Darin liegt aber bekanntlich der große Widerspruch seines Philosophierens, wie ihn Popper selbst klar ausgesprochen hat:
"And it is a fact that my social theory (which favours gradual and piecemeal reform, reform controlled by a critical comparison between expected and achieved results) contrasts with my theory of method, which happens to be a theory of scientific and intellectual revolution." (Popper 1994a:68)
Diese Beschränkung seiner Sozialphilosophie beruht aber, wie hier klar zu sehen ist, auf dem Vorurteil, dass nur kleine Schritte rational kontrolliert werden könnten. Es unterschlägt sowohl die empirische Frage, wie groß der Spielraum des Kontrollierbaren sei, als auch:
Worin unterscheiden sich kleine und große Schritte?
Können wir uns überhaupt der Notwendigkeit entziehen, über große Schritte entscheiden zu müssen?
Da diese Popper-Slogans sich vor diesen Problemen drücken, muss man sie für weltfremd, utopistisch und eine gefährlich irreführende Maxime halten, die lediglich das irrationale Entscheidungsverhalten der politisch Herrschenden zu verdecken in der Lage ist. Es wundert daher wenig, dass dieser Slogan einer Zeit und einem Diskurs entstammt, wo Bürgertum und Arbeiterklasse und ihre politischen Parteien gleichermaßen politisch einflusslos waren, weil starker Mann Bismarck die Geschicke Deutschlands lenkte und niemand dabei in seine Karten blicken ließ. Popper bewunderte seinerzeit lieber Churchill - aber was ist an einer solchen Bewunderung kritisch-rational? - Wir brauchen keine starken Männer oder Vaterfiguren (die deutsche Landschaft wurde schon genug verkohlt!), sondern Verfassungsparteien (Schwengel 1999a:30). Diese sollen aber nicht kleinstmögliche Schritte auf dem politischen Parkett vollführen, sondern einen Entwurf zur Gestaltung des Ganzen entwickeln. Und dazu benötigen sie eine theoretische Konzeption (eine Theorie über Transformation und des Vergleichs von differierenden Entwicklungspfaden; Kaelble, Schriewer 1999a) mit Szenarios über die Gestaltungsräume der Zukunft.
"'Futurology' - the charting of possible/likely/available futures - becomes more important than charting out the past." (Giddens 1990a:51)
Poppers Steckenpferd des piece-meal engineering deckt sich ganz gut mit oder ist kaum unterscheidbar von derjenigen politischen Position, die innerhalb der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von Bernstein vertreten worden war. Ja, es kann mit gewissem Recht als die Fortführung des bernsteinschen [1]) Forschungsprogramms (Burawoy 1990a:781f) angesehen werden (Günther 1984a). Wenn Engels vor „parlamentarischem Kretinismus" gewarnt hatte, so muss man erinnern, dass er dabei das Frankfurter Parlament von 1848 als abschreckendes Beispiel vor Augen hatte, welches Beschlüsse debattierte und fasste, ohne sich um eine entsprechende Machtbasis zur Realisierung derselben zu besorgen. Eine Entscheidung, sich an derartigen Spielchen zu beteiligen, kann durchaus rational negativ [2]) getroffen werden. Andererseits ist bekannt, dass Marx und Engels den Aufstand der Pariser Kommune als unrealistisch einschätzten. Von Weber ist bekannt, dass er über den fehlenden politischen Machtwillen sowohl des Bürgertums als auch der zeitgenössischen Sozialdemokratie nur Spott übrig hatte.
Poppers Originalität besteht hier also darin, dass er „kleine, allmähliche Reformen" ins Englische übersetzt und mit ein paar mehr Allgemeinplätzen angereichert hat: Aus dem sokratischen Nichtwissen folge die Entscheidung für die minder riskante kleinere politische Veränderung der politischen Verhältnisse. Leider verrät uns Popper nicht, wie er aus dem Nichtwissen ableitet, woher er weiß, dass kleinere Schritte stets weniger riskant sind. Sein Vorurteil für den politischen Quietismus setzt aber voraus, dass man begründetes Wissen darüber habe, dass kleinere Schritte weniger gefährlich seien als große. Im Übrigen: Auch der letzte Schritt in den Abgrund erweckt gewöhnlich den Anschein, recht klein zu sein [3]).
"Aber stabile Verhältnisse brauchen nie und nimmer angenehme Verhältnisse zu sein, und schon vor dem Kriege gab es Schichten, für welche die stabilisierten Verhältnisse das stabilisierte Elend waren." (Benjamin 1955a:25)
Lenin hat seinerzeit die entscheidenden Differenzpunkte Bernsteins zur zeitgenössischen marxistischen Position auf den Punkt gebracht.[4]) In seiner Sicht ist der Streit darüber, ob Bernsteins Position (bzw. diejenige Poppers) noch opportunistischer Sozialdemokratismus oder schon offener Liberalismus darstelle, reichlich müßig. Entscheidend war für Lenin die politische Vorrangstellung:
„das bedeutete in der Praxis das Bestreben, die aufkommende Arbeiterbewegung in ein Anhängsel der Liberalen zu verwandeln." (Lenin 1962a:47)
Die Schwäche der bürgerlichen Parteien in Russland [5]), früher oder später zu einem Rückfall zu einer reaktionären Diktatur führen, wurde sie nicht von einer starken Arbeiter-, Soldaten- und Bauernbewegung daran gehindert. Wie man sich gegenüber einer liberalen Partei, die unter dem Zarismus praktisch gar nicht zur Existenz gelangen konnte, in Zukunft verhalten sollte, bestimmte von Anfang an die Diskussion der sozialrevolutionären Bewegungen Russlands (Schapiro 1962a: 21ff): Hegemonie der proletarischen Partei oder Bündnispolitik?
Ist nicht das Utopische, das kluge Realpolitik und Opportunitätsdenken Überschießende, durchaus notwendig [6]) für den gesellschaftlichen Fortschritt?
[1]) „Das Bernsteinianertum aber und die ‘kritische’ Richtung, zu der sich die Mehrheit der legalen Marxisten samt und sonders bekehrt hatte, (...) demoralisierten das sozialistische Bewusstsein, indem sie den Marxismus vulgarisierten, die Theorie der Abstumpfung der sozialen Gegensätze predigten, die Idee der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats für ein Unding erklärten, die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf auf engen Trade-Unionismus und ‘realistischen’ Kampf um kleine, allmähliche Reformen beschränkten." (Lenin 1962a:47)
[2]) „... expressing inputs to the social decision mechanism is an action, on which is guided by the preferences of the individual. He may or may not find it in his interests, as defined by his ‘real preferences’, to use the latter as his input to the decision process." (Elster, Hylland 1989a:4)
[3]) Zum Beispiel eine Bombe auf eine Botschaft. "A still further deterioration in the relationship came with the May 7 bombing of the Chinese embassy in Belgrade during the Kosovo war, which was viewed by the Chinese as a deliberate act of intimidation. The admission by the head of the Central Intelligence Agency, George Tenet, that this was simply a blunder due to a mid-level analyst relying on an outdated map, was, not surprisingly, seen as disingenuous. If only the CIA were as powerful and competent as foreigners believed, Beijing might have been able to accept Washington's apology gracefully. But such is the penalty for being a hegemon, albeit, in Clinton's and Albright's eyes, a benign one; the $4.5 million that Washington is now prepared to pay in compensation for the bombing of the embassy will not change that perception." (Chace 1998b) "Und ausgerechnet in dem Moment, als sich eine Perspektive zur Rückkehr in die Politik und vor allem in die UNO - die allein am Ende des 20. Jahrhunderts militärische Gewalt rechtmäßig beschließen kann - abzuzeichnen begann, bombardiert die NATO die Botschaft Chinas, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat! Wem wären da nicht jene Schüsse von Sarajevo eingefallen, die 1914 das sogenannte Hineinschlittern in den Weltkrieg auslösten?" (Friedensgutachten 1999)
[4]) "Die Sozialdemokratie soll aus einer Partei der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen werden. Diese politische Forderung hat Bernstein mit einer ganzen Batterie ziemlich gut aufeinander abgestimmter ‘neuer’ Argumente und Betrachtungen umgeben. Geleugnet wurde die Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen und vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung seine Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit zu beweisen; geleugnet wurde die zunehmende Verelendung, die Proletarisierung und die Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche; der Begriff ‘Endziel’ selbst wurde für unhaltbar erklärt und die Idee der Diktatur des Proletariats völlig verworfen; geleugnet wurde der prinzipielle Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus; geleugnet wurde die Theorie des Klassenkampfes, die auf eine streng demokratische, nach dem Willen der Mehrheit regierte Gesellschaft angeblich unanwendbar sei, usw." (Lenin 1962a:36)
[5]) Ähnlich wie in Deutschland) musste, folgt man Luxemburgs Analyse der russischen Revolution: „Die bürgerlichen Klassen, die, von der ersten Sturmwelle der Revolution überspült, sich bis zur republikanischen Staatsform hatten mit fortreißen lassen, begannen alsbald nach rückwärts Stützpunkte zu suchen und im Stillen die Konterrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen Petersburg hat dieser Tendenz deutlichen Ausdruck gegeben. Wäre dieser Vorstoß von Erfolg gekrönt gewesen, dann war nicht nur die Friedens- und die Agrarfrage, sondern auch das Schicksal der Demokratie, der Republik selbst besiegelt. Militärdiktatur mit einer Schreckensherrschaft gegen das Proletariat und dann Rückkehr zur Monarchie wären die unausbleibliche Folge gewesen." (Luxemburg 1968c:106f)
[6]) „Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden durchgearbeiteten Bewusstheit, mit welcher sie ihr Klasseninteresse, eben weil es ein bereits herrschendes, ausgearbeitetes ist, durchdringt. Die ewige Schwäche einer jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem Mangel an Bewusstheit seitens der Glieder der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Der hierbei stets wiederkehrende dialektische Widerspruch ist kurz folgender. Die Stärke der Revolution besteht in ihrer Begeisterung, diesem unmittelbaren Zutrauen der Idee in ihre eigene Kraft und Unendlichkeit. Aber die Begeisterung ist - als diese unmittelbare Gewissheit von der Allmacht der Idee - zunächst ein abstraktes Hinwegsehen über die endlichen Mittel zur wirklichen Ausführung und über die Schwierigkeiten der realen Verwicklung. Die Begeisterung muss sich somit auf die reale Verwicklung und in eine Operation mit den endlichen Mitteln einlassen, um in der endlichen Wirklichkeit ihre Zwecke zu erreichen. Sie scheint sonst in ihrem Schwärmen für das Was? (- den Zweck -) die reelle Seite des Wie?, der Verwirklichung, zu übersehen. Unter diesen Umständen scheint es ein Triumph übergreifender realistischer Klugheit seitens der Revolutionsführer, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung andern (und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst) geheim zu halten, und durch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen, ja durch die Benützung dieser, die Möglichkeit zur Organisation der neuen Kräfte zu gewinnen, um so durch dies klug erlangte Stück Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst dann zu besiegen." - „In der Tat, so schwer es dem Verstande wird, dies einzugestehen, beinahe scheint es, als ob ein unlöslicher Widerspruch zwischen der spekulativen Idee, welche die Kraft und Berechtigung einer Revolution ausmacht, und dem endlichen Verstande und seiner Klugheit bestünde. Die meisten Revolutionen, die gescheitert sind, sind - ... - an dieser Klugheit gescheitert, oder mindestens alle sind gescheitert, die sich auf diese Klugheit gelegt haben." (Lassalle 1919a:139)
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