Man darf Popper wie Elster zunächst beim Wort nehmen und den von ihnen vorgeschlagenen Individualismus als methodologische Idee betrachten und in der Anwendung überprüfen. Dem steht kein wesentlicher Einwand entgegen, geht es doch bei jeder Begriffsbildung und Modellierung um ein Abstrahieren von Bedingungen, die nichtsdestoweniger real vorherrschen können. Keine Modellbildung kommt um solche Reduktion von Komplexität, oder mit Marx zu sprechen, um das Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten und hernach die Rückwärtsbewegung vom Abstrakten zum Konkreten herum. Umstritten und entsprechend unterschiedlich bewertet sind die erkenntnistheoretische und begriffslogische Deutungen dieses Verfahrens. Wichtig dürfte dabei im Hintergrund der methodologischen Auswahl von Verhaltensannahmen (das einem Modell zugrunde gelegte „Menschenbild") stehen, dass sich die methodologische Zweckentscheidungen an einer bestimmten Anthropologie orientieren. Die scherzhafte Aufforderung Essers (1993a), bei der Modellbildung die gesamte Anthropologie möglichst sofort wieder zu vergessen, kann wohl nicht ernst genommen werden. Zumindest scheint sich dahinter ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Anthropologie und Methodologie der Modellbildung zu verbergen. Der Anthropologie widmet Esser (1993a) den größten Teil seines „Soziologie"-Lehrbuchs. Damit ist Poppers Kritik der Umkehrung des Verhältnisses von Anthropologie und Soziologie auf ihn anwendbar:
„... es scheint, dass sich die Soziologie mehr und mehr damit abfindet, ein Teil der sozialen Anthropologie zu werden; nämlich die auf eine sehr spezielle Gesellschaftsform angewandte soziale Anthropologie - die Anthropologie der hochindustrialisierten westeuropäischen Gesellschaftsformen." (Popper 1969b:108)
Das Prekäre scheint mir darin zu liegen, dass die der Soziologie bislang eigene historisch-soziale Problemperspektive vertauscht wird mit der zynischen Scheinobjektivität von Sozialbiologie.
„Der Sieg der Anthropologie ist der Sieg einer angeblich beobachtenden, angeblich beschreibenden und angeblich objektiveren und daher dem Anschein nach naturwissenschaftlichen Methode. Es ist ein Pyrrhussieg: noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren - das heißt nämlich die Anthropologie und die Soziologie." (Popper 1969b:108f)
In diesem Sinne aber hat Marx (ÖPM) das anthropologische Grundmodell Hegels kritisch überprüft und Albert (1954a) die "abstrakte Psychologie" (König 1955b:355) des neoklassischen homo oeconomicus. Und dies ist eine theoretische Herausforderung, der sich auch jeder einzelne Erklärungsansatz der neoinstitutionellen Ökonomie (Eggertson 1990a) stellen muss, wenn er nicht in modell-platonistischen Unverbindlichkeiten stecken bleiben will.
Marxens Darstellung legt ähnlich wie Poppers „Situationslogik" auf die Objektivität der Situation den größten Nachdruck:
"Es gibt aber Verhältnisse, welche sowohl die Handlungen der Privatleute als der einzelnen Behörden bestimmen und so unabhängig von ihnen sind als die Methode des Atemholens. Stellt man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man weder den guten oder den bösen Willen weder auf der einen noch auf der anderen Seite voraussetzen, sondern Verhältnisse wirken sehen, wo auf den ersten Blick nur Personen zu wirken scheinen." (MEW 1:188)
Es ist also die Annahme, dass die Systemelemente der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Makro-Variablen gebildet werden, die sich als System gegenüber dem Individualverhalten abschließen lassen (Addis 1968a:328). Daher kommen für die politische Ökonomie dreierlei Arten von Gesetzen in Frage (Lange 1963a:61):
1. Gesetze, die technische Zusammenhänge und Materialbilanzen betreffen,
2. Gesetze über individuelles Verhalten und
3. Gesetze über das Zusammenwirken der Handlungen einer Vielzahl von Individuen.
Wenn ein nach Gesetzen verlaufender Makro-Prozess auf der Ebene der Produktionsverhältnisse behauptet wird, schließt dies keineswegs aus, dass er prinzipiell in Merkmalen und Relationen von Individuen formulierbar ist:
Ob damit Politische Ökonomie oder Soziologie auf Psychologie "reduzierbar" seien, hängt jedoch von der Begriffsabgrenzung der betreffenden Disziplinen ab. Damit ist die Prüfung der Reduzierbarkeit einer Theorie auf eine andere nicht müßig, denn sie kann dazu beitragen, den Geltungsbereich der betreffenden Theorien aufzuklären. Wenn somit "holistische" Begriffe im Grunde für die Wissenschaftssprache überflüssig erscheinen, ist doch festzuhalten, dass sie als Bestandteile von Ideologien zum Objektbereich der Sozialwissenschaften und damit in ihre Objektsprache Eingang finden. Eine dialektische Gesellschaftstheorie, die bisheriges Erfahrungswissen durch immanente Kritik überschreiten will, muss zuvor an diesen vorgegebenen dogmatischen Formen ansetzen. Andererseits, wäre zu bedenken, ob nicht auch das Ziel von Ideologie-Kritik, nämlich eine völlige Freiheit von Ideologie, seinem Charakter nach utopisch ist.
Während Marx grundsätzlich mit dem Standpunkt des methodologischen Individualismus die Annahme teilt, dass die Geschichte durch die Menschen gemacht wird (MEW 21:296), lässt sich für ihn diese doch nicht ausschließlich auf allgemeinste Gesetze des Individualverhaltens zurückführen. Somit besagt Marxens ökonomischer Determinismus nichts weiter, als dass es Gesetze gibt, die außerökonomische Entwicklungen unter Bezugnahme auf ökonomische Faktoren erklären (Addis 1968a:333), wobei die Produktionsweise als geschlossen erklärbares System genommen wird.
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