Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Popper als Kulturpsychologe

"Und es gibt den Beweis durch den 'ersten Beweger' .
Aber es gibt immer wieder einen, der noch eher da war als jener.
Nathanael, wie ärgerlich, dass wir nicht dabei waren -
Man hätte gesehen, wie Mann und Weib geschaffen wurden;
Wie sie sich wunderten, nicht als kleine Kinder zur Welt zu kommen;
..."

(Gide 1974a:31)

Popper sagt von seinem Werk:

"Es versucht zu zeigen, dass sich diese Zivilisation noch immer nicht von ih­rem Geburtstrauma erholt hat - vom Trauma des Übergangs aus der Stammes- oder 'geschlossenen' Gesellschaftsordnung, die ma­gischen Kräften unterworfen ist, zur 'offenen' Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Men­schen in Freiheit setzt. Es versucht zu zeigen, dass der Schock dieses Über­gangs einer der Faktoren ist, die den Aufstieg jener reaktionären Bewegungen ermöglich­ten, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rückkehr zur Stam­mes­ge­bun­denheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Und es deu­tet an, dass die Ideen, die wir heute totalitär nennen, einer Tradition angehören, die ebenso alt oder eben­so jung ist wie unsere Zivilisation selbst." (Popper 1980a:3)

Platt formuliert: Kommunismus und Faschismus gehen auf Hegel und Marx zurück, aber letzt­lich stammen alle diese Ideen aus dem Urwald, als der Mensch noch als Horden­tier auf den Bäumen gelebt hat. Dagegen gibt es für Popper nur eine po­li­ti­sche Alterna­tive: die offene Ge­sellschaft, eine normative Konzeption, in der Popper Ge­mein­schaft und Gesellschaft [1]), me­cha­nische und organische Solidarität (Durkheim), Primärgruppe und Sekundärgruppe, Os­ten und Westen zusammenlaufen und verschmelzen, wie Hegel im Absoluten Religion und Phi­lo­so­phie, Endliches und Unendliches, Wahres und Nicht-ganz-so-wahres eingeschmolzen hat. Für Jarvie u. Shearmur (1996a:445), denen all dies unerhört vorkommt, sind dies new ideas of Western liberal society".

Dies trägt nun Popper in dem vorgenannten 2-bändigen Werk als persönliches Glau­bens­be­kenntnis vor, mehr als Meinung eines Privatmannes und als Kuriosum und so zur Gaudi, die tat­sächlich auch viele damit gehabt haben wollen. Einen ausgesprochen wissenschaftlichen [2]) An­spruch erhebt Popper (1987a) dann aber mit „Das Elend des Popperizismus". Die wissen­schaft­li­che Rezeption hat sich daher bei der Frage dieser Diskrepanz im wissenschaftlichen An­spruch bei­der Werke nie lange aufgehalten, wie z. B. Alberts zahlreiche Literaturverweise in sei­nen methodologischen Aufsätzen hinreichend belegen.

Poppers Abriss seiner eigentümlichen Kulturpsychologie der Völker stellt jedenfalls selbst mehr Phrase dar als das, was die von ihm als Pseudo-Wissenschaft gebrandmarkte Psychoana­ly­se [3]) freudscher Prägung an theoretischer Erklärung anzubieten wusste.

Wie können Menschen in Verhaltensformen zurückfallen, die zu ihrem eigenen rationalen Ni­veau und der gegenwärtigen Stufe aufgeklärter technischer Zivilisation in krassem Wider­spruch sehen?

Dies ist das Problem. Es kann auch gesehen werden als das technische Problem von Demago­gie oder faschistischer Propaganda, nämlich Menschen in eine Masse zu verwandeln.

„Der Faschismus ist als Rebellion gegen die Zivilisation nicht einfach eine Wie­derholung des Archaischen, sondern dessen Wiedererzeugung in der Zivi­lisa­ti­on durch die Zivilisation selbst." (Adorno 1971a:41f)

Das Individuum kommt in der Masse unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängun­gen seiner unbewussten Triebregungen abzuwerfen.

„Es ist ein Grundprinzip des faschistischen Führertums, die primäre Libido-Ener­gie auf der unbewussten Ebene festzuhalten, um ihre Manifestationen in ei­ner für die politischen Zwecke geeigneten Weise ablenken zu können." (Adorno 1971a:43)

Nun scheint mir die von Adorno nachvollzogene freudsche Theorie faschistischer Massenbe­ein­flus­sung um etliches gehaltvoller als Poppers Grundzüge der Kulturpsychologie zu sein, wie ja so oft die Klassiker ihre Vorzüge gegenüber ihren Nachahmern aufweisen. Adorno bezieht sich dabei insbeson­de­re auf Freud (1955a), nämlich „Massenpsychologie und Ich-Analyse". Was dieser psychoana­lytischen Theorie nur noch fehlt, um sie empirisch falsifizierbar zu ma­chen, ist eine eindeutige Messtheorie. Es ist jedoch nichts weniger als außergewöhnlich in der Wissenschaft, dass häufig Erklärungsskizzen und Theorien entwickelt werden, wozu lange Zeit noch entsprechende Mess­theorien fehlen [4]). Selbst Ga­li­lei fand sich in derselben Lage, mittels metaphysischer Argumente über das Fehlen einer brauch­baren Messtheorie hinwegtäuschen zu müssen (Feyerabend 1976a:224). Und Albert (1972c:209) nimmt dieses Abwehrargument gar für die Nutzentheorie der neoklassischen Ökonomie in Anspruch, ob­wohl doch viele denken wer­den, dass die Ökonomen schon Zeit genug gehabt hätten, sich etwas von der Art einfallen zu las­sen. Nichtsdestoweniger können Adornos Hypothesen im Zusammenhang von Analysen der po­litischen Geschichte er­probt werden.[5]) Im Übrigen soll noch angemerkt werden, dass auch Parsons in seiner Gesell­schafts­the­o­rie auf theoretische Ideen Freuds zurückgegriffen hat (Rü­schemeyer 1968a:10). Poppers pontifikale Ver­dammung der Psychoanalyse (sie gilt auch seinen Nachbetern gleich neben dem Marxismus als das Lehr­buch­beispiel einer Pseudo-Wissenschaft) erscheint demnach nicht nur reichlich über­zo­gen, son­dern ungerechtfertigt und auf jeden Fall allzu verfrüht ausge­spro­chen.

Das Thema „Totalitarismus" oder politischer Radikalismus einer dem System entfremdeten „Mas­se" ist aber nicht ausgestanden. Es ist kein Thema der Vergangenheitsbewältigung mehr, son­dern eines der Gegenwart. Poppers psychologisierende Kulturkritik, nur ein anderer, ein di­a­gnostizie­rend auftreten­der Stil von Prophetentum, dienen wie andere veralteten liberale Denk­muster lediglich zur ideologi­schen Fassade für eine brave new world des neoliberalen In­for­ma­ti­ons­zeitalters [6]). Entscheidend für die politische Gegenwart sind aber nicht historische Ge­burts­traumata aus der Vorzeit, sondern die realen sozialen und ökonomischen Probleme, die aus dem gegenwär­tigen System resultieren. [7])



[1]) Tönnies 1922a; König 1955b; Heberle 1955a; Wurzbacher 1955a

[2]) "Die systematische Analyse des Popperizismus zielt auf Wissenschaftlichkeit. Nicht so die­ses Werk. In ihm werden viele Ansichten ausgesprochen, die persönlicher Natur sind." (Popper 1980a:6)

[3]) Poppers Animosität gegenüber Psychoanalyse könnte evtl. auf seinen akademischen Lehrer Bühler zurückgehen (Wettersten 1992a:143). Siehe indes den Versuch einer Neubewertung der Psy­choanalyse durch Wisdom (1966a)!

[4]) „As Agassi has pointed out, one person may invent a good theory, another may render it te­stable and a third person may refute it. Popper’s own example shows that this process may last cen­turies." (Wettersten 1992a:201)

[5]) „Die faschistische ‘Ästhetisierung des politischen Lebens’, von der Walter Benjamin sagt, sie lasse die ‘Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen’, jener ‘ästhetische Abzug von der Ar­bei­terbewegung’, wie Wolfgang Fritz Haug den Funktionszusammenhang von Ästhetisierung und Herr­schafts­sicherung näher kennzeichnet, wird - wenn auch nicht geradlinig und bedenkenlos - von Schoenbaum oh­ne den von Benjamin und, heute, von Haug beschriebenen Funktionsbezug hingenommen." (Hennig 1973a:32)

[6]) „The state, under current conditions of pan-capitalism, functions to administer austerity to a population that has been conditioned in hi-tech consumer economies to desire a virtual paradise. The frustrated will to (hap­py) virtuality turns into the terror of economic abandonment: the night­mare of 'homelessness.' As Deena Wein­stein notes, the homeless aren't wired. And then think of the legion who are kicked into the production ma­chine and then kicked back into their holes where they are wired and recharged for another day's pro­duc­tion of virtuality. Austerity is the public po­li­cy of managed depression. The people don't like it. Maybe they won't take it from a (post-) liberal state. Fascism-- getting ours expressly at the expense of others-- is a live option. Austerity in itself is a form of injurious neglect." (Kroker, Weinstein)

[7]) „Der Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen aus dem sozio-ökonomischen Reprodukti­ons­rahmen be­wirkt auf der individuellen Ebene psychische Instabilitäten und normative Diffusio­nen; Gefühle der Be­dro­hung und der Ratlosigkeit bilden einen fruchtbaren Nährboden für Ressen­timents und Hasssyndrome. Ge­samt­ge­sell­schaft­lich schwindet das schon erreichte Niveau der Rea­li­tätswahrnehmung und gewährt re­gressiven Re­ak­ti­ons­formen einen ungestörten Entfaltungsraum. Die Zunahme von Irrationalität und Gewalt, die Ausbreitung von Wun­der­glau­ben und obskuren Er­lösungserwartungen sind die Symptome eines zuneh­men­den Zivilisationsverlustes." (Seppmann 1998a)

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