Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Das Gleichgewicht der Ökonomen

Was aber, wenn Politiker nicht mehr auf den „Sachverstand" [1]) der Ökonomen hören? - Viel­leicht stehen aber die Sachverständigen dem Objekt ihres Sachver­stands einfach zu nahe, um noch den not­wen­digen distanzierten Überblick zu be­sitzen. Wer die Erde für eine Scheibe hält, wird nie nach Indien segeln, um dann wenigstens nach Amerika zu gelangen. Wie aber die Menschheit angeblich viele Er­fin­dungen dem Krieg verdankt, so kann jedoch auch Schola­sti­zis­mus ungeplante Erkenntnisfrüchte tra­gen, z. B. die Entwicklung formaler Methoden.

Diese ökonomische Logik dient in der gleichen Funktionsbündelung wie beim Naturrecht auch da­zu, nicht nur anthropologische Grundannahmen für Wirtschaft und Gesellschaft fest­zu­schreiben, son­dern auch ein normatives Referenzmodell zu etablieren. Wie Dobb schon 1949 fest­stellte, be­gann die herrschende Lehre nur sehr ungern das Bild des ökonomi­schen Gleichge­wichts aufzu­ge­ben:

„Es war ein Ergebnis dieser Versuche, dass man die Ausgangsbasis, auf der die ökonomische Theorie im 19. Jahrhundert als eine sorgfältig ausgearbeitete Apo­lo­getik des Kapitalismus be­ruht hatte, verließ und preisgab; damals war der Ka­pi­talismus als ein sich selbst regulierender Me­chanismus dargestellt worden, der - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die best­mög­li­che Verteilung der Pro­duktionsmittel auf die vielfältigen Verwendungszwecke gewährleiste. Wo der Wettbewerb unvollkommen ist oder Monopolisierung stattfindet, gilt je­doch keine der Gleichgewichtspositionen mehr, von denen in der traditionellen Lehre die Rede ist." (Dobb 1973a:20)

Es sind sowohl große wirtschaftliche Schwankungen möglich, so dass niemals ein Gleichge­wicht er­reicht wird; es wird auch zu erwarten sein, dass ein Zustand chronisch unausgenutzter Ressourcen auf­tritt. Das neoklassische Modelldenken er­füllt aber in der politischen Praxis sei­nen Zweck als eine rei­fi­zierte Schablone, um ökonomische Realität wie politische Interventi­o­nen abzuurteilen.

„Does anyone believe that investing in yet another fast food franchise is more important to the country than investing in Head Start, or job training, or decent housing for low-income people? Yet the economic policy that we are following is based on that kind of value judgment." (Faux 1998a)

Die Vorstellung, es existiere ein ökonomisches Systemmodell, das sich durch ei­ne immanente Ra­ti­ona­lität auszeichne (Albert 1976a:83), darf damit als ein grundle­gender Bestandteil des Dog­men­schatzes der Neoklassik gelten, auf den das Ver­dikt der Ideologie-Kritik völlig zutrifft:

„So haben wir es bis zur Gegenwart häufig mit Soziallehren zu tun, in denen Hand­lungs­an­wei­sungen und Werturteile im Gewande von Aussagen über ob­jek­tive Tatsachen auftreten und Aussagen über die empirische Realität den An­spruch auf den Charakter wissenschaft­li­cher Erkenntnis erheben, ohne das Ri­si­ko der Widerlegung auf sich zu nehmen, das bei der Er­werbung von Infor­ma­ti­onen unumgänglich ist. Diese Theorien - oder Pseudotheorien - wol­len absolu­te Wertbegründung, Unwiderlegbarkeit und wissenschaftliche Wahrheit in sich vereinigen." (Topitsch 1967b:24)

Da­bei kritisiert Albert (1954a) zu Recht, dass sich mit z. B. Lange und in mancher Hinsicht auch Schum­peter ohne jede Not sozialistisch orientierte Ökonomen auf die­ses fachlich stark ver­ankerte, sachlich jedoch äußerst fragwürdige Dogma als Voraussetzung des Vergleichs von unterschiedlichen Wirt­schaftsordnungen in der Debatte mit Mises und Hayek eingelassen [2]) haben. Mises (1945a) hatte be­kannt­lich behauptet, ein sozialistisches Wirtschaftssystem sei ra­tional nicht möglich, weil rationales Wirtschaften die Verwirklichung des neoklassischen Markt­modells voraussetze. Lange versuchte dem­ge­genüber nachzuweisen, dass genau diese öko­­no­mische Rationalität auch in einer Planwirtschaft re­ali­siert werden könne. Da­bei akzep­tier­te er indes als Kriterium ökonomischer Rationalität unbesehen ge­rade das Modell seines Kon­trahenten. Albert kritisierte zu recht, wie Dobb (1973a) schon 1939, dass diese Modell­dis­kus­sion politisch wie organisatorisch kaum rele­vant im Hinblick auf die Ent­schei­dung einer et­waigen ordnungspolitischen Option sei. Während Dobb für das primäre Zielstellung des Auf­baus einer sozialistischen Wirtschaft die Schaffung der erforderlichen Produktionsgrundlagen sieht und daher die Regelung des Konsummarktes für zweitrangig hält, weist Albert darauf hin, dass in die­ser Diskussion die Rationalität des neoklassischen Modells unbefragt als normatives Referenzmodell un­terstellt werde, obwohl es doch darum gehen müss­te, reale institutionelle Al­ternativen aufgrund no­mo­logischen Wissens zu beurtei­len. Noch im Jahre 1968 liefert Napo­le­oni (1968a:12) eine Wiederholung dieses Beispiels.[3]) Er leitet aus der walrasschen Theorie des allgemeinen Gleichgewichts und dessen so ver­stan­denen Preisbegriff nach Lösung der da­mit verbundenen Re­chenprobleme die Möglichkeit einer ra­tionalen Wirtschaftsplanung ab. Die­ser Pla­nifikationsansatz wurde dann von Barone (1908a) wei­ter­ge­führt. Napoleonis Denk­­an­satz zeigt deutlich, dass auch er die modell-platonistischen Errungen­schaf­ten samt der Me­tho­de der neoklassischen Ökonomie voll übernommen hat: Er möch­te die Möglichkeit alter­na­tiver Wirt­schaftsordnungen am logischen Modell im sozialen Vakuum demon­strieren.

„Die Eigentümlichkeiten der Gleichgewichtsökonomik sind zum Teil daraus zu verstehen, dass sie gleichzeitig mit der Entscheidung über die richtige Mittel­ver­wendung auch die Er­klä­rung der tatsächlichen Zusammenhänge er­mög­li­chen wollte. Diese miteinander unverein­ba­ren Zielsetzungen führten zu
1. zu inneren Widersprüchen der Theorie;
2. zur Nichtberücksichtigung realer Gegebenheiten in ihr,
3. zur Entleerung und Formalisierung ihres Begriffsapparates."

(Albert 1954a:142f)

Die Gestaltungsfähigkeit einer Wirtschaftsordnung ist jedoch ein prinzipielles Pro­blem von In­stitutio­na­li­sier­barkeit und entsprechendem nomologischen und tech­ni­schen Wissen; dazu ei­nes der politi­schen Wünsch­barkeit und Durchsetzungs­fä­hig­keit. Das sind alles Probleme, die sich dem der Neo­klas­sik verhaf­te­ten Denken gar nicht stellen oder sich nur subkutan bemerkbar machen.

So verwundert es eigentlich nicht, dass schließlich auch mal nach dem Grenz­nut­­zen der Grenz­nut­zen­theorie gefragt wird.[4])

Wenn aber Eggertson (1990a:4) dennoch von „valuable insights" spricht, welche die neoklas­s­i­sche Mi­kroökonomie erlangt habe, so fragt sich ein unvoreinge­nom­me­ner Betrachter, worin diese angesichts der heroischen Annahmen derselben denn wohl bestehen mögen - abgesehen von der grundlegenden Einsicht, dass das Ende eines Holzweges erreicht zu haben stets mit ei­ner gewissen Erkenntnis ver­bun­den zu sein pflegt. Dass ein solcher Euphemismus eine durch­wachsene ökono­mische Tradition aufweist, zeigt Alberts Kritik an Stackelberg (1947a).[5])



[1]) Unter der Überschrift „Misstrauen" kommentiert Hardt im „Trierischen Volksfreund" vom 28.01.1999 wie folgt: „Doch der Anspruch, den Oskar Lafontaine in seinem ersten Jahreswirt­schafts­bericht setzt, zeugt von gehörigem Selbstbewusstsein: Neue Wege zu mehr Beschäftigung, so der Titel. Nun mögen die Daten, die sich in dem Papier finden, den Anspruch nicht einlösen, das Wachstum lahmt, die Beschäf­ti­gung steigt nur langsam. Wichtiger aber sind die Zwischentöne. Da wird der Wille spürbar, mit den Mitteln der Politik Gesellschaft und Wirtschaft zu gestalten. Denn das ist der Kern des Feldver­suchs, den der Finanz­mi­nister entgegen der ökonomischen Mehr­heitsmeinung startet: Die Politik soll im Zeitalter der Globali­sie­rung nicht nur Handlanger kaum mehr kontrollierbarer ökonomischer Interessen sein. Vielmehr soll die Wirt­schaft wieder in den Dienst einer Politik gestellt werden, deren vorrangiges Ziel soziale Gerechtigkeit ist." Zur Per­son siehe "Der Fall Lafontaine. Ein Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden a. D. darüber, wie er die Welt sieht." Von Gunter Hofmann. DIE ZEIT 41/1999, - "Wer auf einer heißen Herdplatte sitzt, weiß nicht, wann er springt. Es hat seit dem ersten Reichs­prä­sidenten Ebert nie eine derartige Medien­hetze und ekelhafte Menschenjagd gegen einen Poli­ti­ker gegeben. Das war von irgendjemand ganz gezielt gesteuert, um Lafon­tai­ne zu demontieren." [Zur Demontage von Politik durch Medien siehe Kepplinger 1998a] Über Nachfolger Eichel: "Seine Wahl war ein Signal für die Partner der G7-Staa­ten, dass er nicht für Aufsehen in der Finanz­welt sorgen wird. Jetzt kommt er mit dem Zukunfts­programm, das bei Arbeitslosen und Rentnern spart. Ich kann nicht erkennen, wie die Reduzierung von Arbeitslosengeld für Wirt­schafts­wachs­tum sorgt." Trierer Professor Wolfgang Filc in einem In­ter­view mit dem „Trierischen Volksfreund" (252, S.3) vom 29.10.1999 -Siehe auch Filc (1999a)!

[2]) Dies gäbe m.E. ein gutes historisches Beispiel ab für eine wissenschaftssoziologische Unter­suchung zum Thema: Konsenstheorie der Wahrheit im Entwicklungsprozess von Wissenschaften. Zumindest für die Wirtschaftswissenschaften scheint sich historisch erwiesen zu haben, dass Kon­sens nicht immer Wahrheit verbürgt, woran Niehans (1989a) indessen festzuhalten bereit scheint.

[3]) wenn er von der walrasschen Grenzrate der Substitution (der Nutzengleichheit von Gütern) sagt: „Bis­wei­len kommt es vor, dass - entsprechend dem vom Konkurrenzmechanismus hervorge­rufenen Gleichge­wichtszustand - bei zwei gegebenen Gütern ihre Grenzrate der Substitution im Kon­sum gleich wird und der gemeinsame Wert dieser beiden Größen mit dem Preis zusammen­fällt, der sich auf dem Wettbewerbsmarkt herstellt. Solche ‘Gleichgewichtspreise’ bilden einen Maß­stab für die technische und psychologische ‘Gleich­wertigkeit’ der in der Wirtschaft vorhandenen Güter. Die Bedeutung dieses Begriffs liegt darin, dass er, im Gegensatz zum Begriff des Gemeinsinns, nicht notwendig auf dem Prinzip des Tauschs beruht. Insoweit die Ausgangsmengen der produkti­ven Ressourcen, die Bedingungen und die Konsumentenpräferenzen bekannt und gegeben sind, ist der Preis, zumindest theoretisch, als Verhältnis zwischen technologischer und psycho­lo­gi­scher Gleich­wertigkeit bestimmbar, unter Absehung von dem effektiven Tauschakt auf dem Markt."

[4]) "... maybe the discipline has come down with nothing more complicated than a bad case of diminishing returns" (The Economist)

[5]) „Ebenso wenig ist allerdings die Ansicht Stackelbergs ... verständlich, die Werttheorie habe in dem Au­gen­blick, in dem sie zugegebenermaßen nichts mehr erklärt, ‘ihre Leistungsfähigkeit ... auf den denkbar höch­sten Stand gebracht’. Worin denn eigentlich diese Leistung besteht, bleibt das Geheimnis der Wahl­hand­lungstheoretiker." (Albert 1954a:137, Anm.137)

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