Was aber, wenn Politiker nicht mehr auf den „Sachverstand" [1]) der Ökonomen hören? - Vielleicht stehen aber die Sachverständigen dem Objekt ihres Sachverstands einfach zu nahe, um noch den notwendigen distanzierten Überblick zu besitzen. Wer die Erde für eine Scheibe hält, wird nie nach Indien segeln, um dann wenigstens nach Amerika zu gelangen. Wie aber die Menschheit angeblich viele Erfindungen dem Krieg verdankt, so kann jedoch auch Scholastizismus ungeplante Erkenntnisfrüchte tragen, z. B. die Entwicklung formaler Methoden.
Diese ökonomische Logik dient in der gleichen Funktionsbündelung wie beim Naturrecht auch dazu, nicht nur anthropologische Grundannahmen für Wirtschaft und Gesellschaft festzuschreiben, sondern auch ein normatives Referenzmodell zu etablieren. Wie Dobb schon 1949 feststellte, begann die herrschende Lehre nur sehr ungern das Bild des ökonomischen Gleichgewichts aufzugeben:
„Es war ein Ergebnis dieser Versuche, dass man die Ausgangsbasis, auf der die ökonomische Theorie im 19. Jahrhundert als eine sorgfältig ausgearbeitete Apologetik des Kapitalismus beruht hatte, verließ und preisgab; damals war der Kapitalismus als ein sich selbst regulierender Mechanismus dargestellt worden, der - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die bestmögliche Verteilung der Produktionsmittel auf die vielfältigen Verwendungszwecke gewährleiste. Wo der Wettbewerb unvollkommen ist oder Monopolisierung stattfindet, gilt jedoch keine der Gleichgewichtspositionen mehr, von denen in der traditionellen Lehre die Rede ist." (Dobb 1973a:20)
Es sind sowohl große wirtschaftliche Schwankungen möglich, so dass niemals ein Gleichgewicht erreicht wird; es wird auch zu erwarten sein, dass ein Zustand chronisch unausgenutzter Ressourcen auftritt. Das neoklassische Modelldenken erfüllt aber in der politischen Praxis seinen Zweck als eine reifizierte Schablone, um ökonomische Realität wie politische Interventionen abzuurteilen.
„Does anyone believe that investing in yet another fast food franchise is more important to the country than investing in Head Start, or job training, or decent housing for low-income people? Yet the economic policy that we are following is based on that kind of value judgment." (Faux 1998a)
Die Vorstellung, es existiere ein ökonomisches Systemmodell, das sich durch eine immanente Rationalität auszeichne (Albert 1976a:83), darf damit als ein grundlegender Bestandteil des Dogmenschatzes der Neoklassik gelten, auf den das Verdikt der Ideologie-Kritik völlig zutrifft:
„So haben wir es bis zur Gegenwart häufig mit Soziallehren zu tun, in denen Handlungsanweisungen und Werturteile im Gewande von Aussagen über objektive Tatsachen auftreten und Aussagen über die empirische Realität den Anspruch auf den Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis erheben, ohne das Risiko der Widerlegung auf sich zu nehmen, das bei der Erwerbung von Informationen unumgänglich ist. Diese Theorien - oder Pseudotheorien - wollen absolute Wertbegründung, Unwiderlegbarkeit und wissenschaftliche Wahrheit in sich vereinigen." (Topitsch 1967b:24)
Dabei kritisiert Albert (1954a) zu Recht, dass sich mit z. B. Lange und in mancher Hinsicht auch Schumpeter ohne jede Not sozialistisch orientierte Ökonomen auf dieses fachlich stark verankerte, sachlich jedoch äußerst fragwürdige Dogma als Voraussetzung des Vergleichs von unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen in der Debatte mit Mises und Hayek eingelassen [2]) haben. Mises (1945a) hatte bekanntlich behauptet, ein sozialistisches Wirtschaftssystem sei rational nicht möglich, weil rationales Wirtschaften die Verwirklichung des neoklassischen Marktmodells voraussetze. Lange versuchte demgegenüber nachzuweisen, dass genau diese ökonomische Rationalität auch in einer Planwirtschaft realisiert werden könne. Dabei akzeptierte er indes als Kriterium ökonomischer Rationalität unbesehen gerade das Modell seines Kontrahenten. Albert kritisierte zu recht, wie Dobb (1973a) schon 1939, dass diese Modelldiskussion politisch wie organisatorisch kaum relevant im Hinblick auf die Entscheidung einer etwaigen ordnungspolitischen Option sei. Während Dobb für das primäre Zielstellung des Aufbaus einer sozialistischen Wirtschaft die Schaffung der erforderlichen Produktionsgrundlagen sieht und daher die Regelung des Konsummarktes für zweitrangig hält, weist Albert darauf hin, dass in dieser Diskussion die Rationalität des neoklassischen Modells unbefragt als normatives Referenzmodell unterstellt werde, obwohl es doch darum gehen müsste, reale institutionelle Alternativen aufgrund nomologischen Wissens zu beurteilen. Noch im Jahre 1968 liefert Napoleoni (1968a:12) eine Wiederholung dieses Beispiels.[3]) Er leitet aus der walrasschen Theorie des allgemeinen Gleichgewichts und dessen so verstandenen Preisbegriff nach Lösung der damit verbundenen Rechenprobleme die Möglichkeit einer rationalen Wirtschaftsplanung ab. Dieser Planifikationsansatz wurde dann von Barone (1908a) weitergeführt. Napoleonis Denkansatz zeigt deutlich, dass auch er die modell-platonistischen Errungenschaften samt der Methode der neoklassischen Ökonomie voll übernommen hat: Er möchte die Möglichkeit alternativer Wirtschaftsordnungen am logischen Modell im sozialen Vakuum demonstrieren.
„Die Eigentümlichkeiten der Gleichgewichtsökonomik sind zum Teil daraus zu verstehen, dass sie gleichzeitig mit der Entscheidung über die richtige Mittelverwendung auch die Erklärung der tatsächlichen Zusammenhänge ermöglichen wollte. Diese miteinander unvereinbaren Zielsetzungen führten zu
1. zu inneren Widersprüchen der Theorie;
2. zur Nichtberücksichtigung realer Gegebenheiten in ihr,
3. zur Entleerung und Formalisierung ihres Begriffsapparates."
(Albert 1954a:142f)
Die Gestaltungsfähigkeit einer Wirtschaftsordnung ist jedoch ein prinzipielles Problem von Institutionalisierbarkeit und entsprechendem nomologischen und technischen Wissen; dazu eines der politischen Wünschbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Das sind alles Probleme, die sich dem der Neoklassik verhafteten Denken gar nicht stellen oder sich nur subkutan bemerkbar machen.
So verwundert es eigentlich nicht, dass schließlich auch mal nach dem Grenznutzen der Grenznutzentheorie gefragt wird.[4])
Wenn aber Eggertson (1990a:4) dennoch von „valuable insights" spricht, welche die neoklassische Mikroökonomie erlangt habe, so fragt sich ein unvoreingenommener Betrachter, worin diese angesichts der heroischen Annahmen derselben denn wohl bestehen mögen - abgesehen von der grundlegenden Einsicht, dass das Ende eines Holzweges erreicht zu haben stets mit einer gewissen Erkenntnis verbunden zu sein pflegt. Dass ein solcher Euphemismus eine durchwachsene ökonomische Tradition aufweist, zeigt Alberts Kritik an Stackelberg (1947a).[5])
[1]) Unter der Überschrift „Misstrauen" kommentiert Hardt im „Trierischen Volksfreund" vom 28.01.1999 wie folgt: „Doch der Anspruch, den Oskar Lafontaine in seinem ersten Jahreswirtschaftsbericht setzt, zeugt von gehörigem Selbstbewusstsein: Neue Wege zu mehr Beschäftigung, so der Titel. Nun mögen die Daten, die sich in dem Papier finden, den Anspruch nicht einlösen, das Wachstum lahmt, die Beschäftigung steigt nur langsam. Wichtiger aber sind die Zwischentöne. Da wird der Wille spürbar, mit den Mitteln der Politik Gesellschaft und Wirtschaft zu gestalten. Denn das ist der Kern des Feldversuchs, den der Finanzminister entgegen der ökonomischen Mehrheitsmeinung startet: Die Politik soll im Zeitalter der Globalisierung nicht nur Handlanger kaum mehr kontrollierbarer ökonomischer Interessen sein. Vielmehr soll die Wirtschaft wieder in den Dienst einer Politik gestellt werden, deren vorrangiges Ziel soziale Gerechtigkeit ist." Zur Person siehe "Der Fall Lafontaine. Ein Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden a. D. darüber, wie er die Welt sieht." Von Gunter Hofmann. DIE ZEIT 41/1999,
[2]) Dies gäbe m.E. ein gutes historisches Beispiel ab für eine wissenschaftssoziologische Untersuchung zum Thema: Konsenstheorie der Wahrheit im Entwicklungsprozess von Wissenschaften. Zumindest für die Wirtschaftswissenschaften scheint sich historisch erwiesen zu haben, dass Konsens nicht immer Wahrheit verbürgt, woran Niehans (1989a) indessen festzuhalten bereit scheint.
[3]) wenn er von der walrasschen Grenzrate der Substitution (der Nutzengleichheit von Gütern) sagt: „Bisweilen kommt es vor, dass - entsprechend dem vom Konkurrenzmechanismus hervorgerufenen Gleichgewichtszustand - bei zwei gegebenen Gütern ihre Grenzrate der Substitution im Konsum gleich wird und der gemeinsame Wert dieser beiden Größen mit dem Preis zusammenfällt, der sich auf dem Wettbewerbsmarkt herstellt. Solche ‘Gleichgewichtspreise’ bilden einen Maßstab für die technische und psychologische ‘Gleichwertigkeit’ der in der Wirtschaft vorhandenen Güter. Die Bedeutung dieses Begriffs liegt darin, dass er, im Gegensatz zum Begriff des Gemeinsinns, nicht notwendig auf dem Prinzip des Tauschs beruht. Insoweit die Ausgangsmengen der produktiven Ressourcen, die Bedingungen und die Konsumentenpräferenzen bekannt und gegeben sind, ist der Preis, zumindest theoretisch, als Verhältnis zwischen technologischer und psychologischer Gleichwertigkeit bestimmbar, unter Absehung von dem effektiven Tauschakt auf dem Markt."
[4]) "... maybe the discipline has come down with nothing more complicated than a bad case of diminishing returns" (The Economist)
[5]) „Ebenso wenig ist allerdings die Ansicht Stackelbergs ... verständlich, die Werttheorie habe in dem Augenblick, in dem sie zugegebenermaßen nichts mehr erklärt, ‘ihre Leistungsfähigkeit ... auf den denkbar höchsten Stand gebracht’. Worin denn eigentlich diese Leistung besteht, bleibt das Geheimnis der Wahlhandlungstheoretiker." (Albert 1954a:137, Anm.137)
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