Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Ist der Totalitätsbegriff kompatibel mit em­pi­rischer Wissenschaft?


„In Ansehung des im Paragraphen zuerst genannten geschichtlichen Ele­ments im positiven Rechte hat Montesquieu die wahrhafte historische Ansicht, den echt philosophischen Standpunkt angegeben, die Gesetzgebung überhaupt und ihre be­sonderen Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, son­dern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen üb­rigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit ausmachen; in diesem Zusammenhange erhalten sie ihre wahrhafte Be­deutung so­wie damit ihre Rechtfertigung." *)

Habermas (1963a) bringt unter anderem den Totalitäts-Begriff gegenüber dem herrschenden Po­sitivismus zur Geltung. Albert (1969a) steht solchem Beginnen ziemlich ungehalten gegen­über, da jener Nagels (1961a) Kritik am Ganzheits-Begriff zurückzuweisen scheint, ohne davon den Begriff der Totalität zu scheiden zu wollen, ja um ihn im Endeffekt sogar als unexplizier­bar zu behandeln. Dass dies einen Albert nicht befriedigen kann, ist sonnenklar. Auch Poppers (1987a) und Kemp­skis (1964a) Holismuskritik habe Habermas schlichtweg ignoriert. So steht denn auch Keuth (1993a:26) mit seinem wohlgebildeten formallogischen Instrumentenkoffer de luxe da und rätselt am Torso des habermasschen Totalitätsbegriff herum. Entweder enthalte er al­le erklärungsrele­vanten Elemente, dann sei er nicht dialektisch; falls nicht, so sei er bloßes Zier­werk. Keuth sieht ganz richtig, dass der philosophische Begriff der Totalität den Rahmen der derzeit üblichen for­malen Logik sprengt. Das Problem mit Keuth ist nur, dass er einen durch­schlagenden Einwand zu formulieren glaubt, wo für den dialektischen Philosophen das Pro­blem erst gestellt ist: dass Keuth nämlich die Idee der Totalität nie zu fassen bekommt, wenn er nicht die formale Logik selbst, zu­mindest in ihrer heute üblichen Form, zur Diskussion stellt. Denn Dialektik zielt eben gerade in der hegelschen Tradition auf eine Kritik der analy­ti­schen Logik (verstanden in der Kantischen Fassung) und der ihr entsprechenden universa­li­sie­ren­den Wertbetrachtung. Wenn Keuth aber die analytische Logik in der von ihm vertreten Form von vornherein als alternativenlos verbindlich unterstellt, betreibt er damit eine petitio prin­cipii und muss daher stets am Kern der Debatte vor­bei schießen. Damit soll nicht präju­diziert wer­den, dass Lösungen möglich seien oder letztendlich relevant erscheinen mögen, die in ge­wisser Weise analytische (zumindest Teil-) Rekonstruktionen dialektischer Ideen auf dem Bo­den einer analytischen Minimallogik darstellen. Das Problem scheint analog dem der Quadratur des Kreises: Man kann durch Tangenten eine krumme Kurve immer weiter annähern, niemals aber ersetzen. Um aber überhaupt zu Lösungen gelangen zu kön­nen, muss der Diskussi­ons­ge­gen­stand genauer bestimmt werden, als bisher in der polemisch-verworrenen Debatte um „Dia­lek­tik" üblich. Dazu gehört sowohl die Einsicht wie auch das Ein­geständnis, dass dieser Begriff an sich nichts weniger als eine Lösung, sondern lediglich einen Rattenschwanz an Problemen sig­nalisiert (Heintel 1984a). Der Mangel der habermasschen (1963a) Position beruht indes nicht nur auf einer ungenügenden problemgeschichtlichen Verortung. Er argumentiert mittels eines Al­ternativradikalismus scheinbar vollständiger Disjunktionen von expli­zier­bar / nicht­ex­plizier­bar, formallogisch/dialektisch, der letztlich auf einem völlig unhaltbaren Begriff von Lo­gik beruht: Einmal wird „logisch" als ein Prädikat ewig gültiger Denknotwendigkeit genom­men; dann wird es als statische Zustandsbeschreibung einer sich in Wirklichkeit histo­risch stän­dig sich entwickelnden formalen Disziplin missverstanden. So scheint die unüberlegte Kritik der „Dialektiker" an formaler Logik erkennbar an einer fehlerhaften Bestimmung des Logi­schen zu leiden. Auch Adorno (1969b:9) begeht noch den Fehler, die Kontroverse als eine sol­che zwischen Logik und sachlicher Analyse zu stilisieren. Die Differenz beruht indessen auf ei­ner phi­losophischen, welche naturgemäß Logik und Sache betrifft. Sein Angriff auf die Logik kommt insofern Maschinenstürmerei nahe. Das Engagement mit einer Sache führt zum Vor­wurf der Prä­okkupation, ja dem eines Fehl­ver­haltens und Mittelmissbrauchs. Dies vermeintli­che Argument ist vergleichbar der penetranten vor­wurfs­vollen Unterstellung gegenüber dem In­ternauten, ihn treibe lediglich seelische Ein­sam­keit zu ihrem anonymen Vergnügen. Ist Ador­nos Kritik der formalen Logik Maschinen­stürmerei, so ist Positivismus freilich Bilderstürmerei. Die puritanischen Diener des Götzen logos dürfen sich kein Bild davon machen, worüber ihr Herr mit ihnen spricht. Dar­über hinaus scheint die Diskussion zwischen Habermas (1969b,c) und Albert (1969a,b,c) über technokratische Implikationen positivi­sti­scher Sozialforschung ins­gesamt daran zu kranken, dass alle beide ihrer Argumentation das Zweck-Mittel-Schema zu­grundelegen. Dessen immanente Fragwürdigkeit hat nun aber schon Albert (1954a) en détail auf­gezeigt.

Ein logisches System wie eine dialektische Philosophie stellen jeweils besondere Sprachen dar, welche teilweise Terme mit derselben Bedeutung benutzen können, teilweise jedoch auch nicht nur in einzel­nen theoretischen Termen, sondern auch in logischen Konstanten nicht über­einstimmen (Brown 1986a). Es ist daher kein gültiges Argument gegen eine dialektische Philo­so­phie, wenn le­diglich gel­tend gemacht wird, dass sie sich in einer bestimmten Art der forma­len Logik nicht rekonstruieren las­se. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass gerade den „Dialektikern" der Vorwurf des Uto­pis­mus gemacht wird, obwohl doch gerade die Dialek­tik viel stärker in der Tradition der Umgangs­spra­che steht als die modernen Kritiker dialekti­schen Denkens, die sich eher in den, vergleichsweise zu alltäglichem Sprechhandeln, in weit höherem Maße „utopischen" Modellwelten formaler Sprachen be­we­gen. Die antiutopistische Rhe­torik Poppers gegen Vorstel­lungen vom sozialen Neukonstruieren auf einer ‘tabula rasa’ passt jedoch - ungemerkt - treffender auf sein eigenes gründlich positivistisch-analytisches Selbst­ver­ständnis als auf Hegels oder Marxens konkrete Geschichtsauffassung. Nur for­ma­le Logik, die­ser logos zweiter Klasse, verursacht „Revo­lutionen", d.h. unüberbrückbare Risse und Sprün­ge im Gebälk von Systemen (Toulmin 1978a:131). Grundsätzlich läuft jedoch der Streit über die grö­ßere Weltfremdheit oder -nähe darauf hinaus, welche Sprachen welche Ontologien ver­mit­teln, und wel­che Ontologien für welche Gebiete unse­rer Lebenspraxis am ehesten brauchbar sind.

Der Sinn gesprochener Sprache ist weder das, was als Vorstellung im Bewusstsein derjenigen auftritt, die da sprechen, noch was in irgendeinem bestimmbaren idealen Modell von Sprache sich rekon­stru­ieren lässt, sondern lässt sich vielmehr auffassen als „das virtuelle Zentrum einer Reihe konver­gie­ren­der, fast unbewußter Sprechoperationen" (Merleau-Ponty 1968a:23).

Keine Kommentare:

Blog-Archiv