Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Reduktion von Soziologie auf Psychologie?

Man darf Popper wie Elster zunächst beim Wort nehmen und den von ih­nen vorgeschlagenen Indivi­du­alismus als methodologische Idee betrachten und in der Anwen­dung überprüfen. Dem steht kein wesentlicher Einwand entgegen, geht es doch bei jeder Be­griffs­bildung und Modellierung um ein Ab­stra­hieren von Bedingungen, die nichtsde­sto­we­ni­ger real vorherr­schen können. Keine Modellbildung kommt um solche Reduktion von Komple­xität, oder mit Marx zu sprechen, um das Aufsteigen vom Kon­kreten zum Abstrakten und her­nach die Rück­wärtsbewegung vom Abstrakten zum Konkreten herum. Umstritten und ent­spre­chend unterschiedlich bewertet sind die erkenntnistheoretische und be­griffs­logische Deutungen dieses Verfahrens. Wichtig dürfte dabei im Hintergrund der methodologi­schen Auswahl von Ver­hal­tens­annahmen (das einem Modell zugrunde gelegte „Menschenbild") ste­hen, dass sich die me­tho­dologische Zweckentscheidungen an einer bestimmten Anthropologie orien­tie­ren. Die scherz­hafte Aufforderung Essers (1993a), bei der Modellbildung die gesamte Anthropolo­gie mög­lichst sofort wieder zu vergessen, kann wohl nicht ernst genommen werden. Zumindest scheint sich dahinter ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Anthropologie und Methodologie der Mo­dell­bildung zu verbergen. Der Anthropologie widmet Esser (1993a) den größten Teil seines „Soziolo­gie"-Lehrbuchs. Damit ist Poppers Kritik der Umkehrung des Verhält­nis­ses von An­thro­polo­gie und Soziologie auf ihn anwendbar:

„... es scheint, dass sich die Soziologie mehr und mehr damit abfindet, ein Teil der sozialen Anthropologie zu werden; nämlich die auf eine sehr spezielle Ge­sell­schaftsform angewandte soziale Anthropologie - die Anthropologie der hoch­industrialisierten westeuropäischen Ge­sellschaftsformen." (Popper 1969b:108)

Das Prekäre scheint mir darin zu liegen, dass die der Soziologie bislang eigene histo­risch-soziale Problemperspektive vertauscht wird mit der zynischen Schein­objektivität von Sozial­biologie.

„Der Sieg der Anthropologie ist der Sieg einer angeblich beobachtenden, angeb­lich beschrei­benden und angeblich objektiveren und daher dem Anschein nach naturwissenschaftlichen Me­thode. Es ist ein Pyrrhussieg: noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren - das heißt näml­ich die Anthropologie und die Soziolo­gie." (Popper 1969b:108f)

In diesem Sinne aber hat Marx (ÖPM) das anthropologische Grundmodell Hegels kritisch über­prüft und Albert (1954a) die "abstrakte Psychologie" (König 1955b:355) des neoklassischen homo oecono­mi­cus. Und dies ist eine theoretische Herausforderung, der sich auch jeder einzelne Er­klä­rungsansatz der neoinstitutionellen Ökonomie (Eggertson 1990a) stellen muss, wenn er nicht in modell-platonisti­schen Unverbindlichkeiten stecken bleiben will.

Marxens Darstellung legt ähnlich wie Poppers „Situationslogik" auf die Objek­ti­vität der Situation den größten Nachdruck:

"Es gibt aber Verhältnisse, welche sowohl die Handlungen der Privatleute als der einzelnen Behörden bestimmen und so unabhängig von ihnen sind als die Me­thode des Atemholens. Stellt man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man weder den guten oder den bösen Willen weder auf der einen noch auf der anderen Seite voraussetzen, sondern Verhältnisse wir­ken sehen, wo auf den ersten Blick nur Personen zu wirken schei­nen." (MEW 1:188)

Es ist also die Annahme, dass die Systemelemente der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Makro-Variablen gebildet werden, die sich als System gegenüber dem Individualverhalten ab­schlie­ßen lassen (Addis 1968a:328). Daher kommen für die politische Ökonomie dreierlei Arten von Gesetzen in Frage (Lange 1963a:61):

1. Gesetze, die technische Zusammenhänge und Materialbilanzen betreffen,

2. Gesetze über individuelles Verhalten und

3. Gesetze über das Zusammenwirken der Handlungen einer Vielzahl von Indi­vi­duen.

Wenn ein nach Gesetzen verlaufender Makro-Prozess auf der Ebene der Produktionsverhält­nisse behauptet wird, schließt dies keineswegs aus, dass er prinzipiell in Merkmalen und Relati­o­nen von Individuen formulierbar ist:

Ob damit Politische Ökonomie oder Soziologie auf Psychologie "reduzierbar" seien, hängt jedoch von der Begriffsabgrenzung der betreffenden Disziplinen ab. Damit ist die Prüfung der Reduzier­bar­keit einer Theorie auf eine andere nicht müßig, denn sie kann dazu beitragen, den Geltungsbereich der betreffenden Theorien aufzuklären. Wenn somit "holistische" Begriffe im Grunde für die Wissenschafts­sprache überflüssig erscheinen, ist doch festzuhalten, dass sie als Be­standteile von Ideologien zum Objektbereich der Sozialwissenschaften und damit in ihre Ob­jekt­sprache Eingang finden. Eine dialektische Gesellschaftstheorie, die bisheriges Erfah­rungs­wissen durch immanente Kritik über­schrei­ten will, muss zuvor an diesen vorgegebenen dogma­tischen Formen ansetzen. Andererseits, wäre zu bedenken, ob nicht auch das Ziel von Ideolo­gie-Kritik, nämlich eine völlige Freiheit von Ideologie, seinem Charakter nach utopisch ist.

Während Marx grundsätzlich mit dem Standpunkt des methodologischen Individualismus die An­nah­me teilt, dass die Geschichte durch die Menschen gemacht wird (MEW 21:296), lässt sich für ihn diese doch nicht ausschließlich auf allgemeinste Gesetze des Individualverhaltens zu­rück­füh­ren. Somit besagt Marxens ökonomischer Determinismus nichts weiter, als dass es Ge­setze gibt, die außerökono­mi­sche Entwicklungen unter Bezugnahme auf ökonomische Faktoren erklären (Addis 1968a:333), wo­bei die Produktionsweise als geschlossen erklärbares System ge­nommen wird.

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