Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Kann ein philosophisches System alle Probleme lösen?


"Die Wissenschaftslehre hat also absolute Totalität. In ihr führt Eins zu Allem, und Alles zu Einem. Sie ist aber die einzige Wissenschaft, welche vollendet wer­den kann; Vollendung ist demnach ihr auszeichnender Charakter. Alle an­de­re Wissenschaften sind unendlich, und können nie vollendet werden; denn sie laufen nicht wieder in ihren Grundsatz zurück. Die Wissenschaftslehre hat dies für alle zu beweisen und den Grund davon anzugeben." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:81f)

Kurz geantwortet: NEIN. Weil jedes einzelne System immer nur ein besonderer Teil der ge­samten Philosophie darstellt. Das Verständnis eines besonderen philo­sophischen Systems setzt schlechthin das Verständnis desjenigen Systems vor­aus, in Entgegensetzung zu welchem es ge­bildet wurde. So zum Beispiel der Ma­te­rialismus den Idealismus, der Empirismus den Ratio­na­lismus [1]), etc. Die Fra­gestellung geht zurück auf Fichtes Aufgabenstellung von "Wissen­schafts­lehre":

"1) Wie ist Wissenschaft überhaupt möglich? 2) Sie macht Ansprüche darauf, das auf einen einzigen Grundsatz gebaute menschliche Wissen zu erschöpfen." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschafts­leh­re:80)

Die Sachlage muss differenziert gesehen werden, wie denn Wettersten (1992a) im Fortgang sei­ner Rekonstruktion popperschen Philosophierens auch nicht ver­fehlt, dessen Ansprüche auf sy­stematische Kontinuität in Frage zu stellen und Kom­patibilitäten zu überprüfen.

„I will not appraise Popper’s systematic attempts, since I do not think that he has a system." (Wettersten 1992a:187)

Hierbei wird notwendigerweise unterstellt, dass jedes Philosophieren wenn nicht zu einem voll­endeten System führt, so doch wenigstens systematisch verfährt bzw. in der Gesamttendenz auf ein System angelegt ist.[2]) Denn irgendwie hängt die Lösung eines philosophischen Pro­blems immer mehr oder weniger mit der Lö­sung der anderen zusammen, wenn nicht sogar die Probleme durch die jeweilige Lösung erst geschaffen werden.[3])

Eine solche Systembildung muss jedoch stets mehr oder minder explizit eine An­ti­these vor­aus­setzen, die demnach sich außerhalb des Systems befindet.[4]) Ja, grundsätzlich gilt: Eine be­stimm­te Philosophie wird erst dadurch definiert, wozu sie in Gegensatz tritt. Der philoso­phi­sche Kosmos ist gepflastert mit Antinomien. Einige davon werden durch das jeweilige System explizit berücksichtigt, andere werden erst später bzw. gar nicht gewusst oder können schon aus Gründen sy­stem­logischer Möglichkeit und Unmöglichkeit innerhalb des Systems gar nicht auf­treten. Ein einzelnes philosophisches System kann demnach alle Probleme nur in­so­fern lösen, als es sie gar nicht alle zur Lösung stellt, d.h. einige schon von vorn­herein unter den Tisch fal­len lässt.

Nur wenn Alles Eins ist, d.h. hier: man eine einzelnes System mit dem absoluten Wissen, al­so mit allen denkbaren Systemen identifiziert, könnte man davon spre­chen. Das aber auch nur insofern, wie sich Alles in dem Einen wiederfindet. In die­sem Absoluten würden dann auch alle Gegensätze zusammenfallen, wie es der schauenden Vernunft des Nikolaus v. Kues [5]) mög­lich schien (Otto 1981a:250ff). Da aber unsere Argumentation hierbei ständig umkippt, ist wohl zu vermuten, dass wir hiermit insgeheim festen Platz auf einer theologischen Kippschaukel be­zogen haben, die uns in der Weisheitsliebe nicht einen Millimeter von der Stelle bringt.

Kritik am hegelschen System fällt insofern leicht, wenn es sich aus der Ent­täu­schung speist, dass es nicht das absolute Wissen sei, das es zu liefern zu ver­hei­ßen schien. Wenn jedoch ein­mal feststeht, dass absolutes Wissen nicht zu haben ist, so ist aber an Stelle des einfachen Zu­rückweisens des hegelschen Systems, die ungleich schwierigere Aufgabe gestellt, nachzu­weisen, worin es schlechter als ein anderes oder überhaupt kein System ist.



[1]) Bacon hat diesen Gegensatz, den gerade Kant sehr beschäftigt hat, sehr treffend in folgen­dem Bild ge­zeich­net: Rationalisten sind Spinnen, die ihr Netz aus sich selbst verfertigen; Empiri­sten sammelnde Ameisen; op­ti­mal verfährt jedoch die Biene: sie sammelt und verarbeitet (Krohn 1981a:271f).

[2]) "Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grund­satze zuammen und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen - auch dieses gesteht man all­gemein zu." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:15)

[3]) "Diese im strengen Sinne grundsätzlichen philosophisch-erkenntnistheoretischen Probleme des wissenschaft­li­chen Theoretisierens bilden ein eng verknüpftes Problemfeld, so dass isolierte Lö­­sungen der einzelnen Pro­ble­me und deren beliebige Kombination zu einer Gesamtkonzeption von Erkenntnis und Wissenschaft weitgehend aus­geschlossen sind." (Spinner 1974a:135) - „Aber das Ende der Ansprüche der Philosophie, in einem beliebigen System alle Probleme zu lösen, be­deu­tet noch nicht, dass die Philosophie nicht das Merkmal der Systematisiertheit be­sitzt. Sonst ist sie ein­fach kein Wis­sen oder stellt kein selbständiges Gebiet dar." (Kopnin 1978a:100)

[4]) "Da dieser Satz, dass alles menschliche Wissen nur ein einziges, in sich selbst zusammen­hän­gendes Wissen ausmache, selbst ein Bestandteil des menschlichen Wissens sein müsste, so könn­te er sich auf nichts Anderes gründen, als auf den als Grundsatz alles menschlichen Wissens aufgestellten Satz, und nirgendsher bewiesen werden, als aus demselben. Hierdurch wäre nun, vor derhand wenigstens, soviel gewonnen, dass ein anderer etwa einmal zum menschlichen Bewuss­sein gelangender Grundsatz nicht bloß ein anderer, und von dem aufgestellten Grundsatze ver­schie­de­ner, sondern auch ein demselben der Form nach widersprechender sein müsste. Denn unter der obigen Voraussetzung müsste im aufgestellten Grundsatze der Satz enthalten sein: im mensch­li­chen Wissen ist ein einiges System. Jeder Satz nun, der nicht zu diesem einigen Systeme gehören sollte, wäre von diesem Systeme nicht bloß verschieden, sondern widerspräche ihm sogar, inwie­fern jenes System das einige mögliche sein sollte, schon durch sein bloßes Dasein geradezu. Er wi­derspräche jenem abgeleiteten Satze der Einigkeit des Systems; und - da alle Sätze jenes Systems un­ter sich unzertrennlich zusammenhängen, wenn irgend einer wahr ist, notwendig alle wahr, wenn irgend einer falsch ist, notwendig alle falsch sein sollen, - einem jeden Satze des­sel­ben, und insbesondere auch dem Grundsatze. Vorausgesetzt, dass auch dieser fremde Satz auf die oben be­schriebene Weise systematisch im Bewusstsein begründet wäre, so müsste das System, zu welchem er gehörte, um des bloss formellen Widerspruchs seines Daseins willen, dem ganzen er­sten Sy­ste­me auch materialiter widersprechen, und auf einem dem ersten Grundsatze geradezu ent­gegenge­setzten Grundsatze beruhen; so dass, wenn der erstere z.B. der wäre: Ich bin Ich, - der zwe­ite sein müsste: Ich bin nicht Ich." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:49f)

[5]) geboren 1401 als Sohn des Moselschiffers und Winzers Johann Cryffz, gestorben 1464 in To­di (Italien). Zur 600-Jahr-Feier wird in Bernkastel-Kues ein Symposion durchgeführt. In seinem Geburtshaus ist ein Museum eingerichtet; an der Universität Trier ein Institut, ein Studiengang so­wie eine alljährliche Cusanus Lecture.

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