Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Apriorischer Erkenntnisverzicht

"Dank Popper ist es ein Gemeinplatz, dass einigermaßen detaillierte Progno­sen über künftige Erkenntnisse logisch unmöglich sind. Gerade in ihrer Nicht-Vor­her­sagbarkeit liegt die Bedeutung einer theoretischen Innovation." (Radnitzky 1976a:31)

Wichtiger als alle logische Stringenz der Popperschen Argumentation im einzelnen sind alle­mal die Fragen:

Was hat uns dieser Feldzug gebracht?

Wie wurde die Sozialwissenschaft dadurch gefördert?

Hier geht es also um die Botschaft der Popperizismuskritik für die Sozialwissenschaft. Und diese lautet folgendermaßen:

Aussagen über langfristige Entwicklungstendenzen sind wissenschaftlich nicht mög­lich!

Es sei wissenschaftlich äußerst fragwürdig, sich mit Langzeitprognosen in historischen Di­men­sionen zu befassen, wobei "fragwürdig" hier im moralischen Sinne verstanden wird, näm­lich als "unwissenschaftlich". Ein guter Popper-Schüler wird sich als empirischer Soziologe sa­gen, eine solche Theorie gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben!

„Mit der wichtigen Ausnahme von Mikrosimulationsmodellen für Fragestellun­gen gibt es für den Einsatz von Simulationen zu Prognosezwecken in der So­zi­o­logie keine theoretische Grund­lage. Ohne bewährte Theorien ist die Kon­struk­ti­on eines Simulationsmodells zu Pro­gno­sezwecken sinnlos. Da es solche be­währ­ten Theorien in der Soziologie zumindest für Ma­krophänomene nicht gibt - und mit guten Gründen deren prinzipielle Existenzmöglichkeit be­stritten wer­den kann (Popper 1971; Boudon 1983) - sind quantitative Simulationen sozialer Pro­zes­se daher (zumindest für lange Zeit) in den Sozialwissenschaften nur in we­nigen Aus­nah­mefällen möglich." (Schnell 1990a:114f)

Ist aber deswegen sozialer Wandel, der über die Änderungen des bestehenden Systems hin­aus­geht (Rüschemeyer 1968a:25), theoretisch unerklärbar? Ist ein theoretischer Erklärungs­ver­such von Sy­stem­transformation von vornherein unmöglich, also Aberglaube [1])?! Es käme si­cherlich erst auf den Ver­such an (trial and error)! Wenn Schnell Ausnahmen zulässt und lang­fri­sti­ge Änderungen einräumt, scheint er Poppers Unmöglichkeitsbeweis schon nicht so recht zu trauen. Ein kleiner Sieg des Empiristen über die wissenschaftstheoretsichen Scheuklappen sei­nes Methodologie-Papstes! Es kommt mir hier aber nur darauf an, zu zei­gen, dass von Popper aus ideologischen Motiven heraus die Theorie­konstruktion so­wie die em­pi­rische Forschung überhaupt entmutigt wurde. Popper hat schlecht kantianisch gerade das getan, was er ander­wärts so lautstark kritisiert hat: die Onto­logisierung einer Wissenslücke, d.h. mit gnose­olo­gisch/logischen Argumenten den Bereich empirischer Fragestellungen a priori einzuengen:

"Wir können nur die eine Forderung erheben: Versuchen wir, strenge, be­schrän­kende Ge­set­ze, Verbote aufzustellen, die an der Erfahrung scheitern kön­nen; die Forschung durch Ver­bo­te zu beschränken, sollten wir unterlassen." (Popper 1984a:197)



[1]) "Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Phy­si­schen oder Moralischen." (Kant XI:335,Anm.*)

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