Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Situationslogik

Individuum und Gesellschaft

"Most social philosophies of social science are either individualists or holists: they see either the trees or the forest, never both."(Bunge 1996a:531)

"Der Mensch ist ... nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann." (Marx GR:6)

„Es ist nichts lächerlicher, als zu glauben, dass die Menschen durch die Lehre von der Not­wendigkeit der menschlichen Willenshandlungen unfrei, oder durch die metaphysische Lehre von der Freiheit nun auch frei gemacht wür­den." Feuer­bach, Nachgelassene Aphorismen (1874a:318)

Die von Popper behauptete Verbindung zwischen Essentialismus und Popperizismus führt zu­rück auf die Fragen:

Welchen Ausgangspunkt soll die Konstruktion sozialer Theorie wählen?

Lassen sich Beschreibung und Erklärung sozialer Strukturen und Prozesse durch Merkmale und Aussagen über Individuen oder von sozialen Systemen vorneh­men?

„By a situational analysis I mean a certain kind of tentative or conjectural ex­pla­nation of so­me human action which appeals to the situation in which the agent finds himself. It may be a hi­storical explanation: we may perhaps wish to ex­plain how and why a certain action can ever be fully explained. Nevertheless, we can try, conjecturally, to give an idealized reconstruction of the problem si­tu­ation in which the agent found himself, and to that extent make the action ‘un­der­standable’ (or ‘rationally understandable’), that is to say, adequate to his si­tuation as he saw it. This method of situational analysis may be decribed as an application of the ratio­nality principle. It would be a task for situational ana­ly­sis to distinguish between the situation as the agent saw it, and the situation as it was (both, of course, con­jectured)." (Popper 1973a:179) [1])

Der universell-nomologisch/naturrechtliche Charakter der ökonomischen Grundbeziehungen wird von Popper überhöht durch seinen Versuch, die „Situationslogik" den Sozialwissen­schaf­ten als einzig denkbares Erklärungsmodell zu verschreiben. Dessen Explikation durch Popper muss jedoch als ge­scheitert betrachtet werden.[2])

Es fällt nicht leicht, Poppers Vorschlag objektiv zu bewerten. Der Terminus selbst hat im RREEMM-Modell (Lindenberg 1983a; Esser 1993a) überlebt. Meint Poppers Begriff der ur­sprüng­lichen Bedeu­tung nach eine Logik, die nicht über inhaltliche Annahmen über die Be­schaf­fenheit des individuellen Akteurs, sondern mit einer logischen Charakterisierung der Hand­lungssituation zur Erklärung des Ver­haltens auskommt, so beschreibt die „Logik der Situ­a­tion" bei Esser nur noch die vom Akteur wahr­ge­nommene Situation bzw. das opportunity set. Es müssen zur vollständigen Erklärung die „Logik der Se­lek­tion" und die „Logik der Trans­for­ma­tion" ergänzt wer­den, womit also explizit die Aspekte eingeführt wer­den, ohne welche Pop­per aber gerade auszukommen gesucht hatte.

Im Grunde ist Poppers Situationslogik ein Versuch, mittels einer simplen Verhaltenshypo­the­se (z.B. rationales Verhalten als Nutzenmaximierung oder wie Marx mit dem Konstrukt des ob­jekti­ven Klas­sen­interesses) aus der sozialen Situation des Handelnden direkt (d.h. unter Um­ge­hung komplizierterer psy­chologischer Prozesse wie Kognition und Motivation) von Änderun­gen der Situation auf die sozia­len oder ökonomischen Konsequenzen derselben schlussfolgern zu können. Modell ist wie immer der homo oeconomicus:

„Stable preference, rational choice, and equilibrium structures of interaction con­stitute the hard core of the microeconomic paradigm, which all this century has been dominating research program in economics." (Eggertsson 1990a:5)

Wie Poppers methodologische Normen zu einer „Logik der Forschung" gerinnen und da bei den An­schein logischer Apriorität und versachlichter Unangreifbarkeit erwecken, so werden mit Pop­pers „Situationslogik", gewissermaßen eine Ausdehnung des neoklassischen Paradigma aus der Ökonomie auf die Sozialwissenschaft schlechthin, historisch kontingente, politisch-öko­nomische Gesetzes­aus­sa­gen in den Status sachlich anscheinend unangreifbarer Modell-Pla­to­nismen beför­dert. Das deutlich zu sehen, haben gerade Ökonomen mit ihrer kostspielig er­wor­benen Berufsblindheit Schwierigkeiten. So sagt Schumpeter:

„Hier müssen wir uns vor einer optischen Täuschung hüten, und zwar der glei­chen, die die Marxisten davon abhält, Termini wie Preis, Kosten, Geld, Wert der Bodenleistung oder gar Zins zu gebrauchen, wenn sie von einer künftigen so­zi­a­lis­tischen Ordnung sprechen; diese Termini bezeichnen Begriffe der all­ge­mei­nen ökonomischen Logik und haben in den Augen der Marxisten nur des­halb eine ka­pitalistische Bedeutung, weil sie auch innerhalb der kapitalistischen Ge­sellschaft verwendet werden." (1965a:49)

Demnach gebe es nur eine einzige und zwar universelle ökonomische Logik. Man könnte da­her mei­nen, Ökonomie sei eher eine Teildisziplin der Logik oder der Mathematik als der Sozi­al­wissen­schaften. Andererseits fällt Schumpeter nicht ein, zu leugnen, dass ökonomi­sche Ge­set­ze von institutionellen Regelungen abhängen, die ihrerseits geschichtlich höchst un­ter­schied­lich aus­fallen kön­nen:

„Selbst wenn der Begriff des Einkommens den Menschen des Mittelalters vor dem vier­zehn­ten Jahrhundert noch nicht geläufig war, ist dies noch kein Grund, ihn bei der Analyse ihrer Wirt­schaft nicht zu benutzen. Es trifft jedoch zu, dass ­konomische Gesetze' weit weniger Be­stand haben als naturwissen­schaft­liche 'Gesetze', dass sie sich unter andersartigen insti­tu­tio­nellen Ver­hält­nissen auch an­dersartig auswirken und dass die Außerachtlassung dieser Tat­sache zu man­cher Fehldeutung führt." (Schumpeter 1965a:68f)

In dieser heiklen Situation kommt dem Ökonomen der Methodologe zu Hilfe und trennt situ­a­tionslogische von empirischen Gesetzen:

„Wenn ich zum Beispiel feststelle, dass - unter bestimmten Bedingungen - die unmittelbaren Gewinne eines Betriebes ihr Maximum bei einem Ausstoß er­reicht, bei dem die Grenzkosten gleich dem Grenzerlös sind (wobei der letztere bei voll­kommener Konkurrenz gleich dem Preis ist), so lässt sich sagen, dass ich die Logik der Situation und ein Resultat zum Ausdruck bringe, das genauso wie eine Regel der allgemeinen Logik gültig ist, und zwar unabhängig davon, ob jemand danach handelt oder nicht. Das heißt, dass es eine Gattung ökono­mi­scher Theoreme gibt, die logische (nicht aber ethische oder politische) Ideale oder Normen sind. Und sie unterscheiden sich offenbar von einer anderen Ka­te­gorie ökonomischer Theo­reme, die sich unmittelbar auf Beobachtung grün­den, z. B. auf Beobachtungen darüber, inwieweit die Erwartungen im Hinblick auf die Beschäftigung sich auf die Ausgaben der Arbeiter für Konsumgüter aus­wirkt, oder welchen Einfluss Ände­rungen des Lohnes auf die Heiratsziffer ha­ben." (Schumpeter 1965a:48)

Leider steht hier der Methodologe dem Ökonomen nach. So hat er zwar recht, dass die Öko­no­men oft Aussagen machen, ohne sich darum zu scheren, ob es auch Menschen gibt, die ent­sprechend han­deln; ob dieses aber gute Methodologie ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Hier lässt sich aber auch gut erkennen, dass Schumpeter so gut wie Popper es fertig bringt, von einer „Logik der Situation" zu sprechen, obwohl die Situation klar erkennbar eine handlungs-teleolo­gisch konstituierte „Situation" ist, deren „Objektivität" eindeutig den Zielen dieses Han­delnden zuzuschreiben ist. Normal Sterbliche verstehen unter einer „objektiven Situation" ge­meinhin das ge­naue Gegenteil, nämlich die Unabhän­gig­keit der Situation vom subjektiv Han­delnden. Daher steht dann aber auch Schumpeters Überzeugung, diese Situationslogik sei hi­sto­risch und gesellschaftlich unabhängig, auf entsprechend wackligen Bei­nen.



[1]) vgl. Popper (1992b:114f; 1987a:116f)

[2]) "Furthermore, since Popper's rationality principle is empty, so is his situational logic, which he claimed to be able to explain human actions and social facts - even though he never even sket­ched it. Thus Popper made no lasting contributions to social explanation." (Bunge 1996a:531)

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