Für Popper fällt jedwedes utopische Denken jedoch notwendig dem Totalitarismusverdacht anheim:
„Was Popper zu seiner antiutopischen Polemik drängt, ist die Vorstellung von einem verträumten Gewaltvollstrecker, der neben dem fertigen Bauplan seiner Utopie den Revolver in der Tasche trägt." (Neusüss 1986b:98)
Diese Ansicht wird den neuzeitlichen Revolutionen historisch keineswegs gerecht, da diese meist erst in der Folge von Kriegen eingetreten sind:
„Kriege haben das vollendet, was der Übergang zum Industrialismus in Deutschland und Japan nicht zustandebrachte - die Auflösung der Hegemonie der traditionellen grundbesitzenden Eliten; und sie waren der Schauplatz für die Prozesse revolutionären Wandels, zu allererst in der Sowjetunion und später in anderen osteuropäischen Gesellschaften." (Giddens 1979a:331)
Diese Kriege wurden von den Herrschenden häufig angezettelt, um die Machtergreifung der inneren Opposition zu verhindern, hatten dann oft aber gerade diese zum historischen Resultat: "Der Krieg der Rechten als Vater der Linken" (Czempiel 1999a).
Wissenschaftlich und politisch vertretbar ist Popper nur eine Sozialtechnologie der kleinen Schritte. Diese wird oft so verstanden, dass sie für nur punktuelle Interventionen eintritt in Gegensatz zu konzeptionsorientierter, strategisch ausgerichteter Politik, was Albert (1972c:101) jedoch zurückweist. Für Albert (1972c: 116, Anm.128) ist innerhalb der popperschen Wissenschaftsauffassung auch eine Technologie der Revolution denkbar; sie wäre nur im Hinblick auf bestimmte Wertentscheidungen Poppers vermutlich nicht in seinem Sinne durchführbar. Wie soll man aber "kleine Schritte" als "klein" bestimmen, wenn eine entsprechende Theorie gesellschaftlichen Wandels von Popper wenn überhaupt, dann nur zögerlich angedeutet wird?! Somit gerät auch die Interdependenz gesellschaftlicher Faktoren, eine Binsenwahrheit sogar schon der Ökonomie, überhaupt nicht ins Visier:
"Piece-meal social engineering is bound to produce at best only modest results, because society is not merely a collection or 'sum' of individuals, or even an aggregate of mutually independent sectors: it is a system." (Bunge 1996a:544)
Poppers piece-meal engineering impliziert das Verbot der Bezugnahme auf ein Konzept von Gesamtgesellschaft. Es errichtet gleichsam ein Monopol der mikroökonomischen bzw. betriebswirtschaftlichen Perspektive. Damit erliegt es systematisch dem Fehlschluss des misplaced concreteness, d.h. dem Fehlschluss vom Teil aufs Ganze.
Wenn das Gesellschaftssystem, so wie es ist, gut ist, so erscheinen freilich nur noch Schönheitsreparaturen sinnvoll. Eine Systemtransformation ist dann eine praktisch unmotivierte sowie wissenschaftlich unverantwortbare Utopie. Vor der historischen Herausforderung unausweichlicher Systemtransformation reduziert sich Poppers piece-meal engineering auf die Transplantation von Teilen einer politischen Verfassung:
„Es erscheint naheliegend, dass die schnellste Methode darin besteht, eine bewährte westliche Rechtsordnung zu kopieren (obwohl das offensichtlich keine vollkommene Methode ist). Japan hat gezeigt, dass eine solche Kopie funktionieren kann, als es (in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts) das deutsche Rechtssystem übernahm, nachdem es sich klargemacht hatte, dass ein solches System die Voraussetzung für seinen Plan war, die europäische industrielle Entwicklung nachzuahmen." (Popper 1992a: XI)
Poppers wissenschaftliche Empfehlungen zeugen nicht von mehr, sondern vielmehr von weniger politischem Sachverstand, als die beteiligten Politiker selbst schon mitbringen. Der Philosoph liefert nur noch recht unspezifische wissenschaftliche Legitimation.[1]) Dabei kann schon die Betrachtung, wie z.B. einer Straßenverkehrsordnung [2]) zeigen, dass derselbe Code, in unterschiedlichen kulturellen Kontexten eingesetzt, unterschiedliche Verhaltensstrukturen erzeugt.
Die historische Kritik des deutschen Rechtsstaatsdenkens vermerkt sogar, dass den Deutschen gerade die Lehre vom 'Rechtsstaat' als Ersatz für eine Staatstheorie [3]) herhalten musste. Oder ein anderes historisches Beispiel: Wenn Popper das preußische Dreiklassenwahlrecht hätte ändern wollen, so würde er damit ganz Preußen geändert haben. Sozusagen: ein kleiner Schritt für Popper, aber ein großer Schritt für die preußische Menschheit.
Andererseits teilt Poppers Konzeption von Sozialtechnik [4]) mit Platons techne[5]) dieselbe handwerksmäßig objektbearbeitende Auffassung des politischen Handelns, die schon Hegel (ein Vorläufer Hayeks?!) an Platon in aller Vehemenz als unchristlich, unfreiheitlich und unmodern kritisiert hatte. Popper hingegen geht es anscheinend lediglich um die Abwehr eines "normativen Perfektionismus" (Albert 1972c:110). Reformen werden gesehen aus dem Blickwinkel der 'establishment power' (Gouldner 1971a:292). Der freie Bürger als Subjekt von Politik gerät noch eher Hegel ins Gesichtsfeld als Popper. Demokratie im Sinne von Partizipation markiert damit eine Schwachstelle popperschen Nachdenkens über Politik ebenso wie die Frage, wer [6]) denn seine Politik realisieren solle. Geht Popper etwa wie die von Marx kritisierten Junghegelianer davon aus, um soziale Missstände zu ändern, genüge es schon, diese öffentlich zu kritisieren? Oder hat er einfach soviel Vertrauen in die Behörden der offenen Gesellschaft, dass diese schon allein die richtigen Pläne richtig umsetzten, evtl. korrigiert durch die Rationalität der Wähler? [7])
[1]) zum Verhältnis Intellektuelle und Bürokratie siehe Merton (1968a)
[2]) Elster (1990a) zeigt recht instruktiv, wie dieselbe Straßenverkehrs-Situation in unterschiedlichen Gesellschaften sich darstellen kann.
[3]) "So flossen konservative und liberale Staatslehre zusammen in die positivistische Staatsrechtslehre.Staatstheoretische Lehren wurden als irrelevant für die Auslegung des positiven Staatsrechts angesehen. Die Staatsrechtslehre hat es nicht mit den Staatsideen zu tun, sondern mit dem geltenden Recht, dessen Entstehungsbedingungen und Legitimätsgrundlagen für die juristische Betrachtung uninteressant sind. Die Grundrechte sind für manche Vertreter der positivistischen Staatsrechtslehre staatlich gewährte Rechte der Person, für andere sogar nur Reflexe von rechtlichen Regeln für das Verhalten der Organe der Staatsgewalt, die mittelbar den Bürgern zugute kommen. In solchen Nuancen unterscheiden sich auch jetzt noch konservative und liberale Staats(rechts-)lehren. Allen gemeinsam ist die Konzentration auf die juristische Form, auf die juristische Interpretation des positiven Verfassungsrechts. Dem entspricht eine rein positivistisch ausgestaltete Lehre vom Rechtsstaat, die an die Stelle der vorausgegangenen Staatslehre tritt. Diese Lehre nimmt den Staat als gegebenes Faktum und stellt ihn der Gesellschaft und den einzelnen Bürgern gegenüber. Die inhaltlich politische Zielsetzung des Staates, seine Legitimität und das politische Verhältnis der Bürger zum Staat sind nicht Gegenstände der Rechtsstaatslehre. Sie beschäftigt sich allein mit den rechtlichen Formen, durch die die Freiheit des Bürgers vom Staat, d.h. die Grenzen der Staatstätigkeit gegenüber der Gesellschaft festgelegt sind. Rechtsstaat bedeutet nach der deutschen Lehre zuallererst Gesetzmäßigkeit der Verwaltung." (Rosenbaum 1972a:43f) "Inhalt, Zweck und Umfang der Staatstätigkeit, sowie die inhaltliche Bestimmung der Freiheit des Bürgers sind dieser Staatsrechtslehre außerrechtliche Daten, die die juristische Betrachtung nicht tangieren. Demnach ist ein Rechtsstaat auch ohne Demokratie möglich. Darin unterscheidet sich die deutsche Rechtsstaatslehre von dem englischen Prinzip der rule of law." (Rosenbaum 1972a:45)
[4]) "... Soziologie ist nun die Wissenschaft der Staatsmänner und Organisatoren, das ist der Gesellschaftstechniker." (Neurath 1931a:17)
[5]) "Both the positive achievement of the Platonic conception and its limitations appear most clearly in his doctrine that ruling is an art, or 'Techne'; for it is characteristic of a 'technical' activity in the Greek sense of the word both that it should issue in the realization of a design which is itself unaffected by the process of realization, and that it should impose a form upon a material which is other than the craftman's self." (Foster 1965a:18)
[6]) "Wie viele brilliante Leute glaubt er, dass Ideen Berge versetzen. Aber es sind Bulldozer, die Berge versetzen, und Ideen zeigen nur, wo Bulldozer sich ans Werk machen sollen. Ein solcher Planer muss also lernen, dass seine Arbeit noch nicht getan ist, wenn der Plan vorliegt. Er muss sich um Leute kümmern, die ihn umsetzen, und denen muss der Planer den Plan erklären. Dieser Plan muss im Lauf der Umsetzung angepaßt und verändert werden. Und vielleicht wird irgendwann entschieden, ihn besser aufzugeben." (Drucker 1999a:10)
[7]) "Like any other behaviour, the judgment that something is legitimate can be coerced and rewarded situationally." (Gouldner 1971a:293)
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