Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Reformismus und Realpolitik

Darin liegt aber bekanntlich der große Widerspruch seines Philosophierens, wie ihn Popper selbst klar aus­ge­sprochen hat:

"And it is a fact that my social theory (which favours gradual and piecemeal re­form, reform con­trolled by a critical comparison between expected and achie­ved results) contrasts with my the­o­ry of method, which happens to be a theory of scientific and intellectual revolution." (Popper 1994a:68)

Diese Beschränkung seiner Sozialphilosophie beruht aber, wie hier klar zu sehen ist, auf dem Vorur­teil, dass nur kleine Schritte rational kontrolliert werden könn­ten. Es unterschlägt sowohl die empiri­sche Frage, wie groß der Spielraum des Kontrollierbaren sei, als auch:

Worin unterscheiden sich kleine und große Schritte?

Können wir uns überhaupt der Notwen­dig­keit entziehen, über große Schritte entscheiden zu müssen?

Da diese Popper-Slogans sich vor diesen Problemen drücken, muss man sie für welt­­fremd, utopi­stisch und ei­ne gefährlich irreführende Maxime halten, die ledig­lich das irrationale Entschei­dungs­verhal­ten der politisch Herrschenden zu verde­cken in der Lage ist. Es wundert daher wenig, dass dieser Slogan einer Zeit und einem Diskurs ent­stammt, wo Bürgertum und Arbeiterklasse und ihre politischen Parteien glei­cher­­maßen politisch einflusslos waren, weil starker Mann Bis­marck die Ge­schi­cke Deutschlands lenk­te und niemand dabei in seine Karten blicken ließ. Pop­per be­­wun­derte seinerzeit lieber Churchill - aber was ist an einer solchen Be­wun­de­rung kri­tisch-rational? - Wir brauchen keine starken Männer oder Vater­figu­ren (die deut­sche Land­schaft wurde schon genug verkohlt!), sondern Verfassungs­par­tei­en (Schwen­gel 1999a:30). Die­se sollen aber nicht kleinstmögliche Schritte auf dem po­li­tischen Parkett vollführen, sondern ei­nen Entwurf zur Gestaltung des Gan­zen ent­wickeln. Und dazu benötigen sie ei­ne theoretische Kon­zeption (eine Theo­rie über Transforma­tion und des Vergleichs von differierenden Entwick­lungs­pfa­den; Kaelb­le, Schriewer 1999a) mit Szenarios über die Gestaltungsräume der Zu­kunft.

"'Futurology' - the charting of possible/likely/available futures - becomes more important than charting out the past." (Giddens 1990a:51)

Poppers Steckenpferd des piece-meal engineering deckt sich ganz gut mit oder ist kaum un­ter­scheid­bar von derjenigen politischen Position, die innerhalb der Ge­schichte der deutschen Ar­bei­terbewegung von Bernstein vertreten worden war. Ja, es kann mit gewissem Recht als die Fortführung des bernsteinschen [1]) For­schungsprogramms (Burawoy 1990a:781f) angesehen wer­den (Günther 1984a). Wenn Engels vor „parlamentarischem Kretinismus" gewarnt hatte, so muss man erinnern, dass er dabei das Frankfurter Parlament von 1848 als abschreckendes Bei­spiel vor Augen hatte, welches Beschlüsse debattierte und fasste, ohne sich um eine entspre­chen­de Machtbasis zur Realisierung derselben zu besorgen. Eine Entscheidung, sich an derar­ti­gen Spielchen zu beteiligen, kann durch­aus rational negativ [2]) getroffen werden. Anderer­seits ist bekannt, dass Marx und Engels den Aufstand der Pariser Kommune als unrealistisch ein­schätzten. Von Weber ist be­kannt, dass er über den fehlenden politischen Machtwillen sowohl des Bürgertums als auch der zeitgenössischen Sozialdemokratie nur Spott übrig hatte.

Poppers Originalität besteht hier also darin, dass er „kleine, allmähliche Refor­men" ins Engli­sche übersetzt und mit ein paar mehr Allgemeinplätzen angereichert hat: Aus dem sokratischen Nicht­wissen folge die Entscheidung für die minder ris­kante kleinere politische Veränderung der po­litischen Verhältnisse. Leider verrät uns Pop­per nicht, wie er aus dem Nichtwissen ableitet, wo­her er weiß, dass klei­nere Schrit­te stets weniger riskant sind. Sein Vorurteil für den politi­schen Quie­tismus setzt aber voraus, dass man begründetes Wissen darüber habe, dass klei­nere Schrit­te weniger gefährlich seien als große. Im Übrigen: Auch der letzte Schritt in den Abgrund erweckt gewöhnlich den Anschein, recht klein zu sein [3]).

"Aber stabile Verhältnisse brauchen nie und nimmer angenehme Verhältnisse zu sein, und schon vor dem Kriege gab es Schichten, für welche die stabili­sier­ten Verhältnisse das stabilisierte Elend waren." (Benjamin 1955a:25)

Le­nin hat seinerzeit die entscheidenden Differenzpunkte Bernsteins zur zeitge­nös­­­si­­schen mar­xistischen Position auf den Punkt gebracht.[4]) In seiner Sicht ist der Streit darüber, ob Bern­steins Position (bzw. diejenige Poppers) noch opportu­nistischer Sozialdemokratismus oder schon offener Liberalismus darstelle, reichlich müßig. Entscheidend war für Lenin die po­liti­sche Vorrangstellung:

„das bedeutete in der Praxis das Bestreben, die aufkommende Arbeiterbewe­gung in ein Anhängsel der Liberalen zu verwandeln." (Lenin 1962a:47)

Die Schwäche der bürgerlichen Parteien in Russland [5]), früher oder später zu einem Rück­fall zu einer reaktionären Diktatur führen, wurde sie nicht von einer starken Arbeiter-, Sol­da­ten- und Bauernbewegung daran gehindert. Wie man sich gegenüber einer liberalen Partei, die unter dem Zarismus praktisch gar nicht zur Existenz gelangen konnte, in Zukunft verhalten sollte, bestimmte von Anfang an die Diskussion der sozialrevolutionären Bewegungen Russ­lands (Schapiro 1962a: 21ff): Hegemonie der proletarischen Partei oder Bündnispolitik?

Ist nicht das Utopische, das kluge Realpolitik und Opportunitätsdenken Über­schie­­ßende, durch­aus notwendig [6]) für den gesellschaftlichen Fortschritt?



[1]) „Das Bernsteinianertum aber und die ‘kritische’ Richtung, zu der sich die Mehrheit der le­ga­len Marxisten samt und sonders bekehrt hatte, (...) demoralisierten das sozialistische Bewusst­sein, indem sie den Marxismus vulgarisierten, die Theorie der Abstumpfung der sozialen Gegen­sät­ze predigten, die Idee der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats für ein Unding er­klär­ten, die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf auf engen Trade-Unionismus und ‘realisti­schen’ Kampf um kleine, allmähliche Reformen beschränkten." (Lenin 1962a:47)

[2]) „... expressing inputs to the social decision mechanism is an action, on which is guided by the preferences of the individual. He may or may not find it in his interests, as defined by his ‘real preferences’, to use the latter as his input to the decision process." (Elster, Hylland 1989a:4)

[3]) Zum Beispiel eine Bom­be auf eine Bot­schaft. "A still further deterioration in the relation­ship came with the May 7 bombing of the Chine­se embassy in Belgrade during the Kosovo war, which was viewed by the Chinese as a deliberate act of intimidation. The admission by the head of the Central Intelligence Agency, George Tenet, that this was simply a blunder due to a mid-level analyst relying on an outdated map, was, not sur­prisingly, seen as disingenuous. If only the CIA we­re as powerful and competent as foreigners be­lieved, Beijing might have been able to accept Was­hington's apology gracefully. But such is the pe­nal­ty for being a hegemon, albeit, in Clinton's and Albright's eyes, a benign one; the $4.5 million that Washington is now prepared to pay in com­pensation for the bombing of the embassy will not change that perception." (Chace 1998b) "Und ausgerechnet in dem Moment, als sich eine Perspek­tive zur Rückkehr in die Politik und vor allem in die UNO - die allein am Ende des 20. Jahrhun­derts militärische Gewalt rechtmäßig beschließen kann - abzuzeichnen begann, bombardiert die NATO die Botschaft Chinas, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat! Wem wären da nicht jene Schüs­se von Sarajevo eingefallen, die 1914 das sogenannte Hineinschlittern in den Weltkrieg aus­lösten?" (Friedensgutachten 1999)

[4]) "Die Sozialdemokratie soll aus einer Partei der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen werden. Diese politische Forderung hat Bernstein mit einer ganzen Bat­terie ziemlich gut aufeinander abgestimmter ‘neuer’ Argumente und Betrachtungen umgeben. Ge­­leugnet wurde die Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen und vom Stand­punkt der materialistischen Geschichtsauffassung seine Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit zu beweisen; geleugnet wurde die zunehmende Verelendung, die Proletarisierung und die Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche; der Begriff ‘Endziel’ selbst wurde für unhaltbar erklärt und die Idee der Diktatur des Proletariats völlig verworfen; geleugnet wurde der prinzipielle Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus; geleugnet wurde die Theorie des Klassenkampfes, die auf eine streng demokratische, nach dem Willen der Mehrheit regierte Gesellschaft angeblich unanwendbar sei, usw." (Lenin 1962a:36)

[5]) Ähnlich wie in Deutschland) musste, folgt man Luxemburgs Analyse der russischen Revo­lution: „Die bürgerlichen Klassen, die, von der ersten Sturmwelle der Revolution überspült, sich bis zur republikanischen Staatsform hatten mit fortreißen lassen, begannen alsbald nach rückwärts Stützpunkte zu suchen und im Stillen die Konterrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Ko­sa­kenfeldzug gegen Petersburg hat dieser Tendenz deutlichen Ausdruck gegeben. Wäre dieser Vor­stoß von Erfolg gekrönt gewesen, dann war nicht nur die Friedens- und die Agrarfrage, sondern auch das Schicksal der Demokratie, der Republik selbst besiegelt. Militärdiktatur mit einer Schre­ckensherrschaft gegen das Proletariat und dann Rückkehr zur Monarchie wären die unausbleibliche Folge gewesen." (Luxemburg 1968c:106f)

[6]) „Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden durchgearbeiteten Bewusstheit, mit welcher sie ihr Klassenin­ter­es­se, eben weil es ein bereits herrschendes, ausgearbeitetes ist, durchdringt. Die ewige Schwäche ei­ner jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem Mangel an Be­wusstheit seitens der Glieder der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an Organisation der ihr zu Gebote ste­hen­den Mittel. Der hierbei stets wiederkehrende dialektische Widerspruch ist kurz folgender. Die Stär­ke der Revolution besteht in ihrer Begeisterung, diesem unmittelbaren Zutrauen der Idee in ih­re ei­ge­ne Kraft und Unendlichkeit. Aber die Begeisterung ist - als diese unmittelbare Gewissheit von der Allmacht der Idee - zunächst ein abstraktes Hinwegsehen über die endlichen Mittel zur wirk­li­chen Ausführung und über die Schwierigkeiten der realen Verwicklung. Die Begeisterung muss sich somit auf die reale Verwicklung und in eine Operation mit den endlichen Mitteln einlas­sen, um in der endlichen Wirklichkeit ihre Zwecke zu erreichen. Sie scheint sonst in ihrem Schwär­men für das Was? (- den Zweck -) die reelle Seite des Wie?, der Verwirklichung, zu übersehen. Un­ter diesen Umständen scheint es ein Triumph übergreifender realistischer Klugheit seitens der Re­vo­lutionsführer, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung andern (und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst) geheim zu halten, und durch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen, ja durch die Benützung dieser, die Möglichkeit zur Organisation der neuen Kräfte zu gewinnen, um so durch dies klug erlangte Stück Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst dann zu besiegen." - „In der Tat, so schwer es dem Verstande wird, dies einzugestehen, beinahe scheint es, als ob ein unlöslicher Wider­spruch zwischen der spe­ku­lativen Idee, welche die Kraft und Berechtigung einer Revolution ausmacht, und dem endlichen Ver­stande und seiner Klugheit bestünde. Die meisten Revolutionen, die gescheitert sind, sind - ... - an dieser Klugheit gescheitert, oder mindestens alle sind gescheitert, die sich auf diese Klugheit ge­legt haben." (Lassalle 1919a:139)

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