In krassem Gegensatz zu seiner Kritik an den genannten antiken Autoren steht Poppers eigene politische und soziologische Blindheit für Klassenunterschiede und systematische Ungleichheit in den ihm zeitgenössischen Gesellschaften des „Freien Westens" oder sonst wo auf der Welt. Der Gipfel dieser Art von Dogmatismus und politischen Selbstgefälligkeit besteht darin, dass in haargenau derselben naturrechtlichen Legitimationsmanier die Prinzipien kapitalistischer Wirtschaftsordnung zu anthropologischen Konstanten hochstilisiert werden, vor denen sogar die Wertordnung politischer Verfassungen verblassen müssen. Schon heute wird ja zum Teil das Recht des Eigentümers höher gestellt als das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Menschenwürde [1]). Eine universalgeschichtliche Argumentationslinie von der Biologie über die Wirtschaft bis hin zur sozialen Ordnung, über deren zutiefst ideologischen Charakter hinter aller empiristischen Kleinkrämerei hinsichtlich der brave new world des Globalismus sich Soziologen after Popper wie Esser (1993a) anscheinend nicht so recht Rechenschaft ablegen.
„Aber bei keinem der klassischen Autoren, natürlich mit der großen Ausnahme Hegels, der in dieser Hinsicht zum einsamen Vordenker wurde, ist das Prinzip der Anerkennung als solches zum Grundstein einer Ethik gemacht worden; ..." (Honneth 1997a:25) [2])
Nachdem schon Luther und Calvin das Recht des Staates und die Sittlichkeit des Einzelnen voneinander geschieden haben, hat Kant zwar Achtung als Zweck in sich selbst berücksichtigt, dem Problem der Anerkennung jedoch keine zentrale Stellung eingeräumt. Das Selbstbewusstsein des Einzelnen ist aber von der Erfahrung sozialer Anerkennung abhängig [3]), darin sind sich heute Sozialpsychologen wie Psychologen und Soziologen größtenteils einig. Die Frage stellt sich jedoch im Hinblick auf die besonderen individuellen Unterschiede oder Hinsichten, wie und als was sich die Subjekte wechselseitig anerkennen. Hegels Analyse stellt damit eine Verbindung her zwischen negativer (die Erfahrung moralischer Verletztheit durch Verweigerung von Anerkennung) und positiver Anerkennung zu den Fragen der Bildung und Ausgestaltung von Moral. Darauf baut schließlich eine genetische Stufentheorie des Erwerbs von Selbstbewusstsein und der moralischen Entwicklung von Gesellschaft, die den Kampf um Anerkennung [4]) thematisiert. Anerkennung findet in dreierlei Formen [5]) statt: in der Liebe, im Recht und in der staatlichen Sphäre der Sittlichkeit. Dieser frühe Ansatz zur Erklärung von Moral wird von Hegel in seiner „Phänomenologie" zugunsten der Idee einer Selbstaufstufung des Gestes aufgegeben, so Honneth. Erst in der Rechtsphilosophie finde sich eine gewisse Reminiszenz an diese frühen Entwicklungen vor allem in der Dreiteilung von Familie, Gesellschaft und Staat wieder. Dieser Behauptung widerspricht jedoch schon der genaue Text der „Phänomenologie", so wie Hegel nämlich den Abschnitt
„A: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft"
eröffnet:
„Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem, und dadurch, dass es für ein anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff dieser seiner Einheit in seiner Verdopplung, der sich im Selbstbewusstsein realisierenden Unendlichkeit, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so dass die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden, oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. Die Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen des Selbstbewusstseins, unendlich, oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu sein. Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar." (Hegel 1988a: 127f)
Das Selbstbewusstsein sieht sich bei der Analyse einer Beziehung sozialer Interaktion als Verdopplung gesetzt. Über dieselbe Beziehung sozialer Interaktion läuft aber letztendlich gesehen auch die Tradierung kultureller Inhalte, in hegelscher Diktion: realisiert sich im Selbstbewusstsein die Unendlichkeit, mit welchem Grenzbegriff Kant das menschliche Gattungswesen ausgezeichnet hatte, insofern es des absoluten Wissens mächtig werdend gedacht werden konnte.
Marx jedoch sieht in der „Phänomenologie" seine Anthropologie, die die Selbsterzeugung des Menschen als Prozess fasst, vorweggenommen, wobei schon Hegel diesen Prozess als Arbeit fasste.
„Die ‘Phänomenologie’ ist daher die verborgne, sich selbst noch unklare und mystifizierende Kritik; aber insofern sie die Entfremdung des Menschen - wenn auch der Mensch nur in der Gestalt des Geistes erscheint - festhält, liegen in ihr alle Elemente der Kritik verborgen und oft schon in einer weit den hegelschen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet und ausgearbeitet. Das ‘unglückliche Bewusstsein’, das ‘ehrliche Bewusstsein’, der Kampf des ‘edelmütigen und niederträchtigen Bewusstseins’ etc. etc., diese einzelnen Abschnitte enthalten die kritischen Elemente - aber noch in einer entfremdeten Form - ganzer Sphären, wie der Religion, des Staats, des bürgerlichen Lebens etc. Wie also das Wesen, der Gegenstand als Gedankenwesen, so ist das Subjekt immer Bewusstsein oder Selbstbewusstsein, oder vielmehr der Gegenstand erscheint nur als abstraktes Bewusstsein, der Mensch nur als Selbstbewusstsein, die unterschiedenen Gestalten der Entfremdung, die auftreten, sind daher nur verschiedne Gestalten des Bewusstseins und Selbstbewusstseins." (Marx, ÖPM:573)
Bei Popper aber findet sich diese hegelsche Problemstellung auf folgende „rationelle" Art schlagartig „erledigt":
„Diese noch immer sehr populäre Theorie [6]) führt, wie Hegel klar sieht, zu einer neuen Rechtfertigung der Theorie der Sklaverei. Denn Selbstbehauptung bedeutet in Bezug auf andere Menschen den Versuch, sie zu beherrschen. Und Hegel zeigt wirklich, dass sich auf diese Weise alle persönlichen Beziehungen auf die Grundbeziehung Herr-Sklave, Beherrschung-Unterwerfung reduzieren können. Jedermann muss danach streben, sich selbst zu behaupten und zu beweisen, und wer nicht die Natur, den Mut, die allgemeine Fähigkeit besitzt, seine Unabhängigkeit zu erhalten, der muss zur Knechtschaft gezwungen werden. Diese bezaubernde Theorie persönlicher Beziehungen hat natürlich ihr Gegenstück in Hegels Theorie der internationalen Beziehungen. Nationen müssen sich auf der Bühne der Geschichte behaupten; es ist ihre Pflicht, die Weltherrschaft anzustreben." (Popper 1992b:14)
Das vorstehende Zitat beweist, dass Popper besagten Text nicht interpretiert, sondern massakriert.[7]) Fallbeilartig sausen auf ein paar Stichworte hin seine assoziativen Vorurteile gegen den Autor nieder. Er spielt hierbei auf einen Gedankengang Hegels an, der in etwa wohl so wiedergegeben werden kann:
„Wer in diesem Kampf unterliegt, der verdient, Sklave zu sein, denn er hat für die Erringung der Freiheit nicht das Leben gewagt." (Negt 1964a:76)
Man darf zugeben, dass dieser Gedanke, isoliert genommen, zu großen Missverständnissen führen kann. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass bei Hegel stets eine fortlaufende Geschichtsinterpretation vorgenommen wird, indem jeweils aus der historisch [8]) vorliegenden Situation und den darin anzutreffenden Rechtsbegriffen heraus argumentiert wird. Bei der betreffenden Stelle geht es um den Übergang aus dem hobbesschen Naturzustand zur Sklavenhalter-Ordnung. Das Argument reproduziert gewissermaßen die Rechtsauffassung selbiger Gesellschaftsordnung und setzt freilich damit eine gewisse geschichtliche Berechtigung derselben im Sinne eines Fortschritts hin auf dem Wege zur Entwicklung der Freiheit voraus. Sachlich gesehen, wird von Hegel damit behauptet, dass der Nichterfolg die geschichtliche Unangepasstheit des Betreffenden aufweist; normativ könnte man der These entnehmen: Freiheit muss verdient werden, auch unter Einsatz des Lebens.
"Wer aber irdische Politik treiben will, der muss vor allen Dingen illusionsfrei sein und die eine fundamentale Tatsache, den unabwendbaren ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen auf der Erde, wie er tatsächlich stattfindet, anerkennen." (Max Weber, in: Baumgarten 1964a:333f)
Vages so behandeln, als sei es genau, sei Scholastizismus, so wird Ramsay von Popper zitiert auf der darauffolgenden Seite. Genau dies tut Popper hier aber schon selber: er behandelt die Interpretation eines solchen Rätsels (Bonsiepen 1988a:LXII) wie der „Phänomenologie" als eine bereits gelöste und genau feststehende Sache. So schwierig dies alles aber auch im einzelnen sein mag, so muss doch folgendes gegen Poppers „Kritik" festgehalten werden:
1. Hegels Darstellung impliziert mitnichten eine Rechtfertigung der Sklaverei.
2. Hegel sagt nirgends, dass alle persönlichen Beziehungen auf Herrschaft und Unterwerfung reduziert werden können.
3. Ebenso wenig behauptet er, dass jeder Schwächling [9]) oder Feige unterworfen werden müsse.
Vielmehr geht es Hegel in diesem Abschnitt der „Phänomenologie" um die Konstitution des „Geistes":
„Es ist ein Selbstbewusstsein für ein Selbstbewusstsein. Erst hierdurch ist es in der Tat; denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Anderssein; Ich, das der Gegenstand seines Begriffs ist, ist in der Tat nicht Gegenstand; der Gegenstand der Begierde aber ist nur selbständig, denn er ist die allgemeine unvertilgbare Substanz, das flüssige, sichselbstgleiche Wesen. Indem ein Selbstbewusstsein der Gegenstand ist, ist er ebenso wohl Ich, wie Gegenstand. - Hiermit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden." (Hegel 1988a:127)
Was Durkheim als „Kollektivbewusstsein" und Popper später als „Welt 3" ontologische Sphären separat anführt, versucht Hegel, hierin ein Vorläufer Meads, als genetischen Prozess aus dem wechselseitigen Anerkennen zweier Selbstwusstseine darzustellen. Dieser Prozess durchläuft verschiedene Stufen: er beginnt mit dem bellum omnium contra omnes über die Einseitigkeit der Herrschaft-Knechtschaft-Beziehung zur wechselseitigen Anerkennung als sich im freien Handeln selbst setzende und bestimmende Subjekte.
In diesem Zusammenhang findet sich bei Hegel eine Analyse und Darstellung der Probleme von Macht und Herrschaft. Wer aber eine solche Analyse liefert, tut per se schon mehr für die Unterdrückten als eine Sozialphilosophie, die sich den theoretischen Zugang auf diese Probleme verstellt, zum Beispiel dadurch, indem sie nur abstrakte Einzelne, aber keine Gesellschaft kennt, weil sie noch nicht einmal über eine Sprache oder Logik verfügt, über gesellschaftliche Macht- oder Herrschaftsstrukturen überhaupt sprechen zu können [10]). Im Übrigen haben eingefleischte Ideologie-Kritiker wie Myrdal und Albert schon längst selber klar gesehen, dass es nicht genügt, einer Theorie nachzuweisen, dass diese möglicherweise zu Legitimationszwecken eingesetzt werden kann oder tatsächlich wird, um dieser damit eo ipso jeglichen kognitiven oder normativen Wert abzusprechen.
[1]) siehe das jeweilige Strafmaß bei Eigentums- und von Sexualdelikten oder Verstößen gegen Arbeitsschutz
[2]) Honneth übersieht Adam Smith, dessen "The Theory of Moral Sentiments" (1759) bereits das Thema der notwendigen sozialen Anerkennung durch Mitmenschen zur Grundlage genommen hat.
[3]) „... he detected an atmosphere of disingeniousness there, however, (...) as it has to do with the philosopher’s craving for recognition." (Agassi 1993a:146f)
[4]) „... wenn erklärt werden sollte, wie die Erfahrung der Anerkennung einen Fortschritt in den Verhältnissen der Sittlichkeit zu bewirken vermochte, bedurfte es zusätzlich einer Erklärung des dynamischen Wechselverhältnisses, das zwischen dem intersubjektiven Erwerb von Selbstbewusstsein und der moralischen Entwicklung ganzer Gesellschaften bestehen musste. Die Antworten, die Hegel auf diese komplexen Fragen im Zuge der Ausarbeitung seiner ersten Systementwürfe gefunden hat, machen den Kern seines Modells eines 'Kampfes um Anerkennung' aus; es enthält die riskante, aber auch herausfordernde Idee, dass sich der sittliche Fortschritt entlang einer Stufenfolge von drei zunehmend anspruchsvolleren Anerkennungsmustern vollzieht, zwischen denen jeweils ein intellektueller Kampf vermittelt, den die Subjekte um die Bestätigung ihrer Identitätsansprüche führen." (Honneth 1997a:28f)
[5]) ".. denn der Mechanismus der reziproken Einräumung einer Sphäre individueller Freiheit, den Fichte in seiner Begründung des Naturrechts vor Augen hatte, erklärt zwar tatsächlich die Bildung eines subjektiven Rechsbewusstseins, damit jedoch ist das positive Selbstverständnis einer freien Person längst nicht in seiner Vollständigkeit erfasst. Hegel fügt daher der rechtlichen Anerkennung, die ungefähr das beinhalten sollte, was Kant unter moralischer Achtung verstanden hatte, noch zwei weitere Formen der wechselseitigen Anerkennung hinzu, denen jeweils auch besondere Stufen des individuellen Selbstverhältnisses entsprechen mussten: in der Liebe, die Hegel in seinem Frühwerk noch ganz im emphatischen Sinn der VereinigungsPhilosophie Hölderlins begreift, erkennen sich die Subjekte wechselseitig in ihrer einzigartigen Bedürfnisnatur an, so dass sie zu einer affektiven Sicherheit in der Artikulation ihrer Triebansprüche gelangen; und in der staatlichen Sphäre der Sittlichkeit schließlich ist eine Form der Anerkennung angelegt, die es den Subjekten erlauben soll, sich wechselseitig in den Eigenschaften wertzuschätzen, die zur Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung beitragen." (Honneth 1997a:29)
[6]) Es war zuvor von Hegels Rezeption aristotelischer Entelechie-Vorstellungen die Rede.
[7]) “Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.“ (Benjamin 1955a:52)
[8]) Hegels wahre Einstellung zu Sklaverei lässt z.B. folgende Stelle erkennen: „Das Sklavenverhältnis der römischen Kinder ist eine der diese Gesetzgebung befleckendsten Institutionen, und diese Kränkung der Sittlichkeit in ihrem innersten und zartesten Leben ist eins der wichtigsten Momente, den weltgeschichtlichen Charakter der Römer und ihre Richtung auf den Rechtsformalismus zu verstehen." (Hegel, Rechtsphilosophie:270)
[9]) Dieser Standpunkt ist vielmehr der des Sozialdarwinismus, welcher nirgends so sehr in Blüte stand wie in den Vereinigten Staaten um die Jahrhundertwende und noch heute dort wie anderswo zahlreiche Anhänger hat, zumindest in den Kreisen der Arrivierten und Neureichen.
[10]) wie z.B. die Wertzurechnungslehre der Neoklassik (Albert 1954a:33)
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