"Ja, ich weiß wohl, wir haben das Argument des heiligen Anselmus
Und das Gleichnis von den Inseln des vollkommenen Glücks. -
Aber leider! Nathanael, leider können nicht alle dort wohnen."
(Gide 1974a:31)
Doch ja, es gab zumindest einen Philosophen (Popper 1969a:371), der unbesehen jedweder empirischen Datenlage einer solchen Pseudowissenschaft wie Soziologie als Errungenschaft „unserer freien Welt" feierte:
"Class differences have diminished enormously everywhere. In Scandinavia, the United States, Canada, Australia and New Zealand, we have, in fact, something approaching classless societies."
Liegt es an dem Popper eigentümlichen framework [1]) - oder an dem social bias durch das spezifische Beziehungsnetz der Sozialkontakte eines Universitätsgelehrten?! Ein akademischer Philosoph hat heutzutage, ohne ein hohes Maß an Eigeninitiative zu entfalten, wenig Chancen, einem Proletarier [2]) zu begegnen, kaum einen Lohnabhängigen als solchen zu erkennen, wenn er einem begegnen sollte. Schließlich gibt es Datenschutz. Sei dem, wie es sei: Die klassenlose Gesellschaft ist für Popper so gut wie eine real gewordene Utopie: Nur das Vernünftige ist wirklich! Das heißt: Was zählt, ist die Verwirklichung der Idee der offenen Gesellschaft in den Gesellschaften der freien Welt - reale Phänomene, die von diesem Bild abweichen, können nur akzidentielle Störungen darstellen, Schmutzränder auf einem prinzipiell strahlenden Glanzfarbfoto.
Nun hat letzterem jahrzehntelang der „realexistierende Sozialismus" zur Kontrastfolie gedient.
"Denn mag die Bourgeoisie im Kampfe siegen oder unterliegen, sie bleibt zum Untergange durch die inneren Widersprüche, die ihr im Laufe der Entwicklung tödlich werden, verurteilt. Die Frage ist nur, ob sie an sich selber oder durch das Proletariat zugrunde geht." (Benjamin 1955a:76)
Der Kommunismus hat jahrzehntelang als Ankerreiz zur Selbstidentifizierung der freien Welt gedient und als deren Sinnhorizont zu ihrem Fortdauern selbst beigetragen. Was wird nun aus der freien Welt, wenn diese Funktion nicht mehr ausgeübt wird? Poppers Beschwörungsformel [3]) der „Offenen Gesellschaft" wird uns theoretisch und politisch nicht weiterbringen – wenigstens solange nicht deutlich gemacht wird, welche Probleme mit diesem Begriff gelöst werden sollen und wie sie in politisch tragfähige Lösungsstrategien umzusetzen sind.
[1]) „However, there is now a blatantly obvious lacuna in qualitative work on class, and academics seem particularly squeamish when the subject of the working class is raised.” Tim Edensor, A Welcome Back to the Working Class, Sociology, 34/4, 2000, S. 805 - “This market has fostered a form of academic capital, wielded by middle-class theorists, which relegates older, less high status concerns about issues such as class, which are considered irrelevant or passé. Too often, theories offered as universal are partial and specific and reflect the interests and lifestyles of the would-be-sophisticates who proffer them. This is especially the case in cultural studies where the sheer trendiness of certain subject positions has supplanted concerns about the ways in which many people live.” (806)
[2]) „Ich glaube, niemand hat je ernstlich behauptet, dass wir in eine Gesellschaft eintreten, in der kurzfristig die Arbeiter zu einer nebensächlichen Kategorie werden würden." (Touraine 1972a:20)
[3]) "Auch in der Anwendung des Fallibilismus auf die Politik hat Popper eine wirkungsmächtige Formel gefunden, die das Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften auf den Begriff bringt. Die Formel von der "offenen Gesellschaft". Was er selbst dann zu dem Thema verfasst hat, verfehlt freilich gänzlich den radikaldemokratischen Kern dieses Selbstverständnisses und kommt kaum über die seit den fünfziger Jahren zu Recht in Vergessenheit geratenen Elitetheorien der Demokratie à la Schumpeter hinaus. Ein eher skurriles Provinzphänomen der westdeutschen Linken ist deshalb, wenn ausgerechnet diese Theorie heute bei ehemaligen Maoisten hoch im Kurs steht." (Brunkhorst 1994a)
[4]) Geiger 1949a; Bendix, Lipset 1953a; Schelsky 1955a; Popitz 1957a, 1958a; Dahrendorf 1959a; zu den Ursprüngen siehe Guizot, Mignet, Louis Blanc, Marx, Lorenz v. Stein.
[5]) vgl. Hennigs (1973a:30f) Kritik an Schoenbaum
[6]) Im antiken Rom gab es 5 oder 6 Klassen, je nach Bestimmungsmerkmal. Der Begriff "classis" selbst stammt aus dem militärischen Sprachgebrauch und meinte ursprünglich "Truppenkörper".
[7]) „Young Muslims cannot escape a whole series of conflicts and choices, and the questions of identity and community. These invariably are areas of contention - the messages and stimuli they receive in interaction with wider society acts to re-enforce feelings of disillusionment and quandary.
‘I feel sorry for anyone between the age of 13 and 19 at the moment living in Saltley or Small Heath. It's a desperate desperate situation.. and anyone who survives that with any kind of personal achievement deserves great credit and support.. because if you look at what they're facing - a lot of the 13 year olds in school; first of all they have uneducated parents, they have unemployed parents.. some of them don't know anybody who's actually got a job. They [the young] come from streets where there is 90% unemployment if not more. They have no life experience of somebody bringing in a wage, going out every morning and coming back every evening and earning some money. So, imagine what that does to their aspirations of what they're going to achieve in life. They've never experienced anyone working.’ [Educationalist, Azad Kashmiri, 36, Male] (Abbas 1996a)
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