Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Marx als methodologischer Individualist

Bei einer Auseinandersetzung mit Hochhuth führt Adorno an,

„dass Hegel und Marx das Individuum nicht als Naturkategorie, sondern als ge­schichtlich, nämlich vermöge der Arbeit erst Entspringendes bestimmten; das war das stärkste Motiv des Angriffs von Marx auf Feuerbach, gegen den er He­gel wie­der zu Ehren brachte. Ist aber das Individuum ein Entsprungenes, so wacht keine Seinsordnung darüber, dass es nicht ebenso wieder vergehen könn­te." (Adorno 1971a:135)

Dass Marxens Theorie nicht einfach, wie es Weber schien, als eine Variante hegelscher So­zi­al­philosophie aufgefasst werden kann, zeigte schon der vorangegangene Abschnitt, wo ge­zeigt wurde, dass Marx Feuerbachs Kritik an der hegelschen Begriffslogik aufgenommen und er mit­nichten die emanati­sti­sche Logik rezipiert hat. Marx geht nicht von der Idee, sondern von der Wirklichkeit, nicht vom All­gemeinen, sondern von gesellschaftlich vermittelten Individuen aus:

"In Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt." (Marx GR:5)

„Der Mensch ist das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."

„Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand. (...) Aber der Gegenstand, auf wel­chen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts andres als das eig­ne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts. Ist derselbe ein mehreren der Gattung nach gleichen, der Art nach aber unterschiedenen Individuen ge­meinschaftlicher Gegenstand, so ist er wenigstens so, wie er diesen Individuen je nach ihrer Ver­schiedenheit Objekt ist, ihr eignes aber gegen­ständli­ches We­sen." (Feuerbach 1976a:20f)

Individuum und Gesellschaft sind für Marx, genau wie Bunge dies fordert, nur zwei Seiten der­selben Medaille. Individuen wie Gesellschaft sind gleichermaßen Wirklichkeit. Eine ei­nsei­ti­ge Betrachtung des einen oder anderen Aspekts ist nur idealtypisch gerechtfertigt. Wie man auch die marxsche Positi­on im einzelnen fassen mag, eines ist sie auf jeden Fall nicht: planer Ho­lismus! Würde Marx das ge­sell­schaftliche Sein extrem holistisch [1]) auffassen, so wäre letzt­lich auch seiner Kritik an Hegels Geist aller Wind aus dem Segel genommen. Im Übrigen ist nach Marx die Stel­lung des Individuums in jeder Gesellschaftsformation verschieden. Die Ro­binsonaden der economics (Lange 1964a:296f) sowie die Konstruktionen vertragstheo­re­ti­scher Art stellen für ihn nichts weiter als Rückprojektionen der Ideale des bürgerlichen Libe­ra­lis­mus in die geschichtliche Vergangenheit dar:

"Erst in dem 18. Jahrhundert, in der 'bürgerlichen Gesellschaft', treten die ver­schied­nen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als blo­ßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit."

Granovetter (1985a) unterscheidet eine undersocialized und eine oversocialized Version des me­tho­dologischen Individualismus. Parsons, der gewöhnlich als prototypischer Vertreter der over­so­ci­alized Version betrachtet wird, hat sicherlich darin unrecht, wenn er eine geteilte Wertorien­tie­rung als eine notwendige Bedingung für das Gelingen von Interaktionen annimmt. Wertorien­tie­run­gen greifen nur sehr vermittelt auf Handlungssysteme zu.

Elster (1982a:453) kritisiert, dass zeitgenössische Marxisten anstelle der Rezeption des un­kla­ren Funk­ti­onalismus [2]) sich zu wenig auf die Ansätze des „rational choice" [3]) und der Ent­schei­dungs­theorie ein­ließen, die sehr viel größeren Gewinn an Erkenntnis für die Darstellung und Er­weite­rung der marx­schen Theorie versprächen. Gemeinsam sei diesen der methodo­lo­gi­sche Individua­lismus. [4])


[1]) „It is, above all, necessary to avoid once more establishing 'society' as an abstraction over against the individual. The individual is the social being. His vital expression – even when it does not appear in the direct form of a communal expression, conceived in association with other men -- is therefore an expression and confirmation of social life. Man's individual and species-life are not two distinct things, however much -- and this is necessarily so -- the mode of existence of indivi­du­al life is a more particular or a more general mode of the species-life, or species-life a more parti­cu­lar or more general individual life. As species-consciousness man confirms his real social life and me­rely repeats in thought his actual existence; conversely, species-being confirms itself in species-consciousness and exists for itself in its universality, as a thinking being. Man, however much he may therefore be a particular individual -- and it is just this particularity which makes him an indi­vi­dual totality, the ideal totality, the subjective existence of thought and experienced society for it­self; he also exists in reality as the contemplation and true enjoyment of social existence and as a to­tality of vital human expression. It is true that thought and being are distinct, but at the same time they are in unity with one another. Death appears as the harsh victory of the species over the par­ticular individual, and seemingly contradicts their unity; but the particular individual is only a particular spe­cies-being, and, as such, mortal." (Marx ÖPM:538f)

[2]) „Es geschieht der geschichtlichen Rechtfertigung, wenn sie das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechselt, dass sie dann bewußtlos das Gegenteil dessen tut, was sie beabsichtigt. Wenn das Entstehen einer Institution unter ihren bestimmten Umständen sich vollkommen zweckmäßig und not­wen­dig erweist und hiermit das geleistet ist, was der histo­ri­sche Standpunkt erfordert, so folgt, wenn dies für eine allgemeine Rechtfertigung der Sache selbst gelten soll, vielmehr das Gegenteil, dass nämlich, weil solche Umstände nicht mehr vorhanden sind, die Institution hiermit vielmehr ihren Sinn und ihr Recht verloren hat." (Hegel, Rechts­philoso­phie:34)

[3]) Das System dieses Inhalts, wie es sich im Willen unmittelbar vorfindet, ist nur als eine Men­ge und Man­nig­faltigkeit von Trieben, deren jeder der meinige überhaupt neben andern lind zu­gleich ein Allgemeines und Unbestimmtes ist, das vielerlei Gegenstände und Weisen der Befriedi­gung hat. [Darin] dass der Wille sich in dieser gedoppelten Unbestimmtheit die Form der Einzel­heit gibt (§ 7), ist er beschließend, und nur als be­schlie­ßender Wille überhaupt ist er wirklicher Will­le. Statt etwas beschließen, d.h. die Unbestimmtheit, in wel­cher der eine sowohl als der andere In­halt zunächst nur ein möglicher ist, aufheben, hat unsere Sprache auch den Ausdruck: sich ent­schlie­ßen, indem die Unbestimmtheit des Willens selbst, als das Neutrale, aber unendlich befruch­te­te, der Urkeim alles Daseins, in sich die Bestimmungen und Zwecke enthält und sie nur aus sich hervorbringt." (Hegel, Rechts­philoso­phie:54)

[4]) Elster versteht unter "methodologischem Individualismus": „By methodological individua­lism I mean the doctrine that all social phenomena (their structure and their change) are in prin­cip­le ex­plicable only in terms of individuals - their properties, goals, and beliefs. This doctrine is not in­com­patible with any of the following true statements: (a) Individuals often have goals that invol­ve the welfare of other individuals. (b) They often have beliefs about supra-individual entities that are not reducible to beliefs about individuals. 'The capitalists fear the working class' cannot be re­duced to the feelings of capitalists concerning individual workers. By contrast, 'The capitalists' pro­fit is threatened by the working class' can be reduced to a complex statement about the con­se­quences of the actions ta­ken by individual workers. (c) Many properties of indivi­du­als, such as 'po­werful,' are irreducibly re­lational, so that accurate description of one individual may require refe­ren­ce to other indivi­duals." Der Begriff selbst wurde wohl zuerst durch Schumpeter (1965c) ge­prägt. Einen Überblick geben Agassi (1960a) sowie Brodbeck (1958a).

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