"Die Wissenschaftslehre hat also absolute Totalität. In ihr führt Eins zu Allem, und Alles zu Einem. Sie ist aber die einzige Wissenschaft, welche vollendet werden kann; Vollendung ist demnach ihr auszeichnender Charakter. Alle andere Wissenschaften sind unendlich, und können nie vollendet werden; denn sie laufen nicht wieder in ihren Grundsatz zurück. Die Wissenschaftslehre hat dies für alle zu beweisen und den Grund davon anzugeben." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:81f)
Kurz geantwortet: NEIN. Weil jedes einzelne System immer nur ein besonderer Teil der gesamten Philosophie darstellt. Das Verständnis eines besonderen philosophischen Systems setzt schlechthin das Verständnis desjenigen Systems voraus, in Entgegensetzung zu welchem es gebildet wurde. So zum Beispiel der Materialismus den Idealismus, der Empirismus den Rationalismus [1]), etc. Die Fragestellung geht zurück auf Fichtes Aufgabenstellung von "Wissenschaftslehre":
"1) Wie ist Wissenschaft überhaupt möglich? 2) Sie macht Ansprüche darauf, das auf einen einzigen Grundsatz gebaute menschliche Wissen zu erschöpfen." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:80)
Die Sachlage muss differenziert gesehen werden, wie denn Wettersten (1992a) im Fortgang seiner Rekonstruktion popperschen Philosophierens auch nicht verfehlt, dessen Ansprüche auf systematische Kontinuität in Frage zu stellen und Kompatibilitäten zu überprüfen.
„I will not appraise Popper’s systematic attempts, since I do not think that he has a system." (Wettersten 1992a:187)
Hierbei wird notwendigerweise unterstellt, dass jedes Philosophieren wenn nicht zu einem vollendeten System führt, so doch wenigstens systematisch verfährt bzw. in der Gesamttendenz auf ein System angelegt ist.[2]) Denn irgendwie hängt die Lösung eines philosophischen Problems immer mehr oder weniger mit der Lösung der anderen zusammen, wenn nicht sogar die Probleme durch die jeweilige Lösung erst geschaffen werden.[3])
Eine solche Systembildung muss jedoch stets mehr oder minder explizit eine Antithese voraussetzen, die demnach sich außerhalb des Systems befindet.[4]) Ja, grundsätzlich gilt: Eine bestimmte Philosophie wird erst dadurch definiert, wozu sie in Gegensatz tritt. Der philosophische Kosmos ist gepflastert mit Antinomien. Einige davon werden durch das jeweilige System explizit berücksichtigt, andere werden erst später bzw. gar nicht gewusst oder können schon aus Gründen systemlogischer Möglichkeit und Unmöglichkeit innerhalb des Systems gar nicht auftreten. Ein einzelnes philosophisches System kann demnach alle Probleme nur insofern lösen, als es sie gar nicht alle zur Lösung stellt, d.h. einige schon von vornherein unter den Tisch fallen lässt.
Nur wenn Alles Eins ist, d.h. hier: man eine einzelnes System mit dem absoluten Wissen, also mit allen denkbaren Systemen identifiziert, könnte man davon sprechen. Das aber auch nur insofern, wie sich Alles in dem Einen wiederfindet. In diesem Absoluten würden dann auch alle Gegensätze zusammenfallen, wie es der schauenden Vernunft des Nikolaus v. Kues [5]) möglich schien (Otto 1981a:250ff). Da aber unsere Argumentation hierbei ständig umkippt, ist wohl zu vermuten, dass wir hiermit insgeheim festen Platz auf einer theologischen Kippschaukel bezogen haben, die uns in der Weisheitsliebe nicht einen Millimeter von der Stelle bringt.
Kritik am hegelschen System fällt insofern leicht, wenn es sich aus der Enttäuschung speist, dass es nicht das absolute Wissen sei, das es zu liefern zu verheißen schien. Wenn jedoch einmal feststeht, dass absolutes Wissen nicht zu haben ist, so ist aber an Stelle des einfachen Zurückweisens des hegelschen Systems, die ungleich schwierigere Aufgabe gestellt, nachzuweisen, worin es schlechter als ein anderes oder überhaupt kein System ist.
[1]) Bacon hat diesen Gegensatz, den gerade Kant sehr beschäftigt hat, sehr treffend in folgendem Bild gezeichnet: Rationalisten sind Spinnen, die ihr Netz aus sich selbst verfertigen; Empiristen sammelnde Ameisen; optimal verfährt jedoch die Biene: sie sammelt und verarbeitet (Krohn 1981a:271f).
[2]) "Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grundsatze zuammen und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen - auch dieses gesteht man allgemein zu." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:15)
[3]) "Diese im strengen Sinne grundsätzlichen philosophisch-erkenntnistheoretischen Probleme des wissenschaftlichen Theoretisierens bilden ein eng verknüpftes Problemfeld, so dass isolierte Lösungen der einzelnen Probleme und deren beliebige Kombination zu einer Gesamtkonzeption von Erkenntnis und Wissenschaft weitgehend ausgeschlossen sind." (Spinner 1974a:135) - „Aber das Ende der Ansprüche der Philosophie, in einem beliebigen System alle Probleme zu lösen, bedeutet noch nicht, dass die Philosophie nicht das Merkmal der Systematisiertheit besitzt. Sonst ist sie einfach kein Wissen oder stellt kein selbständiges Gebiet dar." (Kopnin 1978a:100)
[4]) "Da dieser Satz, dass alles menschliche Wissen nur ein einziges, in sich selbst zusammenhängendes Wissen ausmache, selbst ein Bestandteil des menschlichen Wissens sein müsste, so könnte er sich auf nichts Anderes gründen, als auf den als Grundsatz alles menschlichen Wissens aufgestellten Satz, und nirgendsher bewiesen werden, als aus demselben. Hierdurch wäre nun, vor derhand wenigstens, soviel gewonnen, dass ein anderer etwa einmal zum menschlichen Bewusssein gelangender Grundsatz nicht bloß ein anderer, und von dem aufgestellten Grundsatze verschiedener, sondern auch ein demselben der Form nach widersprechender sein müsste. Denn unter der obigen Voraussetzung müsste im aufgestellten Grundsatze der Satz enthalten sein: im menschlichen Wissen ist ein einiges System. Jeder Satz nun, der nicht zu diesem einigen Systeme gehören sollte, wäre von diesem Systeme nicht bloß verschieden, sondern widerspräche ihm sogar, inwiefern jenes System das einige mögliche sein sollte, schon durch sein bloßes Dasein geradezu. Er widerspräche jenem abgeleiteten Satze der Einigkeit des Systems; und - da alle Sätze jenes Systems unter sich unzertrennlich zusammenhängen, wenn irgend einer wahr ist, notwendig alle wahr, wenn irgend einer falsch ist, notwendig alle falsch sein sollen, - einem jeden Satze desselben, und insbesondere auch dem Grundsatze. Vorausgesetzt, dass auch dieser fremde Satz auf die oben beschriebene Weise systematisch im Bewusstsein begründet wäre, so müsste das System, zu welchem er gehörte, um des bloss formellen Widerspruchs seines Daseins willen, dem ganzen ersten Systeme auch materialiter widersprechen, und auf einem dem ersten Grundsatze geradezu entgegengesetzten Grundsatze beruhen; so dass, wenn der erstere z.B. der wäre: Ich bin Ich, - der zweite sein müsste: Ich bin nicht Ich." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:49f)
[5]) geboren 1401 als Sohn des Moselschiffers und Winzers Johann Cryffz, gestorben 1464 in Todi (Italien). Zur 600-Jahr-Feier wird in Bernkastel-Kues ein Symposion durchgeführt. In seinem Geburtshaus ist ein Museum eingerichtet; an der Universität Trier ein Institut, ein Studiengang sowie eine alljährliche Cusanus Lecture.
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