Individuum und Gesellschaft
"Most social philosophies of social science are either individualists or holists: they see either the trees or the forest, never both."(Bunge 1996a:531)
"Der Mensch ist ... nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann." (Marx GR:6)
„Es ist nichts lächerlicher, als zu glauben, dass die Menschen durch die Lehre von der Notwendigkeit der menschlichen Willenshandlungen unfrei, oder durch die metaphysische Lehre von der Freiheit nun auch frei gemacht würden." Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen (1874a:318)
Die von Popper behauptete Verbindung zwischen Essentialismus und Popperizismus führt zurück auf die Fragen:
Welchen Ausgangspunkt soll die Konstruktion sozialer Theorie wählen?
Lassen sich Beschreibung und Erklärung sozialer Strukturen und Prozesse durch Merkmale und Aussagen über Individuen oder von sozialen Systemen vornehmen?
„By a situational analysis I mean a certain kind of tentative or conjectural explanation of some human action which appeals to the situation in which the agent finds himself. It may be a historical explanation: we may perhaps wish to explain how and why a certain action can ever be fully explained. Nevertheless, we can try, conjecturally, to give an idealized reconstruction of the problem situation in which the agent found himself, and to that extent make the action ‘understandable’ (or ‘rationally understandable’), that is to say, adequate to his situation as he saw it. This method of situational analysis may be decribed as an application of the rationality principle. It would be a task for situational analysis to distinguish between the situation as the agent saw it, and the situation as it was (both, of course, conjectured)." (Popper 1973a:179) [1])
Der universell-nomologisch/naturrechtliche Charakter der ökonomischen Grundbeziehungen wird von Popper überhöht durch seinen Versuch, die „Situationslogik" den Sozialwissenschaften als einzig denkbares Erklärungsmodell zu verschreiben. Dessen Explikation durch Popper muss jedoch als gescheitert betrachtet werden.[2])
Es fällt nicht leicht, Poppers Vorschlag objektiv zu bewerten. Der Terminus selbst hat im RREEMM-Modell (Lindenberg 1983a; Esser 1993a) überlebt. Meint Poppers Begriff der ursprünglichen Bedeutung nach eine Logik, die nicht über inhaltliche Annahmen über die Beschaffenheit des individuellen Akteurs, sondern mit einer logischen Charakterisierung der Handlungssituation zur Erklärung des Verhaltens auskommt, so beschreibt die „Logik der Situation" bei Esser nur noch die vom Akteur wahrgenommene Situation bzw. das opportunity set. Es müssen zur vollständigen Erklärung die „Logik der Selektion" und die „Logik der Transformation" ergänzt werden, womit also explizit die Aspekte eingeführt werden, ohne welche Popper aber gerade auszukommen gesucht hatte.
Im Grunde ist Poppers Situationslogik ein Versuch, mittels einer simplen Verhaltenshypothese (z.B. rationales Verhalten als Nutzenmaximierung oder wie Marx mit dem Konstrukt des objektiven Klasseninteresses) aus der sozialen Situation des Handelnden direkt (d.h. unter Umgehung komplizierterer psychologischer Prozesse wie Kognition und Motivation) von Änderungen der Situation auf die sozialen oder ökonomischen Konsequenzen derselben schlussfolgern zu können. Modell ist wie immer der homo oeconomicus:
„Stable preference, rational choice, and equilibrium structures of interaction constitute the hard core of the microeconomic paradigm, which all this century has been dominating research program in economics." (Eggertsson 1990a:5)
Wie Poppers methodologische Normen zu einer „Logik der Forschung" gerinnen und da bei den Anschein logischer Apriorität und versachlichter Unangreifbarkeit erwecken, so werden mit Poppers „Situationslogik", gewissermaßen eine Ausdehnung des neoklassischen Paradigma aus der Ökonomie auf die Sozialwissenschaft schlechthin, historisch kontingente, politisch-ökonomische Gesetzesaussagen in den Status sachlich anscheinend unangreifbarer Modell-Platonismen befördert. Das deutlich zu sehen, haben gerade Ökonomen mit ihrer kostspielig erworbenen Berufsblindheit Schwierigkeiten. So sagt Schumpeter:
„Hier müssen wir uns vor einer optischen Täuschung hüten, und zwar der gleichen, die die Marxisten davon abhält, Termini wie Preis, Kosten, Geld, Wert der Bodenleistung oder gar Zins zu gebrauchen, wenn sie von einer künftigen sozialistischen Ordnung sprechen; diese Termini bezeichnen Begriffe der allgemeinen ökonomischen Logik und haben in den Augen der Marxisten nur deshalb eine kapitalistische Bedeutung, weil sie auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verwendet werden." (1965a:49)
Demnach gebe es nur eine einzige und zwar universelle ökonomische Logik. Man könnte daher meinen, Ökonomie sei eher eine Teildisziplin der Logik oder der Mathematik als der Sozialwissenschaften. Andererseits fällt Schumpeter nicht ein, zu leugnen, dass ökonomische Gesetze von institutionellen Regelungen abhängen, die ihrerseits geschichtlich höchst unterschiedlich ausfallen können:
„Selbst wenn der Begriff des Einkommens den Menschen des Mittelalters vor dem vierzehnten Jahrhundert noch nicht geläufig war, ist dies noch kein Grund, ihn bei der Analyse ihrer Wirtschaft nicht zu benutzen. Es trifft jedoch zu, dass 'ökonomische Gesetze' weit weniger Bestand haben als naturwissenschaftliche 'Gesetze', dass sie sich unter andersartigen institutionellen Verhältnissen auch andersartig auswirken und dass die Außerachtlassung dieser Tatsache zu mancher Fehldeutung führt." (Schumpeter 1965a:68f)
In dieser heiklen Situation kommt dem Ökonomen der Methodologe zu Hilfe und trennt situationslogische von empirischen Gesetzen:
„Wenn ich zum Beispiel feststelle, dass - unter bestimmten Bedingungen - die unmittelbaren Gewinne eines Betriebes ihr Maximum bei einem Ausstoß erreicht, bei dem die Grenzkosten gleich dem Grenzerlös sind (wobei der letztere bei vollkommener Konkurrenz gleich dem Preis ist), so lässt sich sagen, dass ich die Logik der Situation und ein Resultat zum Ausdruck bringe, das genauso wie eine Regel der allgemeinen Logik gültig ist, und zwar unabhängig davon, ob jemand danach handelt oder nicht. Das heißt, dass es eine Gattung ökonomischer Theoreme gibt, die logische (nicht aber ethische oder politische) Ideale oder Normen sind. Und sie unterscheiden sich offenbar von einer anderen Kategorie ökonomischer Theoreme, die sich unmittelbar auf Beobachtung gründen, z. B. auf Beobachtungen darüber, inwieweit die Erwartungen im Hinblick auf die Beschäftigung sich auf die Ausgaben der Arbeiter für Konsumgüter auswirkt, oder welchen Einfluss Änderungen des Lohnes auf die Heiratsziffer haben." (Schumpeter 1965a:48)
Leider steht hier der Methodologe dem Ökonomen nach. So hat er zwar recht, dass die Ökonomen oft Aussagen machen, ohne sich darum zu scheren, ob es auch Menschen gibt, die entsprechend handeln; ob dieses aber gute Methodologie ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Hier lässt sich aber auch gut erkennen, dass Schumpeter so gut wie Popper es fertig bringt, von einer „Logik der Situation" zu sprechen, obwohl die Situation klar erkennbar eine handlungs-teleologisch konstituierte „Situation" ist, deren „Objektivität" eindeutig den Zielen dieses Handelnden zuzuschreiben ist. Normal Sterbliche verstehen unter einer „objektiven Situation" gemeinhin das genaue Gegenteil, nämlich die Unabhängigkeit der Situation vom subjektiv Handelnden. Daher steht dann aber auch Schumpeters Überzeugung, diese Situationslogik sei historisch und gesellschaftlich unabhängig, auf entsprechend wackligen Beinen.
[1]) vgl. Popper (1992b:114f; 1987a:116f)
[2]) "Furthermore, since Popper's rationality principle is empty, so is his situational logic, which he claimed to be able to explain human actions and social facts - even though he never even sketched it. Thus Popper made no lasting contributions to social explanation." (Bunge 1996a:531)
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