Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Immunisiert der Totalitätsbegriff ein philosophisches System?


„Yet just what is anathema in linguistics is now taken for granted by logical em­pi­ricists, a mythical ‘observation language’ replacing the English of the trans­la­tors. Let us commence field work in this domain also and let us study the lan­gu­age of new theories not in the definition factories of the double language mo­del, but in the company of those metaphysicians, experimenters, theoreticians, playwrights, courtesans, who have constructed new world views!" (Feyerabend 1970a:225)

In Kritik an Adorno wendet sich Spinner dagegen, die Totalitäts-Idee so zu verwenden, dass in­folgedessen das einzelne philosophische System gegen externe Kritik immunisiert wird. Glo­bal gesehen, beinhaltet diese Idee die Vorstellung, die Kritik einer philosophischen Totalität bzw. Weltanschauung sei nur immanent zulässig:

Man müsse sich erst auf den Standpunkt des Systems stellen, um dieses zu verstehen; daher sei erst dann Kritik überhaupt möglich. Also sei vernünftige Kritik immer nur als immanente sinnvoll vorzustellen.

Spinner erkannte hier auf eine „Halbierung des Kritizismus" und taufte dies Prinzip „Ador­no-Kriterium":

„Das Adorno-Kriterium schließt alle logischen Relationen - zum Beispiel die der Deduzierbarkeit, der Ableitbarkeit, des Widerspruchs (!) und der Reduzier­bar­keit - zwischen den fraglichen Begriffen und Theorien prinzipiell aus und als Fol­ge davon jede Möglichkeit des unmittelbaren Vergleichs." (Spinner 1969a: 342, Anm.47)

Man kann jedoch darüber streiten, ob man dasselbe mit vollem Recht nicht auch hätte "Pop­per-Krite­rium" nennen können. Denn Popper entwickelt den vergleichbaren Ge­danken, indem er eine immanente von einer transzendenten Methode der Kritik unter­schei­det und hierbei nur erstere für effektiv hält.

"Eine solche Kritik, die eine Position durch Voraussetzungen bekämpft, die ihr fremd sind (weshalb man eben sagt, dass diese Kritik transzendiert), die einen theoretischen Bau an einem ganz anderen messen will, kann grundsätzlich im­mer ebenso gegen die eine Position gewendet wer­den, wie gegen die andere. Sie ist also für die Diskussion völlig nichtssagend (auch dann, wenn sie recht überzeugend klingt). Ihr gegenüber muss nachdrücklich die Forderung erhoben werden, dass alle erkenntnistheoretische Kritik immanente Kritik sein muss." (Popper 1994b:53f)

In der später erfolgen An­mer­kung hierzu distanziert Popper sich von dieser Ansicht, doch nur halbherzig:

"Darüber bin ich jetzt ganz anderer Ansicht: auch eine transzendente Kritik kann überaus aufschlussreich sein, ob­wohl sie zu einer klaren Widerlegung nie­mals hinreicht." (*1)

Danach scheint Popper hier die Auffas­sung zu vertreten, dass ausschließlich eine immanente Kritik lo­gisch wirksam, d.h. "vernichtend" sein könne. Dies steht wohl in eklatantem Wider­spruch zu seiner Kuhn-Kritik, wonach es immer rationale Entschei­dungs­mög­lichkeiten zwi­schen konkurrierenden Paradigmata gebe.

Über­spitzt gesagt, wäre gemäß dem Adorno-Kriterium eine Kritik einer These erst nach voll­zo­gener Konversion [1]) möglich. Diese Argumentationsfigur ist der abendländischen Theo­lo­gie durch Augustin vertraut.[2]) It’s the same old story. Richtig ist wohl die Überlegung, dass ei­ne Aussage erst hermeneutisch nachvollzogen wer­den muss, bevor sie sinngemäß angewandt und geprüft werden kann (eine Trivialität, der aber Poppers kreativ rekonstruierte Ideenge­schich­te systematisch zuwiderhandelt). Falsch ist, dass Verstehen einen Prozess vollkommenen Identi­fi­kationslernens voraussetzte. Dieser Gedanke ver­mag aber nur Apologeten einzu­leuch­ten. Aller­dings macht das deutlich, was von einer sol­chen Kritik zu erwarten ist, wenn nur Gläu­bige ih­ren eigenen Glauben kritisieren dürfen und dann vielleicht auch die Mittel der Kri­tik aus dem­sel­ben entnehmen sollen, weil sie sonst ex­kommuniziert würden oder schon per De­finition aus dem Kreis der Kritikberechtigten aus­ge­schlossen wären. Der Denkfehler liegt hier wohl darin, zu unterstellen, nur vollzogene Kon­ver­sion erlaube erst erfolgreiche Anwendung her­meneu­ti­scher Verfahren.



[1]) Tatsächlich zeigt der Übergang Feuerbachs ebenso wie Marxens auf Hegels Philosophie psy­chisch alle Anzeichen einer Art „Konversion" oder zumindest einen emotional stressgeladenen „Ge­stalt switch" - der hier jedoch auch einen Karrierebruch implizierte, wie sich den betreffenden Brie­fen der beiden studiosi an ihre respektiven Väter unschwer entnehmen lässt. Feyer­abend (1976a: 317) möchte derlei Erfahrungen keineswegs auf die Kindheitsentwicklung beschränkt sehen: „Der Versuch, die Grenzen eines gegebenen Begriffssystems zu durchbrechen, gehört wesentlich zu sol­chen Forschungen (und sollte auch ein wesentlicher Bestandteil jedes interessanten Lebens sein)." Toulmin (1978a:129) meldet hingegen Zweifel an, ob Konversion das angemessene Erklä­rungs­mu­ster für die sog. „Wissenschaftliche Revolutionen" darstellt. Andersson (1988a:121) weist gegen Feyer­abend daraufhin, dass Gestaltwahrnehmungen keinesfalls letzte unüberschreitbare Gegeben­hei­ten darstellen: „Das gestalt­psy­chologische Modell der Erfahrung ist insofern richtig, als es die Theori­e­abhängigkeit der Erfahrung zeigt. Die Versuche, mit die­sem Modell zu zeigen, dass die Er­fah­run­gen und Prüfsätze mit verschiedenen Paradigmata inkommensurabel seien, sind da­ge­gen misslun­gen, weil Gestaltwahrnehmungen nicht als letzte, unkritisierbare unmittelbare Erfahrungen aufge­fasst werden müs­sen, sondern als kritisierbare implizite Hypothesen behandelt werden kön­nen." Es gebe nicht nur einen Theorienpluralismus, son­dern auch einen Pluralismus von Deutun­gen eines bestimmten vorliegenden Beobachtungsmaterials (122).

[2]) „Der augustinische Weg der Selbsterkenntnis und Wahrheitssuche ist an eine Vorausset­zung geknüpft, die die erste Prämisse des frühmittelalterlichen Den­kens darstellt: Die Wahrheit zeigt sich nur denjenigen als personaler Gott, de­nen der christliche Glaube vollziehbar ist. Glau­bend kann der Mensch seine Wis­sensmöglichkeiten entfalten, und sein Wissen wird ihn in seinem Glauben be­stärken." (Schöpf 1981a:164)

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