"Manche nennt man Anthologien,
Darein druckt man das Beste, was je über irgend etwas gesagt worden ist,
Manche wollen Euch das Leben lieben lehren,
Nach anderen beging der Autor Selbstmord.
Manche säen Hass
Und ernten, was sie säten. …
Manche finden Worte, die sind süßer
Als das Rauschen der Blätter am Mittag.
Und Johannes auf Patmos hat gar ein Buch verschlungen
Wie eine Ratte; ich aber mag Himbeeren lieber.
Wie Bitternis belud sich daran sein Eingeweide,
Und danach hatte er viel Visionen." (Gide 1974a:25f)
Die biblischen Propheten bildeten das exzellente Experten-Frühwarnsystem des Volkes Israel (Baumgarten 1864a:648ff). Wenn v. Alemann sich gegen eine charismatische Soziologie ausspricht, spricht das daher eher für einen zu kleinkarierten Begriff von Wissenschaft. Ein Frühwarnsystem [1]) der Weltgesellschaft vor möglichen Katastrophen zu bilden, stellte einen kaum zu unterschätzenden Beitrag von Wissenschaft für Gesellschaft dar. [2]) Gegen Hayeks Beharren auf der Ex-post-Betrachtung [3]) besteht man zu Recht auf den Bedarf der politischen Praxis an theoretischer Orientierung.[4])
Expertensysteme [5]) sind soziologisch betrachtet ein Grundzug der modernen Gesellschaft. Für Giddens (1990a:27) stellen sie ein "disembedding mechanism" [6]) dar, der (wie Geld) Vertrauensmechanismen voraussetzt und die soziale Vermittlung von Raum und Zeit leistet. Wissenschaft, Religion und Mythos liegen eng beieinander. In allen diesen Bereichen gibt es "Experten" [7]), deren Leistungen der Laie gemeinhin nicht nachprüfen kann und somit auf Vertrauen hin zu akzeptieren gezwungen ist. Die Trennung zwischen frontstage und backstage performance von Experten wird sogar organisatorisch sichergestellt (Giddens 1990a:86). Gegenwärtig unternimmt die "Artificial Intelligence"-Forschung große Anstrengungen, um Expertensysteme zu bauen. Der Systemdesigner interagiert hierzu mit einem domain expert, der oft nicht in der Lage ist, all sein Wissen zu artikulieren. Der Prozess des Wissenserwerbs erweist sich als der Engpass bei all diesen Bemühungen (Barr, Feigenbaum 1981a:10). Die Frage ist gestellt:
Worunter unterscheiden sich eigentlich die Leistungen von Propheten und von wissenschaftlichen Prognostikern?
Da der Marxismus beanspruchte, eine wissenschaftliche Weltanschauung darzustellen, wurde er von Anfang an mit dem Vorwurf des Prophetentums konfrontiert.[8]) Nach seiner Blütezeit im 19. Jahrhundert1944 fand dieses historisch unverwüstliche Argument in Popper einen neuen Liebhaber, der es sich nicht verdrießen ließ, es mit Liebe zum logischen Detail wieder aufzupolieren. "Popperizismus" stelle der Sozialwissenschaft die Aufgabe, die Geschichte vorherzusagen. Nach Popper kann dies nur auf eine Art Prophetie wie im Alten Testament hinauslaufen:
„My intention is to criticize the doctrine that it is the task of the social sciences to propound historical prophecies, and that historical prophecies are needed if we wish to conduct politics in a rational way. I shall call this doctrine 'historicism'. I consider historicism to be the relic of an ancient superstition, even though the people who believe in it are usually convinced that it is a very new, progressive, revolutionary, and scientific theory." (...) - „I shall therefore try to show that this claim is not justified, and that the kind of prophecies which Marxism offers are in their logical character more akin to those of the Old Testament than to those of modern physics." (Popper 1969a:337)
Der Prophet des Alten Testaments war jedoch nicht ein persönlicher Sinnstifter, sondern wurde aufgefasst als das Sprachrohr eines Herrschergottes, von dem man zu wissen begehrte, wie seine Gnade zu erlangen sei (Baumgarten 1964a:469). Der urtümliche Begriff des Prophetentums ist daher keineswegs geeignet, einen Abgrund von Irrationalität und Aberglauben [9]) zu bezeichnen, sondern weist im Gegenteil unverkennbare Ansätze von Rationalisierung auf, wie schon Max Weber deutlich gemacht hat.
Popper unterschlägt dabei schon den grundsätzlichen Unterschied zwischen den logischen Eigenschaften eines theoretischen Arguments und dessen pragmatischen Verwendungsweisen. Konkret: Es besteht weit verbreitet, vielleicht sogar anthropologisch vorgeprägt, ein menschliches Bedürfnis, eine in die Zukunft liegende Handlungssituation kognitiv zu strukturieren, auf eine rationale oder eine weniger rationale Art. Wenn keine rationalen Mitteln verfügbar sind, so ist es psychologisch gesehen unter der Bedingung dieses Strukturierungsgebots vermutlich vielleicht gar nicht irrational, sich bestimmter sog. „irrationaler" Mittel zu bedienen, wie Orakel, Horoskop, göttliche Eingebung usw. Ein Urzug menschlicher Weltorientierung, mit welcher vielleicht auch das paradoxe persönliche Scheitern militanter Aufklärer wie etwa Nicolai und Lichtenberg (Zatorski 1999a) erklärt werden kann.
[1]) "Sind wir uns denn bewusst, dass die letzten 100 Jahre - jener Zeitraum, wo die Industriestaaten ihren 'Reichtum' erzielten - auch die Zeitspanne ist, in der die Treibhausgase exponentiell anstiegen? Etwa 50 Prozent des heute in der Atmosphäre vorhandenen Kohlendioxids wurde in den vergangenen 30 Jahren hochgeblasen. Da man davon ausgehen kann, dass die bodennahe Temperatur auf diese Veränderungen mit einer Verzögerung von 30 bis 50 Jahren reagiert (die Natur denkt in längeren Zeitzyklen), ist anzunehmen, dass erst die Hälfte der durch den Menschen ausgelösten Klimaveränderungen wirksam geworden ist." (Marcel Oberweis, Mit dem nachhaltigen Kondratieff-Zyklus in das kommende Jahrtausend (II), Luxemburger Wort, 22.01.00, S.4) - Eine Anekdote zum Thema "Nachhaltigkeit": 1912-1914: Zur "wirtschaftlichen Belebung" der Eifel-Region wird der Bau einer Sprengstofffabrik in Hallschlag beschlossen. Auf dem Gelände der früheren Munitionsfabrik in Hallschlag wird zurzeit das Ende der bislang rund 59 Millionen Mark teuren Sanierung vorbereitet. - Keine Landwirtschaft mehr möglich - Kostenfaktor 'Exotentrichter'. (Manfred Reuter, Maschendraht und Mutterboden. Sicherung der Altlasten in Hallschlag soll Ende 2001 abgeschlossen sein - Immer noch 'immense Funde', TV 22./23.01.2000)
[2]) „Das ist die schlechthin entscheidende Frage an die Wissenschaft: Übernimmt sie eine Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der Menschheit, oder dankt sie ab?" (Reigrotzki 1963a:114)
[3]) „Erst die schließlichen Folgen können zeigen, ob die Ideale, die eine Gruppe leiten, fördernd oder zerstörend sind." (Hayek 1971a:84)
[4]) „Aber wir müssen heute und morgen leben und handeln. Es nützte uns insofern wenig, den Sinn unseres Unterganges gegebenenfalls deuten zu können." (Reigrotzki 1963a:108)
[5]) "By 'expert systems' I mean systems of technical accomplishment or professional expertise that organise large areas of the material and social environments in which we live today." (Giddens 1990a:27)
[6]) "By 'disembedding' I mean the 'lifting out' of social relations from local contexts of interaction and their restructuring across indefinite spans of time-space." (Giddens 1990a:21)
[7]) Im antiken Griechenland war der König zugleich der Priester der Gemeinde. Der Kultus war die Quelle seiner Würde und seiner Macht. Die wichtigste Funktion und Qualifikation des Königs war, die heiligen Zeremonien zu vollziehen. (Coulanges o.J.:171f)
[8]) „Die Prophezeiung der Revolution: Um die Erwartungen der Marxisten von einer kommenden Revolution zu diskreditieren, wird uns häufig vorgeworfen, wir lieben es zu prophezeien, erwiesen uns aber als schlechte Propheten." (Kautsky 1972a:22)
[9]) "Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Physischen oder Moralischen." (Kant XI:335,Anm.*)
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