Popper hat sich für den methodologischen Individualismus entschieden: Dieser
„hebt mir Recht hervor, dass es möglich sein muss, das ‘Verhalten’ und die ‘Handlungen’ von Kollektiven wie Staaten und Sozialgruppen auf das Verhalten und die Handlungen menschlicher Individuen zu reduzieren." (Popper 1992b:108)
Die Alternative ist für ihn „romantischer", „totalitärer", etc. Holismus und Kollektivismus. Diese Alternative sieht er nicht nur durch die von ihm angegriffenen Philosophen, sondern fast in der gesamten Sozialwissenschaft vertreten. Auch hier heißt es für Popper wieder: Viel Feind, viel Ehr! Dies wird zum Beispiel schon daran sichtbar, dass Poppers Essentialismus- und Holismuskritik sich auch gegen den strukturell-funktionalen Ansatz und sogar prinzipiell gegen jeden Ansatz gerichtet ist, der soziale oder ökonomische Systeme zugrunde legt. Hierdurch wird der formidable Verdacht Hayeks tatsächlich bestätigt, dass Soziologen samt und sonders verkappte Sozialisten [1]) sind. Es ist natürlich ein verlockender Gedanke, alle gesellschaftlichen Probleme schon allein dadurch zu beseitigen, dass man mit der Essenz gleich auch den Begriff der „Gesellschaft" liquidiert. Dasselbe Schicksal erleidet konsequenterweise die Makroökonomie. Der Nominalist kennt kein Vaterland, sondern nur noch Patrioten (Elster 1982a). So gibt es auch keinen Euro, sondern nur Individuen, die diesem evtl. und ggf. einen Euro-Glauben aufweisen. Einem Nominalisten ist es aber gleichermaßen völlig unmöglich, eine Aussage über eine Beziehung zwischen Essentialismus, Holismus und Totalitarismus zu machen - denn solche Dinge sind für ihn einfach nicht existent.
Poppers Unterstellung einer logischen Verbindung zwischen Essentialismus und Holismus ist aber auch sonst alles andere als logisch zwingend (Schumpeter 1965a). Es sind alle logischen Kombinationen durchführbar:
Atomismus vs. Nominalismus
Atomismus vs. Essentialismus
Holismus vs. Nominalismus
Holismus vs. Essentialismus
So können für Atomismus/Essentialismus u.a. Hobbes (Röd 1981a) und für Holismus / Nominalismus Weber angeführt werden.
Der Punkt ist also nicht: entweder Atomismus oder Holismus, sondern die Verknüpfung beider Perspektiven in der Erklärung von Prozessen. Jede theoretische Erklärung erlaubt uns tiefer in die Struktur der objektiven Realität einzudringen als eine oberflächliche Beschreibung (Popper 1964a:79). Dies leistet aber eine soziologische Erklärung gerade dann, wenn sie Makroprozesse mit Mikroprozessen individuellen Verhaltens verbindet. Modelle über Makroprozesse sollten daher über eine entsprechende Mikrofundierung verfügen: Nur nomologische Hypothesen (z. B. über individuelle Wahrnehmung oder Motivation) über das Handeln menschlicher Individuen erlauben die anzustrebende „Tiefenerklärung" makrosozialer Prozesse (Lindenberg 1983a; Kiser, Hechter 1991a:16, Anm.34; Esser 1991a:40ff). Eine Erklärung sollte mindestens einen Kausalmechanismus spezifizieren, der mit möglichst minimalen time lags arbeitet und möglichst viele empirische Implikationen aufweist.
[1]) Wenn manchen Soziologen dies völlig aus der Luft gegriffen erscheint, so beweist das nur, dass Soziologen in aller Regel meist naiver als ihre eigenen Versuchspersonen sind. Schließlich haben sie ihre ganze akademische Ausbildung nur darin investiert, in die berüchtigten Besucher vom Planeten Mars zu mutieren.
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