„... wer mag, kann in der Kritik auch nichts weiter als das ewig sich wälzende Rad, das jeden Augenblick eine Gestalt, welche die Welle oben hinauf trug, hinunterzieht, erblicken, - es sei, dass er, auf der breiten Base des gesunden Menschenverstandes ruhend, seiner selbst sicher, nur an diesem objektiven Schauspiel des Erscheinens und Verschwindens sich weidet und aus ihm selbst sich noch mehr Trost und Befestigung für seine Entfernung von der Philosophie holt, indem er a priori durch Induktion die Philosophie, an welcher das Beschränkte scheitert, auch für eine Beschränktheit ansieht, - oder dass er mit inniger und neugieriger Teilnahme das Kommen und Gehen der aufschießenden Formen bewundernd und mit vieler Bemühung aufgreift, dann mit klugen Augen ihrem Verschwinden zusieht und schwindelnd sich forttreiben lässt.“ (Hegel, Aufsätze:24)
Es würden nun aber Poppers Attacken auf Hegel völlig unverständlich, wenn es für ihn keine philosophische Wahrheit gäbe. Stritt er gegen ihn etwa um Glaubensfragen?!
„Die Vernunft ist die Regel, der Glaube die Ausnahme von der Regel. Selbst in der besten Harmonie ist daher eine Kollision zwischen beiden unvermeidlich, denn die Spezialität des Glaubens und die Universalität der Vernunft decken sich nicht vollkommen, sondern es bleibt ein Überschuss von freier Vernunft, welcher für sich selbst, im Widerspruch mit der an die Basis des Glaubens gebundenen Vernunft, wenigstens in besonderen Momenten, empfunden wird. So wird die Differenz zwischen Glauben und Vernunft selbst zu einer psychologischen Tatsache." (Feuerbach 1976a:11)
Feuerbach hält die Differenz von Glaube und Vernunft zu recht für eine real erfahrbare psychische Möglichkeit. Ihr verdankt sich Aufklärung. Aufklärung ist aber kein Allzweckreiniger, der Aberglaube [1]) raus und Vernunft rein zwingt. Das Ziel der Mündigkeit schließt nicht die Gefahr der psychischen Beschädigung auf dem Wege dahin aus. Brauchen wir vielleicht, wie Hinrichs (1999a:151) fragt, unsere intellektuelle Beschränktheit, um bei Trost zu bleiben? Aber: Schon der Mythos enthält aufklärerische Momente, wie auch Aufklärung nie dagegen gefeit ist, in einen Mythos neuesten Designs umzuschlagen (Horkheimer, Adorno 1998a:18).
Auf das Problem des Mythos hatte sich damals Schelling geworfen. So steht es schon 1796 in „Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ [2]), von Hegels Hand überliefert, zu dessen Autorenkreis zum größten Teil Schelling und nicht zuletzt wohl auch Hölderlin rechnen dürften. Inwiefern überschreitet so verstandene Mythologie [3]) die Grenzen des Rationalen? Ist solchem philosophischen Trachten, vielleicht in Anbetracht der demagogischen Erfolge totalitärer Ideologien, nachzueifern oder zu konkurrieren? Sehen Leute wie Hegel oder Popper die Welt voreingenommener Weise durch eine rationalistische Brille? Die Welt ist ein logisch auflösbares Rätsel - alles andere ist nicht (worüber ich nicht rational reden kann, davon muss ich schweigen). Für die Gegenposition ist das Wesentliche nicht rational erfassbar. Dieser Widerspruch lässt sich niemals definitiv lösen, sondern muss für immer eine offene Wunde der Philosophie bleiben. Für Feyerabend aber ist nicht einmal die Differenz von Wissenschaft und Mythos gesichert. [4])
Rational widerlegen lässt sich nur der, wer rationale Argumente annimmt, also sich auf den Boden rationaler Argumentation stellt und vor allem intersubjektive Kriterien der Wahrheit akzeptiert:
„Der Wahrheitsbegriff ist für den hier entwickelten Kritizismus unentbehrlich. Was wir kritisieren, das ist der Wahrheitsanspruch.“ (Popper 1969b:116)
Immunisierung ist aber erzwungener Konformismus durch Nichtzulassen von Alternativen (Feyerabend 1976a:57).
Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Mythologen wie Schelling Philosophie ersetzen durch Religiosität oder andere Arten von Subjektivismen. Man kann dieses Problem jedoch keinesfalls durch eine Definition von „Philosophie“ lösen, weil dies nur zu einer Vorherrschaft des jeweils persönlich bevorzugten Dogmatismus führen würde. Auch auf der Grundlage des Kritischen Rationalismus kann man zumindest dies Ergebnis festhalten: Eine Philosophie ist nicht erschöpfend zu widerlegen, werde sie aufgefasst als eine konkrete Totalität im Sinne Hegels oder aber als ein historisches Individuum mit unendlich vielen Facetten analytischer Intensität und Beziehungsmöglichkeiten (Weber).
Uns geht es wie Euthyphron in seinem Dialog mit Sokrates:
„Aber ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was ich denke. Denn wovon wir auch ausgehen, das geht uns ja immer herum und will nicht bleiben, wohin wir es gestellt haben.“ (Platon:53)
[1]) "Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Physischen oder Moralischen." (Kant XI:335, Anm.*)
[2]) „- wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen: Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! - Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein." (Hölderlin 3:621ff)
[3]) „Der Mythos muss verstanden werden als wirkliches religiöses Geschehen, als Werden der Gottes-Erkenntnis. Weder Mythos noch Offenbarung sind rein-rational verstehbar oder gar beweisbar. Nicht um sie kritisch zu behandeln, wohl aber um kritisch zu beweisen, dass die kritisch-rationale Methode ihre unüberschreitbare Grenze hat, führt Schelling in den umfangreichen Einleitungen diese ‘negative Philosophie’ aus." (Hildebrandt 1961a:25)
[4]) „Thus science is much closer to myth than a scientific philosophy is prepared to admit. It is one of the many forms of thought that have been developed by man, and not necessarily the best. It is conspicuous, noisy, and impudent, but it is inherently superior only for those who have already decided in favour of a certain ideology, or who have accepted it without having ever examined its advantages and its limits. And as the accepting and rejecting of ideologies should be left to the individual it follows that the separation of state and church must be supplemented by the separation of state and science, that most recent, most aggressive, and most dogmatic religious institution. Such a separation may be our only chance to achieve a humanity we are capable of, but have never fully realised." (Feyerabend 1976a:395)
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