Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Pfade der Utopie-Denunziation

Für Popper fällt jedwedes utopische Denken jedoch notwendig dem Totalitaris­mus­verdacht an­heim:

„Was Popper zu seiner antiutopischen Polemik drängt, ist die Vorstellung von ei­nem verträumten Gewaltvollstrecker, der neben dem fertigen Bauplan seiner Utopie den Revolver in der Tasche trägt." (Neusüss 1986b:98)

Diese Ansicht wird den neuzeitlichen Revolutionen historisch keineswegs ge­recht, da diese meist erst in der Folge von Kriegen eingetreten sind:

„Kriege haben das vollendet, was der Übergang zum Industrialismus in Deutsch­­land und Ja­pan nicht zustandebrachte - die Auflösung der Hegemonie der traditionellen grundbesitzenden Eliten; und sie waren der Schauplatz für die Prozesse revolutionären Wandels, zu allererst in der Sowjet­union und spä­ter in anderen osteuropäischen Gesellschaften." (Giddens 1979a:331)

Diese Kriege wurden von den Herrschenden häufig angezettelt, um die Macht­er­greifung der in­neren Opposition zu verhindern, hatten dann oft aber gerade diese zum historischen Resultat: "Der Krieg der Rechten als Vater der Linken" (Czempiel 1999a).

Wissenschaftlich und politisch vertretbar ist Popper nur eine Sozialtechnologie der kleinen Schritte. Diese wird oft so verstanden, dass sie für nur punktuelle In­terventionen eintritt in Ge­gen­satz zu kon­zep­tions­orien­tierter, strategisch ausge­richteter Politik, was Albert (1972c:101) je­doch zurückweist. Für Albert (1972c: 116, Anm.128) ist innerhalb der popperschen Wissen­schafts­auffas­sung auch eine Technologie der Revolution denkbar; sie wäre nur im Hinblick auf bestimmte Wert­entscheidungen Poppers vermutlich nicht in seinem Sinne durchführbar. Wie soll man aber "kleine Schritte" als "klein" bestimmen, wenn eine entsprechende Theo­rie gesell­schaftlichen Wan­dels von Popper wenn überhaupt, dann nur zögerlich an­gedeutet wird?! Somit gerät auch die Interdependenz gesellschaftlicher Faktoren, eine Binsenwahrheit sogar schon der Ökonomie, überhaupt nicht ins Visier:

"Piece-meal social engineering is bound to produce at best only modest re­sults, be­cause society is not merely a collection or 'sum' of individuals, or even an ag­gre­gate of mutually independent sectors: it is a system." (Bunge 1996a:544)

Poppers piece-meal engineering impliziert das Verbot der Bezugnahme auf ein Kon­zept von Gesamtgesell­schaft. Es er­rich­tet gleichsam ein Monopol der mikroöko­no­mischen bzw. betriebswirtschaft­li­chen Per­spektive. Damit er­liegt es systematisch dem Fehlschluss des misplaced concreteness, d.h. dem Fehl­schluss vom Teil aufs Gan­ze.

Wenn das Gesellschaftssystem, so wie es ist, gut ist, so erscheinen freilich nur noch Schön­heits­repa­ra­tu­ren sinn­voll. Eine Systemtransformation ist dann eine praktisch unmotivierte so­wie wissenschaftlich unver­ant­wort­bare Utopie. Vor der historischen Herausforderung unaus­weich­li­cher System­trans­for­mation reduziert sich Poppers piece-meal engineering auf die Trans­plan­tation von Teilen einer politi­schen Verfas­sung:

„Es erscheint naheliegend, dass die schnellste Methode darin besteht, eine be­währte westliche Rechts­ordnung zu kopieren (obwohl das offensichtlich keine vollkommene Methode ist). Japan hat ge­zeigt, dass eine solche Kopie funktio­nie­ren kann, als es (in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts) das deutsche Rechtssystem übernahm, nachdem es sich klargemacht hatte, dass ein solches Sys­tem die Voraussetzung für seinen Plan war, die europäische industrielle Ent­wicklung nachzuahmen." (Popper 1992a: XI)

Poppers wissenschaftliche Empfehlungen zeugen nicht von mehr, sondern viel­mehr von we­niger po­li­ti­schem Sachverstand, als die beteiligten Politiker selbst schon mitbringen. Der Philo­soph liefert nur noch recht unspezifische wissen­schaftli­che Legitimation.[1]) Dabei kann schon die Betrachtung, wie z.B. einer Stra­­ßenver­kehrsordnung [2]) zeigen, dass der­selbe Code, in unter­schiedlichen kul­turellen Kontex­ten eingesetzt, unterschiedliche Verhaltens­struk­tu­ren erzeugt.

Die historische Kritik des deutschen Rechts­staats­den­kens ver­merkt sogar, dass den Deut­schen ge­rade die Lehre vom 'Rechtsstaat' als Ersatz für eine Staatsthe­o­rie [3]) herhalten musste. Oder ein anderes histori­sches Beispiel: Wenn Popper das preu­ßische Dreiklassen­wahl­recht hät­te ändern wollen, so würde er damit ganz Preu­ßen ge­än­dert haben. Sozusagen: ein kleiner Schritt für Popper, aber ein gro­ßer Schritt für die preußische Mensch­heit.

Andererseits teilt Poppers Konzeption von Sozialtechnik [4]) mit Platons techne[5]) dieselbe hand­werks­mäßig objektbearbeitende Auffassung des politischen Han­delns, die schon Hegel (ein Vorläufer Hayeks?!) an Pla­ton in aller Vehe­menz als unchristlich, unfreiheitlich und unmodern kritisiert hatte. Popper hin­gegen geht es anscheinend ledig­lich um die Abwehr eines "normativen Perfektionismus" (Al­bert 1972c:110). Reformen werden gesehen aus dem Blickwinkel der 'establishment power' (Gouldner 1971a:292). Der freie Bür­ger als Subjekt von Po­li­tik gerät noch eher He­gel ins Ge­sichts­feld als Popper. Demokratie im Sinne von Partizipation mar­kiert da­mit eine Schwach­stel­le popperschen Nachdenkens über Politik ebenso wie die Fra­ge, wer [6]) denn sei­ne Politik rea­li­sieren solle. Geht Popper etwa wie die von Marx kriti­sierten Junghegelianer davon aus, um so­ziale Missstände zu än­dern, ge­nüge es schon, diese öffentlich zu kritisieren? Oder hat er ein­fach so­viel Vertrauen in die Behörden der offenen Gesellschaft, dass diese schon allein die rich­ti­gen Plä­ne richtig um­setzten, evtl. korrigiert durch die Rationalität der Wäh­ler? [7])



[1]) zum Verhältnis Intel­lektuelle und Bürokratie siehe Merton (1968a)

[2]) Elster (1990a) zeigt recht instruk­tiv, wie dieselbe Straßenverkehrs-Situation in unter­schied­li­chen Gesellschaften sich darstellen kann.

[3]) "So flossen konservative und liberale Staatslehre zusammen in die positivistische Staats­rechts­leh­re.Staatstheoretische Leh­ren wurden als irrelevant für die Auslegung des positiven Staats­rechts angesehen. Die Staatsrechtslehre hat es nicht mit den Staats­ideen zu tun, sondern mit dem gel­tenden Recht, dessen Ent­stehungsbedingungen und Legitimätsgrundlagen für die juristi­sche Be­trachtung uninteressant sind. Die Grund­rechte sind für manche Vertreter der positivistischen Staats­rechtslehre staatlich gewährte Rechte der Per­son, für andere sogar nur Reflexe von recht­li­chen Regeln für das Verhalten der Organe der Staatsgewalt, die mittelbar den Bürgern zugute kom­men. In solchen Nuancen unterscheiden sich auch jetzt noch konser­va­tive und liberale Staats­(rechts-)­lehren. Allen gemeinsam ist die Konzentration auf die juristische Form, auf die juristische Interpretation des positiven Verfassungsrechts. Dem entspricht eine rein positivistisch ausge­stal­te­te Lehre vom Rechtsstaat, die an die Stelle der vorausgegangenen Staatslehre tritt. Diese Lehre nimmt den Staat als gegebenes Faktum und stellt ihn der Gesellschaft und den einzelnen Bürgern gegenüber. Die inhaltlich politische Zielsetzung des Staates, seine Legitimität und das politische Ver­hältnis der Bürger zum Staat sind nicht Gegenstände der Rechtsstaatslehre. Sie beschäftigt sich al­lein mit den rechtlichen Formen, durch die die Freiheit des Bürgers vom Staat, d.h. die Grenzen der Staatstätigkeit gegenüber der Gesellschaft festgelegt sind. Rechtsstaat bedeutet nach der deut­schen Lehre zuallererst Gesetzmäßigkeit der Verwaltung." (Rosenbaum 1972a:43f) "Inhalt, Zweck und Umfang der Staatstätigkeit, sowie die inhaltliche Bestimmung der Freiheit des Bürgers sind die­ser Staatsrechtslehre außerrechtliche Daten, die die juristische Betrachtung nicht tangieren. Dem­nach ist ein Rechtsstaat auch ohne Demokratie möglich. Darin unterscheidet sich die deut­sche Rechtsstaatslehre von dem englischen Prinzip der rule of law." (Rosenbaum 1972a:45)

[4]) "... Soziologie ist nun die Wissenschaft der Staatsmänner und Organisatoren, das ist der Ge­sellschaftstechniker." (Neurath 1931a:17)

[5]) "Both the positive achievement of the Platonic conception and its limitations appear most clearly in his doctrine that ruling is an art, or 'Techne'; for it is characteristic of a 'technical' activity in the Greek sense of the word both that it should issue in the realization of a design which is itself unaffected by the process of realization, and that it should impose a form upon a material which is other than the craftman's self." (Foster 1965a:18)

[6]) "Wie viele brilliante Leute glaubt er, dass Ideen Berge versetzen. Aber es sind Bulldozer, die Berge versetzen, und Ideen zeigen nur, wo Bulldozer sich ans Werk machen sollen. Ein solcher Pla­ner muss also lernen, dass seine Arbeit noch nicht ge­tan ist, wenn der Plan vorliegt. Er muss sich um Leute kümmern, die ihn umsetzen, und denen muss der Planer den Plan erklä­ren. Dieser Plan muss im Lauf der Umsetzung angepaßt und verändert werden. Und vielleicht wird irgend­wann entschieden, ihn besser aufzugeben." (Drucker 1999a:10)

[7]) "Like any other behaviour, the judgment that something is legitimate can be coerced and re­war­ded situationally." (Gouldner 1971a:293)

Keine Kommentare:

Blog-Archiv