunkt Sozialamt. Der Druck wächst: Probleme mit Bittstellern sind vorprogram­miert. Eine dicke Glasscheibe trennt den Beamten am Informationsschalter des Mainzer Sozial­am­tes von den Wartenden. Auch zwei Mitarbeiter eines privaten Wachdienstes stehen im Eingangs­raum. (...) Vor zwei Jahren hatten die Sozialamtsmitarbeiter diese Sicherheits­vor­keh­rungen gefor­dert, nachdem ein Kollege in einem Rollstuhl von einem wütenden Antragsteller angegriffen und ein anderer mit Tränengas besprüht wurde. (...) 'Es stoßen Menschen, die mehr oder weniger un­freiwillig zu Bittstellern wurden, in ein Ge­flecht aus Rechten und Pflichten. Zugleich sind sie vom Können, Verständnis oder gar Frust der Sachbearbeiter ab­hän­gig...'" (Sandra Jessel, Trierischer Volks­freund, 05.10.1999) Zu den US-amerikanischen Erfahrungen mit Reformen der welfare legis­lation siehe Matthews, Becker (o.J.).

Keine Kommentare:

Blog-Archiv