Bei einer Auseinandersetzung mit Hochhuth führt Adorno an,
„dass Hegel und Marx das Individuum nicht als Naturkategorie, sondern als geschichtlich, nämlich vermöge der Arbeit erst Entspringendes bestimmten; das war das stärkste Motiv des Angriffs von Marx auf Feuerbach, gegen den er Hegel wieder zu Ehren brachte. Ist aber das Individuum ein Entsprungenes, so wacht keine Seinsordnung darüber, dass es nicht ebenso wieder vergehen könnte." (Adorno 1971a:135)
Dass Marxens Theorie nicht einfach, wie es Weber schien, als eine Variante hegelscher Sozialphilosophie aufgefasst werden kann, zeigte schon der vorangegangene Abschnitt, wo gezeigt wurde, dass Marx Feuerbachs Kritik an der hegelschen Begriffslogik aufgenommen und er mitnichten die emanatistische Logik rezipiert hat. Marx geht nicht von der Idee, sondern von der Wirklichkeit, nicht vom Allgemeinen, sondern von gesellschaftlich vermittelten Individuen aus:
"In Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt." (Marx GR:5)
„Der Mensch ist das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."
„Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand. (...) Aber der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts andres als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts. Ist derselbe ein mehreren der Gattung nach gleichen, der Art nach aber unterschiedenen Individuen gemeinschaftlicher Gegenstand, so ist er wenigstens so, wie er diesen Individuen je nach ihrer Verschiedenheit Objekt ist, ihr eignes aber gegenständliches Wesen." (Feuerbach 1976a:20f)
Individuum und Gesellschaft sind für Marx, genau wie Bunge dies fordert, nur zwei Seiten derselben Medaille. Individuen wie Gesellschaft sind gleichermaßen Wirklichkeit. Eine einseitige Betrachtung des einen oder anderen Aspekts ist nur idealtypisch gerechtfertigt. Wie man auch die marxsche Position im einzelnen fassen mag, eines ist sie auf jeden Fall nicht: planer Holismus! Würde Marx das gesellschaftliche Sein extrem holistisch [1]) auffassen, so wäre letztlich auch seiner Kritik an Hegels Geist aller Wind aus dem Segel genommen. Im Übrigen ist nach Marx die Stellung des Individuums in jeder Gesellschaftsformation verschieden. Die Robinsonaden der economics (Lange 1964a:296f) sowie die Konstruktionen vertragstheoretischer Art stellen für ihn nichts weiter als Rückprojektionen der Ideale des bürgerlichen Liberalismus in die geschichtliche Vergangenheit dar:
"Erst in dem 18. Jahrhundert, in der 'bürgerlichen Gesellschaft', treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit."
Granovetter (1985a) unterscheidet eine undersocialized und eine oversocialized Version des methodologischen Individualismus. Parsons, der gewöhnlich als prototypischer Vertreter der oversocialized Version betrachtet wird, hat sicherlich darin unrecht, wenn er eine geteilte Wertorientierung als eine notwendige Bedingung für das Gelingen von Interaktionen annimmt. Wertorientierungen greifen nur sehr vermittelt auf Handlungssysteme zu.
[1]) „It is, above all, necessary to avoid once more establishing 'society' as an abstraction over against the individual. The individual is the social being. His vital expression – even when it does not appear in the direct form of a communal expression, conceived in association with other men -- is therefore an expression and confirmation of social life. Man's individual and species-life are not two distinct things, however much -- and this is necessarily so -- the mode of existence of individual life is a more particular or a more general mode of the species-life, or species-life a more particular or more general individual life. As species-consciousness man confirms his real social life and merely repeats in thought his actual existence; conversely, species-being confirms itself in species-consciousness and exists for itself in its universality, as a thinking being. Man, however much he may therefore be a particular individual -- and it is just this particularity which makes him an individual totality, the ideal totality, the subjective existence of thought and experienced society for itself; he also exists in reality as the contemplation and true enjoyment of social existence and as a totality of vital human expression. It is true that thought and being are distinct, but at the same time they are in unity with one another. Death appears as the harsh victory of the species over the particular individual, and seemingly contradicts their unity; but the particular individual is only a particular species-being, and, as such, mortal." (Marx ÖPM:538f)
[2]) „Es geschieht der geschichtlichen Rechtfertigung, wenn sie das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechselt, dass sie dann bewußtlos das Gegenteil dessen tut, was sie beabsichtigt. Wenn das Entstehen einer Institution unter ihren bestimmten Umständen sich vollkommen zweckmäßig und notwendig erweist und hiermit das geleistet ist, was der historische Standpunkt erfordert, so folgt, wenn dies für eine allgemeine Rechtfertigung der Sache selbst gelten soll, vielmehr das Gegenteil, dass nämlich, weil solche Umstände nicht mehr vorhanden sind, die Institution hiermit vielmehr ihren Sinn und ihr Recht verloren hat." (Hegel, Rechtsphilosophie:34)
[3]) Das System dieses Inhalts, wie es sich im Willen unmittelbar vorfindet, ist nur als eine Menge und Mannigfaltigkeit von Trieben, deren jeder der meinige überhaupt neben andern lind zugleich ein Allgemeines und Unbestimmtes ist, das vielerlei Gegenstände und Weisen der Befriedigung hat. [Darin] dass der Wille sich in dieser gedoppelten Unbestimmtheit die Form der Einzelheit gibt (§ 7), ist er beschließend, und nur als beschließender Wille überhaupt ist er wirklicher Willle. Statt etwas beschließen, d.h. die Unbestimmtheit, in welcher der eine sowohl als der andere Inhalt zunächst nur ein möglicher ist, aufheben, hat unsere Sprache auch den Ausdruck: sich entschließen, indem die Unbestimmtheit des Willens selbst, als das Neutrale, aber unendlich befruchtete, der Urkeim alles Daseins, in sich die Bestimmungen und Zwecke enthält und sie nur aus sich hervorbringt." (Hegel, Rechtsphilosophie:54)
[4]) Elster versteht unter "methodologischem Individualismus": „By methodological individualism I mean the doctrine that all social phenomena (their structure and their change) are in principle explicable only in terms of individuals - their properties, goals, and beliefs. This doctrine is not incompatible with any of the following true statements: (a) Individuals often have goals that involve the welfare of other individuals. (b) They often have beliefs about supra-individual entities that are not reducible to beliefs about individuals. 'The capitalists fear the working class' cannot be reduced to the feelings of capitalists concerning individual workers. By contrast, 'The capitalists' profit is threatened by the working class' can be reduced to a complex statement about the consequences of the actions taken by individual workers. (c) Many properties of individuals, such as 'powerful,' are irreducibly relational, so that accurate description of one individual may require reference to other individuals." Der Begriff selbst wurde wohl zuerst durch Schumpeter (1965c) geprägt. Einen Überblick geben Agassi (1960a) sowie Brodbeck (1958a).
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