Ohne Chaos keine Erkenntnis (Feyerabend 1976a:250). „Chaos“ [1]) setzt den Begriff der „Ordnung“ voraus, worauf Schelling (5) aufmerksam macht. Wir können auch schon psychisch nicht anders, als immer wieder uns neu zu orientieren, wenn Unordnung produziert wurde:
“the increased disorientation prompts new efforts at conceptual mapping.” (Gouldner 1971a:83)
Wie Popper (1994b: 313) in seiner Kritik an Wittgenstein hervorhob, führt die Annahme einer unverbundenen Welt atomarer Sachverhalte für ein nomologisches Erkenntnisinteresse zu absurden Konsequenzen. Derlei Beispiele dürften klar machen: Es kann stets nur darum gehen, eine brauchbare Synthese zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Anarchie und Selbstregulierung anzugeben.
„Choice is inherent in chaos. Even in a random set, some things will happen more than others; some things will become prominent.” (Phillips 1994a)
Spätestens an dieser Stelle hier erscheinen mir unter diesem Gesichtspunkt einige Gedanken zum prinzipiellen Verhältnis philosophischer Systeme untereinander angebracht, welches Problem oft unter dem Titel„Anarchie der philosophischen Systeme“ abgehandelt wurde:
„in der Philosophie aber erlebten wir das Schauspiel (das auf Menschen wissenschaftlicher Gesinnung niederdrückend wirken muss), dass nacheinander und nebeneinander eine Vielzahl philosophischer Systeme errichtet wurde, die miteinander unvereinbar sind.“ (Carnap 1998a:XIV).
Die Anarchie der philosophischen Systeme hat indessen bereits Kröner (1970a) als eine nur scheinbare erwiesen. Denn dieselbe wird durch die besondere Betrachtungsweise der Systematologie in einen Kosmos verwandelt. Systematologisch betrachtet, weist die philosophische Entwicklung eine feststellbare, theoretisch beschreibbare Ordnung auf. Die Geschichte der Philosophie, diese „3000-year-old- conversation“ (Rosenberg 1990a), ist dementsprechend durch systematologische Eigenschaften gekennzeichnet, die uns gleichermaßen als kennzeichnende Charakteristika von „Philosophie“ dienen können. Philosophie ist somit alles, was dieser Ordnung in der Unordnung angehört.
1. Es gibt nur eine Philosophie, jedoch in historisch bedingt unterschiedlicher Eigentümlichkeit.
2. Philosophische Systeme weisen eine antinomische Grundstruktur [2]) auf:
Die Anatomie der Philosophie sind ihre Antinomien.
3. Kein einzelnes philosophisches System kann alles umfassen bzw. alle Probleme lösen.
4. Philosophie wird am wirksamsten durch Philosophie kritisiert.
5. Jeder Geschichte philosophischen Denkens liegt mindestens 1 Antinomie zugrunde.
Diese Bestimmungen wurden vor allem auch durch Hegels Leistung freigelegt und sind daher auch insbesondere für die Beurteilung seines Systementwurfs von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es tritt hier auch klar zutage, dass die andauernde Aktualität Hegels vorrangig in der Bewältigung und Verarbeitung der Geschichte der Philosophie gründet (Windelband 1976a: 526ff). Jede einzelne Philosophie ist die einzigartige Verwirklichung der Philosophie:
„Das wahre Eigentümliche einer Philosophie ist die interessante Individualität, in welcher die Vernunft aus dem Bauzeug eines besondern Zeitalters sich eine Gestalt organisiert hat; die besondre spekulative Vernunft findet darin Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch; sie schaut sich in ihm als ein und dasselbe und als ein anderes lebendiges Wesen an. Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich.“(Hegel 1962a: 12)
Die einfachste Lösung des Problems der Anarchie der Philosophie bestünde freilich darin, dass sich eine bestimmte Philosophie als die einzig wahre und allumfassende nachweisen oder wenigstens plausibel machen ließe. So war Reinhold okkupiert von der Idee einer in sich selbst einsichtigen, weder eines Beweises fähigen noch einer Begründung bedürftigen Elementar- und Fundamentalphilosophie, die auf eine ganz neue Weise Logik und Metaphysik, Denk- und Wesenslehre zugleich sein sollte (Klemmt 1961a:98).
Ganz anders Hegel. Wenn die Philosophie mit der Erkenntnis des Absoluten befasst ist, jede einzelne Philosophie eine besondere Form der Erkenntnis des Absoluten ist, so ist auch jede einzelne Philosophie absolute Erkenntnis.
„Wenn aber das Absolute wie seine Erscheinung, die Vernunft ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist, so hat jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie produziert und sich die Aufgabe gelöst, welche wie ihre Auflösung zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst er kennt, es nur mit sich zu tun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Tätigkeit, und in Rücksicht aufs innere Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger und Nachgänger.“ (Hegel 1962a:10)
Hegel vollbringt diesen Klimmzug der einen absolut wahren Philosophie allein dadurch, dass er alle und eine Philosophie gleichsetzt. Das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem herrscht damit auch zwischen der absoluten Philosophie und den einzelnen, von sterblichen Philosophen konstruierten Systemen.
„Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie
Da er mit diesem grundlegenden Schachzug alle Philosophien, auch die seiner Kritiker und alles, was noch nach seinem Tode wird kommen können, in sein System (zumindest auf diese abstrakte Weise) integriert sieht, hat er damit scheinbar bereits alle bestehende und künftige Kritik darin „verdaut“. Deswegen ist Hegel aber noch kein philosophisches Wundertier oder Monster. Er vollzieht auf eine vielleicht etwas undurchsichtigere, so man will anspruchsvollere Weise dasselbe Manöver, welches einem Popperianer spätestens dann als letztes einfällt, wenn er nichts mehr hat, seine Position zu retten: Bin ich nicht Fallibilist, sage ich nicht immer, dass Irren menschlich ist?! So ersäuft denn auch Hegel alles Wissen und Nichtwissen wie eine Katze, der man den Strick um den Hals gehängt hat, in dem Ozean des Absoluten.
Für einen Allwissenden sind eigentlich aber keine theoretischen Begriffe mehr notwendig (voraussetzungsgemäß weiß er ja alles, daher schon jedes Einzelne!). Dass wir alles wissen, ist aber eine schon im Denken schwer vollziehbare, mitnichten aber eine reale Voraussetzung - dies geben mittlerweile sogar schon viele neoklassische Ökonomen zu! Wir wollen daher das Absolute lieber wieder zur Seite legen und uns in gewohnter Weise auf der irdischen Erde unter unseren sterblichen Zeitgenossen bewegen, wofür wir uns als Nicht-Theologen ja im Allgemeinen am meisten erwärmen und wofür wir auch im Übrigen, wie uns die Evolutionstheoretiker berichten, am zweckmäßigsten ausgestattet sind. In Anbetracht unserer bemessenen Kräfte dürfen wir in dieser unserer Biosphäre dann getrost die Annahme zugrunde legen:
Ein einzelnes absolutes System ist aus sachlichen Gründen undurchführbar und unmöglich.
Kröner (1970a:10ff) weist dies an unterschiedlichen Typen von Philosophien im Einzelnen nach:
a) die naiv-absolutistischen Philosophien: Sie erklären sich schlicht allein für wahr und alle anderen für falsch. Es wird dann möglich, von einem solchen System aus in bestimmter Weise den „Fehler“ anzugeben, den eine andere Philosophie gemacht hat. Natürlich ist ein solcher „Fehler“ ganz und gar relativ, wird in ihm doch einfach der Punkt getroffen, worin sich das kritisierte System vom angeblich absoluten unterscheidet. Des einen Vernunft ist des andern Wahnsinn (Feyerabend 1975a:305).
b) Integration des Kritikers: Man kann versuchen, mit widerstreitenden Auffassungen dadurch fertig zu werden, dass man sie auf einer untergeordneten Ebene als berechtigt anerkennt. Damit werden sie auf dieser Ebene in das eigene System integriert. Diese Strategie läuft aber letztendlich darauf hinaus, dass man den Zwist mit dem Nachbarn nur eben dadurch loswird, indem ihn ins eigene Haus [3]) trägt.
c) Konvergenz-These: Es wird unterstellt, dass sich innerhalb der Entwicklung der Philosophie langfristig eine Konvergenz der bislang divergenten Ansichten sich herausbildet. So wie es jedoch sachlich unmöglich ist, dass sich zwei bestimmte Philosophien in allen Punkten widersprechen, so ist es immer möglich, auch Gemeinsamkeiten beider aufzufinden. Ein Entwicklungstrend lässt sich dadurch nicht begründen, vielmehr das Gegenteil.
d) Perspektivismus: Jede Philosophie stelle gewissermaßen eine Perspektive des Wahren dar. Die verschiedenen Philosophien werden dabei auf eine nur formale Weise zur Einheit gebracht. Die Beziehungen der Systeme zueinander sind jedoch nicht nur solche eines bloß äußerlichen Unterschieds, eines Neben- oder Außereinanders, sondern auch eines Gegen- und Ineinanders. Durch den Aspektbegriff allein sind solche Beziehungen nicht zu fassen.
[1]) "... ein Chaos ohne alle Einheit und Ordnung: Es geht alles durcheinander wie Mäusedreck und Koriander." (Hegel Aufsätze:45)
[2]) "Wenn auch die höchste philosophische Erscheinung der letzten Zeit die fixe Polarität des Innerhalb und Außerhalb, Diesseits und Jenseits nicht so weit überwunden hat, dass nicht eine andere Philosophie, mit der man sich im Wissen dem Absoluten nur nähert, und eine andere, die im Absoluten selbst ist (gesetzt, die letztere werde auch nur unter dem Titel des Glaubens statuiert), als entgegengesetzte zurückblieben, und wenn auf diese Art dem Gegensatze des Dualismus seine höchste Abstraktion gegeben und die Philosophie damit nicht aus der Sphäre unserer Reflexionskultur herausgeführt worden ist, so ist schon die Form der höchsten Abstraktion des Gegensatzes von der größten Wichtigkeit und von diesem schärfsten Extrem der Übergang zur echten Philosophie um so leichter, weil die Idee des Absoluten, die aufgestellt wird, eigentlich selbst schon den Gegensatz, den die Form einer Idee, eines Sollens, einer unendlichen Forderung mit sich führt, verwirft. Es ist nicht zu übersehen, wie sehr durch die mannigfaltige Bearbeitung, welche der Gegensatz überhaupt, den jede Philosophie überwinden will, dadurch erfahren hat, dass gegen eine Form desselben, in der er in einer Philosophie herrschend war, sich eine folgende Philosophie richtete und sie überwand, wenn sie schon bewusstlos wieder in eine andere Form desselben zurückfiel, das Studium der Philosophie überhaupt gewonnen hat, zugleich aber, in welcher Mannigfaltigkeit der Formen sie sich herumzuwerfen fähig ist." (Hegel Aufsätze:18)
[3]) Diese Beschreibung kennzeichnet m.E. die Problemsituation des Marxismus gut, dessen Vor- wie Nachteile gerade auf seiner Hybridisierung teilweise divergierender Theorien beruhen. Diese Integration erweist sich praktisch immer nur fallweise als auf Zeit geglückt vollzogen. Konsistenz wurde meist nur durch Dogmatisierung einer ausgewählten Problemlösung hergestellt, ging aber dann regelmäßig zulasten einer fruchtbaren Weiterentwicklung derselben. Im Vergleich zur historischen Wirklichkeit ist die Rekonstruktion von Burawoy (1990a) (à la Lakatos) schon eine Überzeichnung in Richtung einer law and order-Darstellung.
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