Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Hegel, Feuerbach, Proudhon und die klassische Ökonomie



„Die Staatsökonomie ist die Wissenschaft, die von diesen Gesichtspunkten ihren Ausgang hat, dann aber das Verhältnis und die Bewegung der Massen in ihrer qualitativen und quantitativen Bestimmtheit und Verwicklung darzulegen hat. - Es ist dies eine der Wissenschaften, die in neuerer Zeit als ihrem Boden entstanden ist. Ihre Entwicklung zeigt das Interessante, wie der Gedanke (s. Smith, Say, Ricardo) aus der unendlichen Menge von Einzelheiten, die zunächst vor ihm liegen, die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet. - Wie es einerseits das Versöhnende ist, in der Sphäre der Bedürfnisse dies in der Sache liegende und sich betätigende Scheinen der Vernünftigkeit zu erkennen, so ist umgekehrt dies das Feld, wo der Verstand der subjektiven Zwecke und moralischen Meinungen seine Unzufriedenheit und moralische Verdrießlichkeit auslässt." (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S.291ff)

Bei der Lektüre von Marx ist es wichtig, diese Eigenheit seines Vorgehens zu berücksichtigen: Er übernimmt oft sehr weitgehend bestimmte Begriffe von anderen Autoren, bearbeitet damit aber eine eigene, neu geschaffene Problemstellung, wobei notwendiger Weise dieselben Begriffe eine mehr oder weniger große Bedeutungsverschiebung erfahren, ohne dass dieselbe stets ausdrücklich benannt wird. So benutzt er z. B. in den ÖPM die hegelsche oder feuerbachsche Terminologie, verwendet sie aber im Gegensatz zu den genannten Autoren nicht zu einer direkten Auseinandersetzung mit deren überlieferten Problemstellungen, sondern zur Bearbeitung seines Problems: einer Kapitalismuskritik (Giddens 1971a:20). In einer ähnlichen Weise verfährt er später mit den Begriffen und Theorien der englischen Nationalökonomie, v. a. mit Smith und Ricardo.

Marx divergiert von Feuerbach nicht nur im Hinblick auf die empirische Problemstellung. Er zerstört auch mit Feuerbachs Anthropologie das darin verankerte Naturrecht. Was Recht ist, kann sich demnach nur noch aus dem historischen Prozess materieller Praxis hervorarbeiten. Es ergibt sich als das jeweilige Resultat materiell gewordener Kritik. Diesen grundsätzlichen Irrtum, Marx (ÖPM) als Anthropologen zu missdeuten, begeht nicht nur die Marx-Rezeption der Frankfurter Schule und der Ordoliberalen, sondern auch die von Soziologen wie Krysmanski (1971a) und Dreitzel (1972a). Letztere lesen Marx, als sei er ein Vorgänger von Gehlen (1956a). Alle genannten Autoren verkennen den spezifisch marxschen Ausgangspunkt: der wirkliche Mensch in der historischen Entscheidungssituation des sich entwickelnden Kapitalismus. Politik kann demzufolge nicht von den universell gültigen Sätzen einer bestimmten Anthropologie ausgehen, sondern muss ausgehen von dem jeweils historisch vorfindbaren ensemble gesellschaftlicher Beziehungen, die Leben konkret gestalten und im Leben gestaltet werden.

Die Pointe marxscher Kritik an bürgerlicher Wissenschaft liegt gerade darin, dass er dieser immer wieder vorwirft, schon durch die Formulierung ihrer Ausgangsprobleme die besonderen historischen Bedingungen des Kapitalismus als universell-gültige der ganzen Menschheitsgeschichte, d.h. der bisherigen und der kommenden, zu präjudizieren. Wenn Popper diese Kritik als "popperizistisch" zurückweisen zu können glaubt, zeigt er damit nur, wie wenig er deren Angriffspunkt überhaupt erfasst hat. Denn die historischen und kulturellen Fakten sind alle auf der Seite Marxens. Nur die ethnozentrische Blickverengung erlaubt es den bürgerlichen Theoretikern zu konstruieren, als ob die historischen Bedingungen des Kapitalismus zugleich die natürlichen und ewig gültigen Voraussetzungen sozialen Handelns seien.

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