Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Absolutes Wissen ist paradox und daher relativ wahr

Adorno (1969b:8) indessen weist die Forderung, ausschließlich immanente Kritik zuzulassen, zurück. Es kann daher gezweifelt werden, ob Adorno tatsächlich die ihm von Spinner zuge­schrie­bene Haltung eingenommen habe. Zumindest für die Möglichkeiten seines eigenen Kri­ti­sie­rens schien er dergleichen Beschränkung als Ungehörigkeit von sich zu weisen. Damit scheint die Rede von der „halbierten Rationalität" auf Popper wie auf Adorno zu passen: Die nor­mativen Anforderungen, die an die kritisierten Autoren gestellt werden, sind nicht diesel­ben, die man für sich selbst gelten lässt - eine eigentümliche, aber dennoch verbreitete Form me­thodologischer Blindheit auf dem Feld der Selbstwahrnehmung.

Aus dem Adorno-Kriterium folgt aber nicht sogleich das Problem der Immunisierung, son­dern zuerst stellt sich das der Identifizierung eines solchen Wissenssystems. Hegels Tota­litäts­be­griff setzt voraus, dass sich alles Wissen schon inbegriffen weiß. Nach dieser Totalitäts-Auf­fassung ist das sogenannte Adorno-Kriterium von vornherein unstimmig, da das absolute Wis­sen als absolutes Wissen auch die Kritik an sich selbst bereits umfassen würde. So als ob die Kri­tik an der Kultur des Westens schon immer derselben angehören müsse:

„If resistance to the West is another move in the inventory of the West, the West can have no limits." (Sayyid 1998a:383)

Selbstverständlich kennt das absolute Wissen auch schon längst das Adorno-Kriterium und Spin­ners darauf bezügliche Kritik. Spinner kommt einfach zu spät; der Igel ist schon da! - Es stellt sich also überhaupt erst das Problem, Kriterien für Originalität und die Einordnung ver­schiedener Beiträge zu diesem absoluten Wissen zu finden; einmal vorausgesetzt, man könne die Totalität historisch abgrenzen. Denn schon eine historische Abgrenzung widerstrebt dem Be­griff des Absoluten. So ist der (von Spinner zitierte) Vorwurf Feiblemans:

"Hegel composed a philosophy in which everything moves and evolves ex­cept the philosophy which says it does" [1])

trivialerweise entweder richtig oder falsch: Wenn man unter dem "absoluten Wissen" Hegels ei­gene Fixierung und Zusammenfassung des philosophischen Wissens seiner Zeit versteht, kam sie natürlicherweise mit dem Tode Hegels zum Stillstand. Da jedoch dieser schwerlich der Auf­fassung gewesen sein konnte, dass mit seinem Tode auch die Geschichte der Menschheit ins­ge­samt ende, ist das absolute Wissen konzeptionsgemäß der reinterpretierenden Weiter­ent­wick­lung durch andere Philosophen fähig. Wenn ein Philosoph lange genug lebt, kritisiert er sich in der Regel schon selber. Man muss nur dingfest machen, was er hinter allem branchenüblichen „window dressing" denn tatsächlich alles so treibt:

„Popper’s failure to portray these problems openly means that one is required to analyse the changing logic of the discussion to see what they are. The logic of Popper’s problems and the motives and reasons for the changes he intro­du­ces may be found, however, in the weaknesses for his former views." (Wettersten 1992a:187)

Entsprechend Hegel. Und man kann ihm nicht nachsagen, dass ihm diese Einsicht abging. Denn für ein absolutes System wie dasjenige Hegels stellt die Bestimmung des Verhältnisses der „Phänomenologie des Geistes" zur späteren „Enzyklopädie" nicht nur für den Hegelianer, sondern schon für den eigenen Autor eine offenkundige Verlegenheit dar (Bonsiepen 1988a:LIII). Selbst einem Hegel gelang es nicht, dem absoluten Wissen etwas hinzuzufügen, was dieses nicht schon immer wusste. Es genügt zur Kritik einer Philosophie gemeinhin schon, dass man diese beim Worte nehme. Das ist vielleicht sogar das einzig probate Mittel für Philosophen, die sich selbst nicht ernst nehmen [2]). Doch was einem endlichen Philosophen widerfahren kann, tut absolutem Wissen keinen Abbruch. Es findet immer genügend andere Philosophen - wenn nicht, dann hat es auch das schon immer gewusst und dadurch lediglich seine diesbezüglichen Pläne realisiert!

Wenn Hegels Stehenbleiben bei seiner eigenen Zusammenfassung gegen sein systematisches Philosophieren verstößt, so ist es an Feibleman als philosophischem Kritiker, diesen Verstoß als Hegel eigentümlich abzuweisen und sich nur an Hegels systematisches Denken zu halten. Sein Einwand ist kein Einwand gegen Hegels Philosophie, sondern richtet sich lediglich gegen Hegel als historische Person, so wenig wie etwa die Gültigkeit der Arithmetik selbst in Frage steht, wenn die Deutsche Bank einen Buchungsfehler begeht, oder die Gesetze der Informati­ons­theorie widerlegt sind, weil Software crasht.

Das Denken wird von Hegel als ein absolutes Kontinuum gefasst; die Prädikation ergibt zu­gleich einen Prozess der Letztbegründung und der Konkretion des Wissens (Flach 1964a:64). Es ist also nur ein scheinbares Paradoxon, dass das Wissen gleichzeitig absolut und in beson­de­re Philosophien systematisch sich fixiert weiß.

„Aber auch in einem beschränkten Leben kann der Mensch unendlich leben, und auch die beschränkte Vorstellung einer Gottheit, die aus diesem seinem Le­ben für ihn hervorgeht, kann eine unendliche sein." (Hölderlin 3:264)

Das "absolute Wissen" hat sich seinem hegelschen Begriff nach schon in der Fixierung die­sem entschlagen. Die einzelnen philosophischen Systeme können nur Durchgangsstadien der Vernunft darstellen. Wenn daher Feibleman (1960a) Hegel unterstellt, sein eigenes System mit dem Absoluten schlichtweg zu identifizieren, so geht er damit vielleicht einen äußerlichen, ide­ologiekritisch gangbaren Weg, den ja schließlich schon Feuerbach und nach diesem Marx ge­gan­gen sind. Unterschlagen werden dabei allerdings die eigentlichen philosophischen Pro­ble­me, wie z.B. das des Endlichen und Unendlichen, die Hegel hierbei offensichtlich zu lösen such­te. Darin verschlungen ist weiter das Problem der semantischen Ebenen, das insbesondere dar­in besteht, dass bei Hegel in der Philosophie ein Philosophieren über das Philosophieren statt­findet. Übersehen wird dabei auch leicht, dass jede ideologiekritische Enthüllung des Scheins ihrerseits eine Theorie des wesentlich Wahren als gültig voraussetzt.

Das betreffende ideologiekritische wie praktisch-politische Argument hingegen findet sich aber schon bei Marx innerhalb seiner Dissertation in klassischer Form entwickelt.

"Bloß spekulatives Denken, idealistische Philosophie und Metaphysik, sind nicht deshalb Gegenstand von Ideologie-Kritik, weil diese von einem - dem utili­ta­ristischen Pragmatismus eigenen - Primat der Praxis vor aller Theorie ausgin­ge, sondern vor allem deshalb, weil die scheinbar in sich geschlossene gedank­li­che Totalität des philosophischen Systems die wirkliche Welt ihrem Schicksal überläßt, während es die vornehmliche Bestimmung des Denkens wäre, sich an der Realität zu messen." (Lenk 1972a:136)

Während für Hegel die dialektische Vernunft das sich selbst denkende Selbstbewusstsein vor­stellt, ist für Marx der abstraktlogische Prozess nur die Form der Bewegung des Subjekt-Ob­jekt-Verhältnisses, die bewusst gewordene Aneignung dieses Verhältnisses. Da Marx als Mate­ri­alist die Entzweiung in einer Realität außerhalb des Subjekts ansiedeln kann und nicht alles Sein auf Kategorialität reduziert weiß, entgeht er der Versuchung, den Geschichtsprozess in ei­nem starren Schema verenden zu lassen. Denn mit der Veränderung ihrer historisch-gesell­schaft­lichen Grundlage muss sich stets auch der Systematisierungszusammenhang der Totalität ändern.

Die Totalität von Philosophie beruht damit auf der Totalität von menschlicher Praxis: Der mensch­liche Geist umfasst niemals alles. Dennoch muss er jeden Augenblick entscheiden und not­ge­drungen unter der Prämisse handeln, dass sein Wissen total der Situation entspräche;

„und dann sind die Gesetze des unendlichen Zusammenhangs, in dem sich der Mensch mit seiner Sphäre befinden kann, doch immer nur die Bedingun­gen, um jenen Zusammenhang möglich zu machen, und nicht der Zusammen­hang selbst." (Hölderlin 3:262)


[1]) „Das hegelsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburt - aber auch die letzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem unheilbaren innern Widerspruch: einerseits hatte es zur wesent­li­chen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach die menschliche Geschichte ein Ent­wick­lungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch die Entdeckung einer sogenannten abso­lu­ten Wahrheit seinen intellektuellen Abschluß finden kann; andrerseits aber behauptet es, der Inbe­griff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein. Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes Sy­stem der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des di­alektischen Denkens; was indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, dass die systematische Erkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesen­schrit­te machen kann." (Engels Anti-Dühring:36)

[2]) so wie etwa Feyerabend (1976a). Ihm ging es wohl vor allem darm, eine von sich selbst allzu sehr überzeugte Wissenschaftlichkeit zu therapieren. Und gewiss hat er hiermit recht: Lachen ist ge­sund, oft sogar erlösend!

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