„In Ansehung des im Paragraphen zuerst genannten geschichtlichen Elements im positiven Rechte hat Montesquieu die wahrhafte historische Ansicht, den echt philosophischen Standpunkt angegeben, die Gesetzgebung überhaupt und ihre besonderen Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, sondern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit ausmachen; in diesem Zusammenhange erhalten sie ihre wahrhafte Bedeutung sowie damit ihre Rechtfertigung." *)
Habermas (1963a) bringt unter anderem den Totalitäts-Begriff gegenüber dem herrschenden Positivismus zur Geltung. Albert (1969a) steht solchem Beginnen ziemlich ungehalten gegenüber, da jener Nagels (1961a) Kritik am Ganzheits-Begriff zurückzuweisen scheint, ohne davon den Begriff der Totalität zu scheiden zu wollen, ja um ihn im Endeffekt sogar als unexplizierbar zu behandeln. Dass dies einen Albert nicht befriedigen kann, ist sonnenklar. Auch Poppers (1987a) und Kempskis (1964a) Holismuskritik habe Habermas schlichtweg ignoriert. So steht denn auch Keuth (1993a:26) mit seinem wohlgebildeten formallogischen Instrumentenkoffer de luxe da und rätselt am Torso des habermasschen Totalitätsbegriff herum. Entweder enthalte er alle erklärungsrelevanten Elemente, dann sei er nicht dialektisch; falls nicht, so sei er bloßes Zierwerk. Keuth sieht ganz richtig, dass der philosophische Begriff der Totalität den Rahmen der derzeit üblichen formalen Logik sprengt. Das Problem mit Keuth ist nur, dass er einen durchschlagenden Einwand zu formulieren glaubt, wo für den dialektischen Philosophen das Problem erst gestellt ist: dass Keuth nämlich die Idee der Totalität nie zu fassen bekommt, wenn er nicht die formale Logik selbst, zumindest in ihrer heute üblichen Form, zur Diskussion stellt. Denn Dialektik zielt eben gerade in der hegelschen Tradition auf eine Kritik der analytischen Logik (verstanden in der Kantischen Fassung) und der ihr entsprechenden universalisierenden Wertbetrachtung. Wenn Keuth aber die analytische Logik in der von ihm vertreten Form von vornherein als alternativenlos verbindlich unterstellt, betreibt er damit eine petitio principii und muss daher stets am Kern der Debatte vorbei schießen. Damit soll nicht präjudiziert werden, dass Lösungen möglich seien oder letztendlich relevant erscheinen mögen, die in gewisser Weise analytische (zumindest Teil-) Rekonstruktionen dialektischer Ideen auf dem Boden einer analytischen Minimallogik darstellen. Das Problem scheint analog dem der Quadratur des Kreises: Man kann durch Tangenten eine krumme Kurve immer weiter annähern, niemals aber ersetzen. Um aber überhaupt zu Lösungen gelangen zu können, muss der Diskussionsgegenstand genauer bestimmt werden, als bisher in der polemisch-verworrenen Debatte um „Dialektik" üblich. Dazu gehört sowohl die Einsicht wie auch das Eingeständnis, dass dieser Begriff an sich nichts weniger als eine Lösung, sondern lediglich einen Rattenschwanz an Problemen signalisiert (Heintel 1984a). Der Mangel der habermasschen (1963a) Position beruht indes nicht nur auf einer ungenügenden problemgeschichtlichen Verortung. Er argumentiert mittels eines Alternativradikalismus scheinbar vollständiger Disjunktionen von explizierbar / nichtexplizierbar, formallogisch/dialektisch, der letztlich auf einem völlig unhaltbaren Begriff von Logik beruht: Einmal wird „logisch" als ein Prädikat ewig gültiger Denknotwendigkeit genommen; dann wird es als statische Zustandsbeschreibung einer sich in Wirklichkeit historisch ständig sich entwickelnden formalen Disziplin missverstanden. So scheint die unüberlegte Kritik der „Dialektiker" an formaler Logik erkennbar an einer fehlerhaften Bestimmung des Logischen zu leiden. Auch Adorno (1969b:9) begeht noch den Fehler, die Kontroverse als eine solche zwischen Logik und sachlicher Analyse zu stilisieren. Die Differenz beruht indessen auf einer philosophischen, welche naturgemäß Logik und Sache betrifft. Sein Angriff auf die Logik kommt insofern Maschinenstürmerei nahe. Das Engagement mit einer Sache führt zum Vorwurf der Präokkupation, ja dem eines Fehlverhaltens und Mittelmissbrauchs. Dies vermeintliche Argument ist vergleichbar der penetranten vorwurfsvollen Unterstellung gegenüber dem Internauten, ihn treibe lediglich seelische Einsamkeit zu ihrem anonymen Vergnügen. Ist Adornos Kritik der formalen Logik Maschinenstürmerei, so ist Positivismus freilich Bilderstürmerei. Die puritanischen Diener des Götzen logos dürfen sich kein Bild davon machen, worüber ihr Herr mit ihnen spricht. Darüber hinaus scheint die Diskussion zwischen Habermas (1969b,c) und Albert (1969a,b,c) über technokratische Implikationen positivistischer Sozialforschung insgesamt daran zu kranken, dass alle beide ihrer Argumentation das Zweck-Mittel-Schema zugrundelegen. Dessen immanente Fragwürdigkeit hat nun aber schon Albert (1954a) en détail aufgezeigt.
Ein logisches System wie eine dialektische Philosophie stellen jeweils besondere Sprachen dar, welche teilweise Terme mit derselben Bedeutung benutzen können, teilweise jedoch auch nicht nur in einzelnen theoretischen Termen, sondern auch in logischen Konstanten nicht übereinstimmen (Brown 1986a). Es ist daher kein gültiges Argument gegen eine dialektische Philosophie, wenn lediglich geltend gemacht wird, dass sie sich in einer bestimmten Art der formalen Logik nicht rekonstruieren lasse. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass gerade den „Dialektikern" der Vorwurf des Utopismus gemacht wird, obwohl doch gerade die Dialektik viel stärker in der Tradition der Umgangssprache steht als die modernen Kritiker dialektischen Denkens, die sich eher in den, vergleichsweise zu alltäglichem Sprechhandeln, in weit höherem Maße „utopischen" Modellwelten formaler Sprachen bewegen. Die antiutopistische Rhetorik Poppers gegen Vorstellungen vom sozialen Neukonstruieren auf einer ‘tabula rasa’ passt jedoch - ungemerkt - treffender auf sein eigenes gründlich positivistisch-analytisches Selbstverständnis als auf Hegels oder Marxens konkrete Geschichtsauffassung. Nur formale Logik, dieser logos zweiter Klasse, verursacht „Revolutionen", d.h. unüberbrückbare Risse und Sprünge im Gebälk von Systemen (Toulmin 1978a:131). Grundsätzlich läuft jedoch der Streit über die größere Weltfremdheit oder -nähe darauf hinaus, welche Sprachen welche Ontologien vermitteln, und welche Ontologien für welche Gebiete unserer Lebenspraxis am ehesten brauchbar sind.
Der Sinn gesprochener Sprache ist weder das, was als Vorstellung im Bewusstsein derjenigen auftritt, die da sprechen, noch was in irgendeinem bestimmbaren idealen Modell von Sprache sich rekonstruieren lässt, sondern lässt sich vielmehr auffassen als „das virtuelle Zentrum einer Reihe konvergierender, fast unbewußter Sprechoperationen" (Merleau-Ponty 1968a:23).
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