Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Die Anarchie der philosophischen Systeme

Ohne Chaos keine Erkenntnis (Feyerabend 1976a:250). „Chaos[1]) setzt den Begriff der „Ord­nung“ voraus, worauf Schelling (5) aufmerksam macht. Wir können auch schon psy­chisch nicht anders, als immer wieder uns neu zu orientieren, wenn Unordnung pro­du­ziert wurde:

“the increased disorientation prompts new efforts at conceptual mapping.” (Gouldner 1971a:83)

Wie Popper (1994b: 313) in seiner Kritik an Wittgenstein hervorhob, führt die Annahme ei­ner unverbundenen Welt atomarer Sachverhalte für ein nomologisches Erkenntnisinteresse zu ab­sur­den Konsequenzen. Derlei Beispiele dürften klar machen: Es kann stets nur darum gehen, ei­ne brauchbare Synthese zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Anarchie und Selbstre­gu­lie­rung anzugeben.

„Choice is inherent in chaos. Even in a random set, some things will happen mo­re than others; some things will become prominent.” (Phillips 1994a)

Spätestens an dieser Stelle hier erscheinen mir unter diesem Gesichtspunkt eini­ge Gedanken zum prinzipiellen Verhältnis philosophischer Systeme untereinander angebracht, welches Pro­blem oft unter dem Titel„Anarchie der philosophischen Sy­steme“ abgehandelt wurde:

„in der Philosophie aber erlebten wir das Schauspiel (das auf Menschen wis­sen­schaftlicher Gesinnung niederdrückend wirken muss), dass nacheinander und nebeneinander eine Vielzahl philosophischer Systeme errichtet wurde, die mit­einander unvereinbar sind.“ (Carnap 1998a:XIV).

Die Anarchie der philosophischen Systeme hat indessen bereits Kröner (1970a) als eine nur scheinbare erwiesen. Denn dieselbe wird durch die besondere Betrach­tungsweise der Syste­ma­to­logie in einen Kosmos verwandelt. Systematologisch be­trachtet, weist die philosophische Ent­wicklung eine feststellbare, theoretisch be­schreibbare Ordnung auf. Die Geschichte der Phi­lo­sophie, diese „3000-year-old- conversation“ (Rosenberg 1990a), ist dement­spre­chend durch sy­ste­matologische Ei­genschaften gekennzeichnet, die uns gleichermaßen als kenn­zeichnende Cha­rakte­ristika von „Philosophie“ dienen können. Philosophie ist somit alles, was dieser Ord­­nung in der Unordnung angehört.

1. Es gibt nur eine Philosophie, jedoch in historisch bedingt unterschiedlicher Ei­gen­tüm­lich­keit.

2. Philosophische Systeme weisen eine antinomische Grundstruktur [2]) auf:
Die Anatomie der Philosophie sind ihre Antinomien.

3. Kein einzelnes philosophisches System kann alles umfassen bzw. alle Pro­bleme lösen.

4. Philosophie wird am wirksamsten durch Philosophie kritisiert.

5. Jeder Geschichte philosophischen Denkens liegt mindestens 1 Antinomie zu­grunde.

Diese Bestimmungen wurden vor allem auch durch Hegels Leistung freigelegt und sind daher auch insbesondere für die Beurteilung seines Systementwurfs von nicht zu unterschätzender Be­deutung. Es tritt hier auch klar zutage, dass die an­dauernde Aktualität Hegels vorrangig in der Bewältigung und Verarbeitung der Ge­schichte der Philosophie gründet (Windelband 1976a: 526ff). Jede einzelne Philo­so­phie ist die einzigartige Verwirklichung der Philosophie:

„Das wahre Eigentümliche einer Philosophie ist die interessante Individualität, in welcher die Vernunft aus dem Bauzeug eines besondern Zeitalters sich eine Gestalt organisiert hat; die besondre spekulative Vernunft findet darin Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch; sie schaut sich in ihm als ein und das­sel­be und als ein anderes lebendiges Wesen an. Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich.“(Hegel 1962a: 12)

Die einfachste Lösung des Problems der Anarchie der Philosophie bestünde frei­lich darin, dass sich eine bestimmte Philosophie als die einzig wahre und allumfas­sen­de nachweisen oder wenigstens plausibel machen ließe. So war Reinhold okku­piert von der Idee einer in sich selbst einsichtigen, weder eines Beweises fähigen noch einer Begründung bedürftigen Ele­men­tar- und Fundamentalphilosophie, die auf eine ganz neue Weise Logik und Metaphysik, Denk- und We­senslehre zugleich sein sollte (Klemmt 1961a:98).

Ganz anders Hegel. Wenn die Philosophie mit der Erkenntnis des Absoluten be­fasst ist, jede einzelne Philosophie eine besondere Form der Erkenntnis des Abso­lu­ten ist, so ist auch jede ein­zelne Philosophie absolute Erkenntnis.

„Wenn aber das Absolute wie seine Erscheinung, die Vernunft ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist, so hat jede Vernunft, die sich auf sich selbst ge­richtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie produziert und sich die Auf­gabe gelöst, welche wie ihre Auflösung zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst er kennt, es nur mit sich zu tun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Tätigkeit, und in Rücksicht aufs innere Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger und Nachgänger.“ (Hegel 1962a:10)

Hegel vollbringt diesen Klimmzug der einen absolut wahren Philosophie allein da­durch, dass er alle und eine Philosophie gleichsetzt. Das Verhältnis von Unendli­chem und Endlichem herrscht damit auch zwi­schen der absoluten Philosophie und den einzelnen, von sterblichen Phi­losophen konstruierten Systemen.

„Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie im Gan­­zen ihres Systems an seine Zeit und seine Stelle setzt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Dies ist auch die höchste Poesie, in der auch das unpoetische, weil es zur rechten Zeit und am rech­ten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hie­zu ist schneller Begriff am nötigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brau­chen, wenn du noch scheu darüber ver­weilst, und nicht weist, wie an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Hei­terkeit, ist Got­tes­freude, dass man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen setzt, wohin es ge­hört; deswe­gen ohne Verstand, oder ein durch und durch organisiertes Gefühl keine Vortrefflichkeit, kein Leben.“ (Hölderlin 3:244)

Da er mit diesem grundlegenden Schachzug alle Philosophien, auch die seiner Kri­ti­ker und al­les, was noch nach seinem Tode wird kommen können, in sein Sy­stem (zumindest auf diese ab­strak­te Weise) integriert sieht, hat er damit scheinbar bereits alle bestehende und künftige Kri­tik dar­in „verdaut“. Deswegen ist Hegel aber noch kein philosophisches Wundertier oder Mon­ster. Er vollzieht auf eine viel­leicht etwas undurchsichtigere, so man will anspruchsvollere Weise das­selbe Ma­nö­ver, welches einem Popperianer spätestens dann als letztes einfällt, wenn er nichts mehr hat, seine Position zu retten: Bin ich nicht Falli­bilist, sage ich nicht im­mer, dass Irren menschlich ist?! So ersäuft denn auch Hegel alles Wissen und Nicht­wissen wie eine Kat­ze, der man den Strick um den Hals gehängt hat, in dem Ozean des Absoluten.

Für einen Allwissenden sind eigentlich aber keine theoretischen Begriffe mehr not­wendig (vor­ausset­zungs­gemäß weiß er ja alles, daher schon jedes Einzelne!). Dass wir alles wis­sen, ist aber eine schon im Denken schwer vollziehbare, mit­nich­ten aber eine reale Voraus­set­zung - dies geben mittlerweile sogar schon viele neoklassische Ökonomen zu! Wir wollen da­her das Absolute lie­ber wieder zur Sei­te legen und uns in gewohnter Weise auf der irdischen Er­de unter un­se­ren sterbli­chen Zeitgenossen bewegen, wofür wir uns als Nicht-Theologen ja im Allge­mei­nen am meisten erwärmen und wofür wir auch im Übrigen, wie uns die Evoluti­ons­the­oretiker be­rich­ten, am zweckmäßigsten ausgestattet sind. In Anbetracht unserer be­­­messenen Kräf­te dür­fen wir in dieser unserer Biosphäre dann getrost die Annah­me zugrunde legen:

Ein einzelnes absolutes System ist aus sachlichen Gründen undurchführbar und un­möglich.

Kröner (1970a:10ff) weist dies an unterschiedlichen Typen von Philosophien im Einzelnen nach:

a) die naiv-absolutistischen Philosophien: Sie erklären sich schlicht allein für wahr und al­le anderen für falsch. Es wird dann möglich, von einem solchen System aus in bestimm­ter Weise den „Fehler“ anzugeben, den eine andere Philosophie gemacht hat. Natürlich ist ein solcher „Fehler“ ganz und gar re­lativ, wird in ihm doch einfach der Punkt getrof­fen, worin sich das kritisierte System vom an­geblich absoluten unterscheidet. Des einen Vernunft ist des andern Wahnsinn (Feyerabend 1975a:305).

b) Integration des Kritikers: Man kann versuchen, mit widerstreitenden Auffas­sungen da­durch fertig zu werden, dass man sie auf einer untergeordneten Ebe­ne als berechtigt an­er­kennt. Damit werden sie auf dieser Ebene in das ei­gene System integriert. Diese Strate­gie läuft aber letztendlich darauf hin­aus, dass man den Zwist mit dem Nachbarn nur eben dadurch loswird, indem ihn ins eigene Haus [3]) trägt.

c) Konvergenz-These: Es wird unterstellt, dass sich innerhalb der Entwicklung der Philo­so­phie lang­fristig eine Konvergenz der bislang divergenten Ansich­ten sich herausbildet. So wie es jedoch sach­lich unmöglich ist, dass sich zwei bestimmte Philosophien in allen Punk­ten wi­dersprechen, so ist es im­mer möglich, auch Gemeinsamkeiten beider aufzu­finden. Ein Ent­wick­lungs­trend lässt sich da­durch nicht begründen, vielmehr das Gegen­teil.

d) Perspektivismus: Jede Philosophie stelle gewissermaßen eine Perspektive des Wahren dar. Die ver­schiedenen Philosophien werden dabei auf eine nur formale Weise zur Ein­heit ge­bracht. Die Beziehungen der Systeme zueinan­der sind jedoch nicht nur solche ei­nes bloß äußer­lichen Unterschieds, eines Neben- oder Außereinanders, sondern auch ei­nes Gegen- und In­ein­anders. Durch den Aspektbegriff allein sind solche Beziehungen nicht zu fassen.




[1]) "... ein Chaos ohne alle Einheit und Ordnung: Es geht alles durcheinander wie Mäuse­dreck und Koriander." (Hegel Aufsätze:45)

[2]) "Wenn auch die höchste philosophische Erscheinung der letzten Zeit die fixe Polarität des Innerhalb und Au­ßerhalb, Diesseits und Jenseits nicht so weit überwunden hat, dass nicht eine an­dere Philosophie, mit der man sich im Wissen dem Absoluten nur nähert, und eine andere, die im Absoluten selbst ist (gesetzt, die letztere wer­de auch nur unter dem Titel des Glau­bens statuiert), als entgegengesetzte zurückblieben, und wenn auf diese Art dem Gegensatze des Dualismus seine höch­ste Abstraktion gegeben und die Philosophie damit nicht aus der Sphä­re unserer Reflexions­kul­tur herausgeführt worden ist, so ist schon die Form der höchsten Abstraktion des Ge­gen­satzes von der größten Wichtigkeit und von diesem schärfsten Ex­trem der Übergang zur echten Philo­so­phie um so leichter, weil die Idee des Absoluten, die aufgestellt wird, eigentlich selbst schon den Ge­­gensatz, den die Form einer Idee, eines Sollens, einer unendlichen Forderung mit sich führt, ver­­wirft. Es ist nicht zu überse­hen, wie sehr durch die mannigfaltige Bearbeitung, welche der Ge­gen­satz überhaupt, den jede Philosophie überwinden will, dadurch erfahren hat, dass gegen eine Form desselben, in der er in einer Philosophie herrschend war, sich eine folgende Philosophie rich­tete und sie überwand, wenn sie schon bewusstlos wieder in eine andere Form desselben zu­rück­fiel, das Studium der Philosophie überhaupt gewonnen hat, zugleich aber, in welcher Mannig­faltig­keit der Formen sie sich herumzuwerfen fähig ist." (Hegel Aufsätze:18)

[3]) Diese Beschreibung kennzeichnet m.E. die Problemsituation des Marxismus gut, dessen Vor- wie Nachteile gerade auf seiner Hybridisierung teilweise divergierender Theorien beruhen. Die­se Integration erweist sich prak­tisch immer nur fallweise als auf Zeit geglückt vollzogen. Kon­sistenz wurde meist nur durch Dogmatisierung ei­ner ausgewählten Problemlösung hergestellt, ging aber dann regelmäßig zulasten einer fruchtbaren Weiter­entwick­lung derselben. Im Vergleich zur historischen Wirklichkeit ist die Rekonstruktion von Burawoy (1990a) (à la Lakatos) schon eine Über­zeichnung in Richtung einer law and order-Darstellung.

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