"Und es gibt den Beweis durch den 'ersten Beweger' .
Aber es gibt immer wieder einen, der noch eher da war als jener.
Nathanael, wie ärgerlich, dass wir nicht dabei waren -
Man hätte gesehen, wie Mann und Weib geschaffen wurden;
Wie sie sich wunderten, nicht als kleine Kinder zur Welt zu kommen;..."
(Gide 1974a:31)
Popper sagt von seinem Werk:
"Es versucht zu zeigen, dass sich diese Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat - vom Trauma des Übergangs aus der Stammes- oder 'geschlossenen' Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur 'offenen' Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen in Freiheit setzt. Es versucht zu zeigen, dass der Schock dieses Übergangs einer der Faktoren ist, die den Aufstieg jener reaktionären Bewegungen ermöglichten, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rückkehr zur Stammesgebundenheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Und es deutet an, dass die Ideen, die wir heute totalitär nennen, einer Tradition angehören, die ebenso alt oder ebenso jung ist wie unsere Zivilisation selbst." (Popper 1980a:3)
Platt formuliert: Kommunismus und Faschismus gehen auf Hegel und Marx zurück, aber letztlich stammen alle diese Ideen aus dem Urwald, als der Mensch noch als Hordentier auf den Bäumen gelebt hat. Dagegen gibt es für Popper nur eine politische Alternative: die offene Gesellschaft, eine normative Konzeption, in der Popper Gemeinschaft und Gesellschaft [1]), mechanische und organische Solidarität (Durkheim), Primärgruppe und Sekundärgruppe, Osten und Westen zusammenlaufen und verschmelzen, wie Hegel im Absoluten Religion und Philosophie, Endliches und Unendliches, Wahres und Nicht-ganz-so-wahres eingeschmolzen hat. Für Jarvie u. Shearmur (1996a:445), denen all dies unerhört vorkommt, sind dies „new ideas of Western liberal society".
Dies trägt nun Popper in dem vorgenannten 2-bändigen Werk als persönliches Glaubensbekenntnis vor, mehr als Meinung eines Privatmannes und als Kuriosum und so zur Gaudi, die tatsächlich auch viele damit gehabt haben wollen. Einen ausgesprochen wissenschaftlichen [2]) Anspruch erhebt Popper (1987a) dann aber mit „Das Elend des Popperizismus". Die wissenschaftliche Rezeption hat sich daher bei der Frage dieser Diskrepanz im wissenschaftlichen Anspruch beider Werke nie lange aufgehalten, wie z. B. Alberts zahlreiche Literaturverweise in seinen methodologischen Aufsätzen hinreichend belegen.
Poppers Abriss seiner eigentümlichen Kulturpsychologie der Völker stellt jedenfalls selbst mehr Phrase dar als das, was die von ihm als Pseudo-Wissenschaft gebrandmarkte Psychoanalyse [3]) freudscher Prägung an theoretischer Erklärung anzubieten wusste.
Wie können Menschen in Verhaltensformen zurückfallen, die zu ihrem eigenen rationalen Niveau und der gegenwärtigen Stufe aufgeklärter technischer Zivilisation in krassem Widerspruch sehen?
Dies ist das Problem. Es kann auch gesehen werden als das technische Problem von Demagogie oder faschistischer Propaganda, nämlich Menschen in eine Masse zu verwandeln.
„Der Faschismus ist als Rebellion gegen die Zivilisation nicht einfach eine Wiederholung des Archaischen, sondern dessen Wiedererzeugung in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst." (Adorno 1971a:41f)
Das Individuum kommt in der Masse unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängungen seiner unbewussten Triebregungen abzuwerfen.
„Es ist ein Grundprinzip des faschistischen Führertums, die primäre Libido-Energie auf der unbewussten Ebene festzuhalten, um ihre Manifestationen in einer für die politischen Zwecke geeigneten Weise ablenken zu können." (Adorno 1971a:43)
Nun scheint mir die von Adorno nachvollzogene freudsche Theorie faschistischer Massenbeeinflussung um etliches gehaltvoller als Poppers Grundzüge der Kulturpsychologie zu sein, wie ja so oft die Klassiker ihre Vorzüge gegenüber ihren Nachahmern aufweisen. Adorno bezieht sich dabei insbesondere auf Freud (1955a), nämlich „Massenpsychologie und Ich-Analyse". Was dieser psychoanalytischen Theorie nur noch fehlt, um sie empirisch falsifizierbar zu machen, ist eine eindeutige Messtheorie. Es ist jedoch nichts weniger als außergewöhnlich in der Wissenschaft, dass häufig Erklärungsskizzen und Theorien entwickelt werden, wozu lange Zeit noch entsprechende Messtheorien fehlen [4]). Selbst Galilei fand sich in derselben Lage, mittels metaphysischer Argumente über das Fehlen einer brauchbaren Messtheorie hinwegtäuschen zu müssen (Feyerabend 1976a:224). Und Albert (1972c:209) nimmt dieses Abwehrargument gar für die Nutzentheorie der neoklassischen Ökonomie in Anspruch, obwohl doch viele denken werden, dass die Ökonomen schon Zeit genug gehabt hätten, sich etwas von der Art einfallen zu lassen. Nichtsdestoweniger können Adornos Hypothesen im Zusammenhang von Analysen der politischen Geschichte erprobt werden.[5]) Im Übrigen soll noch angemerkt werden, dass auch Parsons in seiner Gesellschaftstheorie auf theoretische Ideen Freuds zurückgegriffen hat (Rüschemeyer 1968a:10). Poppers pontifikale Verdammung der Psychoanalyse (sie gilt auch seinen Nachbetern gleich neben dem Marxismus als das Lehrbuchbeispiel einer Pseudo-Wissenschaft) erscheint demnach nicht nur reichlich überzogen, sondern ungerechtfertigt und auf jeden Fall allzu verfrüht ausgesprochen.
Das Thema „Totalitarismus" oder politischer Radikalismus einer dem System entfremdeten „Masse" ist aber nicht ausgestanden. Es ist kein Thema der Vergangenheitsbewältigung mehr, sondern eines der Gegenwart. Poppers psychologisierende Kulturkritik, nur ein anderer, ein diagnostizierend auftretender Stil von Prophetentum, dienen wie andere veralteten liberale Denkmuster lediglich zur ideologischen Fassade für eine brave new world des neoliberalen Informationszeitalters [6]). Entscheidend für die politische Gegenwart sind aber nicht historische Geburtstraumata aus der Vorzeit, sondern die realen sozialen und ökonomischen Probleme, die aus dem gegenwärtigen System resultieren. [7])
[1]) Tönnies 1922a; König 1955b; Heberle 1955a; Wurzbacher 1955a
[2]) "Die systematische Analyse des Popperizismus zielt auf Wissenschaftlichkeit. Nicht so dieses Werk. In ihm werden viele Ansichten ausgesprochen, die persönlicher Natur sind." (Popper 1980a:6)
[3]) Poppers Animosität gegenüber Psychoanalyse könnte evtl. auf seinen akademischen Lehrer Bühler zurückgehen (Wettersten 1992a:143). Siehe indes den Versuch einer Neubewertung der Psychoanalyse durch Wisdom (1966a)!
[4]) „As Agassi has pointed out, one person may invent a good theory, another may render it testable and a third person may refute it. Popper’s own example shows that this process may last centuries." (Wettersten 1992a:201)
[5]) „Die faschistische ‘Ästhetisierung des politischen Lebens’, von der Walter Benjamin sagt, sie lasse die ‘Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen’, jener ‘ästhetische Abzug von der Arbeiterbewegung’, wie Wolfgang Fritz Haug den Funktionszusammenhang von Ästhetisierung und Herrschaftssicherung näher kennzeichnet, wird - wenn auch nicht geradlinig und bedenkenlos - von Schoenbaum ohne den von Benjamin und, heute, von Haug beschriebenen Funktionsbezug hingenommen." (Hennig 1973a:32)
[6]) „The state, under current conditions of pan-capitalism, functions to administer austerity to a population that has been conditioned in hi-tech consumer economies to desire a virtual paradise. The frustrated will to (happy) virtuality turns into the terror of economic abandonment: the nightmare of 'homelessness.' As Deena Weinstein notes, the homeless aren't wired. And then think of the legion who are kicked into the production machine and then kicked back into their holes where they are wired and recharged for another day's production of virtuality. Austerity is the public policy of managed depression. The people don't like it. Maybe they won't take it from a (post-) liberal state. Fascism-- getting ours expressly at the expense of others-- is a live option. Austerity in itself is a form of injurious neglect." (Kroker, Weinstein)
[7]) „Der Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen aus dem sozio-ökonomischen Reproduktionsrahmen bewirkt auf der individuellen Ebene psychische Instabilitäten und normative Diffusionen; Gefühle der Bedrohung und der Ratlosigkeit bilden einen fruchtbaren Nährboden für Ressentiments und Hasssyndrome. Gesamtgesellschaftlich schwindet das schon erreichte Niveau der Realitätswahrnehmung und gewährt regressiven Reaktionsformen einen ungestörten Entfaltungsraum. Die Zunahme von Irrationalität und Gewalt, die Ausbreitung von Wunderglauben und obskuren Erlösungserwartungen sind die Symptome eines zunehmenden Zivilisationsverlustes." (Seppmann 1998a)
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