Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Das Ende der Klassengesellschaft?

In krassem Gegensatz zu seiner Kritik an den genannten antiken Autoren steht Poppers eige­ne politische und soziologische Blindheit für Klassenunterschiede und sy­ste­matische Ungleich­heit in den ihm zeitgenössischen Gesellschaften des „Freien Westens" oder sonst wo auf der Welt. Der Gipfel dieser Art von Dogmatismus und politischen Selbstge­fäl­lig­keit besteht darin, dass in haargenau derselben naturrechtlichen Legitimationsmanier die Prin­zipien kapitalisti­scher Wirtschaftsordnung zu anthropologischen Konstanten hochstilisiert wer­den, vor denen sogar die Wertordnung politischer Verfassungen verblassen müssen. Schon heu­te wird ja zum Teil das Recht des Eigentümers höher gestellt als das Recht auf freie Meinungs­äu­ßerung oder die Menschenwürde [1]). Eine universalgeschichtliche Argumentationslinie von der Biologie über die Wirtschaft bis hin zur sozialen Ordnung, über deren zutiefst ideolo­gi­schen Charakter hinter aller empiristischen Kleinkrämerei hinsichtlich der brave new world des Globalismus sich Soziologen after Popper wie Esser (1993a) anscheinend nicht so recht Re­chen­schaft ablegen.

„Aber bei keinem der klassischen Autoren, natürlich mit der großen Ausnah­me Hegels, der in dieser Hinsicht zum einsamen Vordenker wurde, ist das Prin­zip der Anerkennung als solches zum Grundstein einer Ethik gemacht worden; ..." (Honneth 1997a:25) [2])

Nachdem schon Luther und Calvin das Recht des Staates und die Sittlichkeit des Einzelnen voneinander geschieden haben, hat Kant zwar Achtung als Zweck in sich selbst berücksichtigt, dem Problem der Anerkennung jedoch keine zentrale Stellung eingeräumt. Das Selbstbewusst­sein des Einzelnen ist aber von der Erfahrung sozialer Anerkennung abhängig [3]), darin sind sich heute Sozialpsychologen wie Psychologen und Soziologen größtenteils einig. Die Frage stellt sich jedoch im Hinblick auf die besonderen individuellen Unterschiede oder Hinsichten, wie und als was sich die Subjekte wechselseitig anerkennen. Hegels Analyse stellt damit eine Verbindung her zwischen negativer (die Erfahrung moralischer Verletztheit durch Verweige­rung von Anerkennung) und positiver Anerkennung zu den Fragen der Bildung und Ausgestal­tung von Moral. Darauf baut schließlich eine genetische Stufentheorie des Erwerbs von Selbst­bewusstsein und der moralischen Entwicklung von Gesellschaft, die den Kampf um Anerken­nung [4]) thematisiert. Anerkennung findet in dreierlei Formen [5]) statt: in der Liebe, im Recht und in der staatlichen Sphäre der Sittlichkeit. Dieser frühe Ansatz zur Erklärung von Moral wird von Hegel in seiner Phänomenologie" zugunsten der Idee einer Selbstaufstufung des Ge­stes aufgegeben, so Honneth. Erst in der Rechtsphilosophie finde sich eine gewisse Reminis­zenz an diese frühen Entwicklungen vor allem in der Dreiteilung von Familie, Gesellschaft und Staat wieder. Dieser Behauptung widerspricht jedoch schon der genaue Text der „Phäno­meno­logie", so wie Hegel nämlich den Abschnitt

„A: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knecht­schaft"

eröffnet:

„Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem, und dadurch, dass es für ein anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff die­ser seiner Einheit in seiner Verdopplung, der sich im Selbstbewusstsein rea­lisie­renden Unendlichkeit, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so dass die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Un­terscheidung zugleich auch als nicht unterschieden, oder immer in ihrer ent­gegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. Die Dop­pel­sinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen des Selbstbewusstseins, unendlich, oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu sein. Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar." (Hegel 1988a: 127f)

Das Selbstbewusstsein sieht sich bei der Analyse einer Beziehung sozialer Interaktion als Ver­dopplung gesetzt. Über dieselbe Beziehung sozialer Interaktion läuft aber letztendlich ge­se­hen auch die Tradierung kultureller Inhalte, in hegelscher Diktion: realisiert sich im Selbst­be­wusstsein die Unendlichkeit, mit welchem Grenzbegriff Kant das menschliche Gattungs­we­sen ausgezeichnet hatte, insofern es des absoluten Wissens mächtig werdend gedacht werden konn­te.

Marx jedoch sieht in der „Phänomenologie" seine Anthropologie, die die Selbsterzeugung des Menschen als Prozess fasst, vorweggenommen, wobei schon Hegel diesen Prozess als Ar­beit fasste.

„Die ‘Phänomenologie’ ist daher die verborgne, sich selbst noch unklare und my­sti­fizierende Kritik; aber insofern sie die Entfremdung des Menschen - wenn auch der Mensch nur in der Gestalt des Geistes erscheint - festhält, liegen in ihr alle Elemente der Kritik verborgen und oft schon in einer weit den hegelschen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet und ausgearbeitet. Das ‘unglück­li­che Bewusstsein’, das ‘ehrliche Bewusstsein’, der Kampf des ‘edelmütigen und nie­derträchtigen Bewusstseins’ etc. etc., diese einzelnen Abschnitte enthalten die kri­tischen Elemente - aber noch in einer entfremdeten Form - ganzer Sphä­ren, wie der Religion, des Staats, des bürgerlichen Lebens etc. Wie also das We­sen, der Gegenstand als Gedankenwesen, so ist das Subjekt immer Be­wusst­sein oder Selbstbewusstsein, oder vielmehr der Gegenstand erscheint nur als abstraktes Be­wusstsein, der Mensch nur als Selbstbewusstsein, die unter­schiedenen Ge­stal­ten der Entfremdung, die auftreten, sind daher nur ver­schied­ne Gestalten des Bewusstseins und Selbstbewusstseins." (Marx, ÖPM:573)

Bei Popper aber findet sich diese hegelsche Problemstellung auf folgende „ratio­nel­le" Art schlag­artig „erledigt":

„Diese noch immer sehr populäre Theorie [6]) führt, wie Hegel klar sieht, zu ei­ner neuen Rechtfertigung der Theorie der Sklaverei. Denn Selbstbehauptung bedeutet in Bezug auf andere Menschen den Versuch, sie zu beherrschen. Und Hegel zeigt wirklich, dass sich auf diese Weise alle persönlichen Beziehungen auf die Grundbeziehung Herr-Sklave, Beherrschung-Unterwerfung reduzieren kön­nen. Jedermann muss danach streben, sich selbst zu behaupten und zu be­weisen, und wer nicht die Natur, den Mut, die allgemeine Fähigkeit besitzt, sei­ne Unabhängigkeit zu erhalten, der muss zur Knechtschaft gezwungen werden. Diese bezaubernde Theorie persönlicher Beziehungen hat natürlich ihr Gegen­stück in Hegels Theorie der internationalen Beziehungen. Nationen müssen sich auf der Bühne der Geschichte behaupten; es ist ihre Pflicht, die Weltherr­schaft anzustreben." (Popper 1992b:14)

Das vorstehende Zitat beweist, dass Popper besagten Text nicht interpretiert, sondern massa­kriert.[7]) Fallbeilartig sausen auf ein paar Stichworte hin seine assoziativen Vorurteile gegen den Autor nieder. Er spielt hierbei auf einen Gedankengang Hegels an, der in etwa wohl so wie­der­ge­geben werden kann:

„Wer in diesem Kampf unterliegt, der verdient, Sklave zu sein, denn er hat für die Erringung der Freiheit nicht das Leben gewagt." (Negt 1964a:76)

Man darf zugeben, dass dieser Gedanke, isoliert genommen, zu großen Missverständnissen führen kann. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass bei Hegel stets eine fortlaufende Ge­schichtsinterpretation vorgenommen wird, indem jeweils aus der historisch [8]) vorliegenden Situation und den darin anzutreffenden Rechtsbegriffen heraus argumentiert wird. Bei der be­treffenden Stelle geht es um den Übergang aus dem hobbesschen Naturzustand zur Sklaven­hal­ter-Ordnung. Das Argument reproduziert gewissermaßen die Rechtsauffassung selbiger Gesell­schaftsordnung und setzt freilich damit eine gewisse geschichtliche Berechtigung derselben im Sinne eines Fortschritts hin auf dem Wege zur Entwicklung der Freiheit voraus. Sachlich gese­hen, wird von Hegel damit behauptet, dass der Nichterfolg die geschichtliche Unangepasstheit des Betreffenden aufweist; normativ könnte man der These entnehmen: Freiheit muss verdient werden, auch unter Einsatz des Lebens.

"Wer aber irdische Politik treiben will, der muss vor allen Dingen illusionsfrei sein und die eine fundamentale Tatsache, den unabwendbaren ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen auf der Erde, wie er tatsächlich stattfindet, anerkennen." (Max Weber, in: Baumgarten 1964a:333f)

Vages so behandeln, als sei es genau, sei Scholastizismus, so wird Ramsay von Popper zitiert auf der darauffolgenden Seite. Genau dies tut Popper hier aber schon selber: er behandelt die In­terpretation eines solchen Rätsels (Bonsiepen 1988a:LXII) wie der „Phänomenologie" als eine bereits gelöste und genau feststehende Sache. So schwierig dies alles aber auch im einzelnen sein mag, so muss doch folgendes gegen Poppers „Kritik" festgehalten werden:

1. Hegels Darstellung impliziert mitnichten eine Rechtfertigung der Sklaverei.
2. Hegel sagt nirgends, dass alle persönlichen Beziehungen auf Herrschaft und Unterwerfung reduziert werden können.
3. Ebenso wenig behauptet er, dass jeder Schwächling [9]) oder Feige unterworfen werden müs­se.

Vielmehr geht es Hegel in diesem Abschnitt der „Phänomenologie" um die Kon­sti­tution des Geistes":

„Es ist ein Selbstbewusstsein für ein Selbstbewusstsein. Erst hierdurch ist es in der Tat; denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem An­ders­sein; Ich, das der Gegenstand seines Begriffs ist, ist in der Tat nicht Ge­gen­stand; der Gegenstand der Begierde aber ist nur selbständig, denn er ist die allgemeine unvertilgbare Substanz, das flüssige, sichselbstgleiche Wesen. In­dem ein Selbst­bewusstsein der Gegenstand ist, ist er ebenso wohl Ich, wie Ge­genstand. - Hier­mit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden." (Hegel 1988a:127)

Was Durkheim als Kollektivbewusstsein" und Popper später als Welt 3" ontologische Sphä­ren separat anführt, versucht Hegel, hierin ein Vorläufer Meads, als genetischen Prozess aus dem wechselseitigen Anerkennen zweier Selbstwusstseine darzustellen. Dieser Prozess durch­läuft verschiedene Stufen: er beginnt mit dem bellum omnium contra omnes über die Einseitig­keit der Herrschaft-Knechtschaft-Beziehung zur wechselseitigen Anerkennung als sich im frei­en Handeln selbst setzende und bestimmende Subjekte.

In diesem Zusammenhang findet sich bei Hegel eine Analyse und Darstellung der Probleme von Macht und Herrschaft. Wer aber eine solche Analyse liefert, tut per se schon mehr für die Unterdrückten als eine Sozialphilosophie, die sich den theoretischen Zugang auf diese Pro­ble­me verstellt, zum Beispiel dadurch, indem sie nur abstrakte Einzelne, aber keine Gesell­schaft kennt, weil sie noch nicht einmal über eine Sprache oder Logik verfügt, über gesell­schaft­liche Macht- oder Herrschaftsstrukturen überhaupt sprechen zu können [10]). Im Übrigen haben ein­ge­fleischte Ideologie-Kritiker wie Myrdal und Albert schon längst selber klar gesehen, dass es nicht genügt, einer Theorie nachzuweisen, dass diese möglicherweise zu Legitima­tions­zwecken eingesetzt werden kann oder tatsächlich wird, um dieser damit eo ipso jeglichen kog­ni­tiven oder normativen Wert abzusprechen.



[1]) siehe das jeweilige Strafmaß bei Eigentums- und von Sexualdelikten oder Verstößen gegen Arbeitsschutz

[2]) Honneth übersieht Adam Smith, dessen "The Theory of Moral Sentiments" (1759) bereits das The­ma der notwendigen sozialen Anerkennung durch Mitmenschen zur Grundlage genommen hat.

[3]) „... he detected an atmosphere of disingeniousness there, however, (...) as it has to do with the philosopher’s craving for recognition." (Agassi 1993a:146f)

[4]) „... wenn erklärt werden sollte, wie die Erfahrung der Anerkennung einen Fortschritt in den Verhältnissen der Sittlichkeit zu bewirken vermochte, bedurfte es zusätzlich einer Erklärung des dy­namischen Wechselverhältnisses, das zwischen dem intersubjektiven Erwerb von Selbstbe­wusst­sein und der moralischen Entwicklung ganzer Gesellschaften bestehen musste. Die Antworten, die Hegel auf diese komplexen Fragen im Zuge der Ausarbeitung seiner ersten Systementwürfe gefun­den hat, machen den Kern seines Modells eines 'Kampfes um Anerkennung' aus; es enthält die riskan­te, aber auch herausfordernde Idee, dass sich der sittliche Fortschritt entlang einer Stufenfolge von drei zunehmend anspruchsvolleren Anerkennungsmustern vollzieht, zwischen denen jeweils ein in­tellektueller Kampf vermittelt, den die Subjekte um die Bestätigung ihrer Identitätsansprüche füh­ren." (Honneth 1997a:28f)

[5]) ".. denn der Mechanismus der reziproken Einräumung einer Sphäre individueller Freiheit, den Fichte in seiner Begründung des Naturrechts vor Augen hatte, erklärt zwar tatsächlich die Bil­dung eines subjektiven Rechsbewusstseins, damit jedoch ist das positive Selbstverständnis einer frei­en Person längst nicht in seiner Vollständigkeit erfasst. Hegel fügt daher der rechtlichen Aner­kennung, die ungefähr das beinhalten sollte, was Kant unter moralischer Achtung verstanden hatte, noch zwei weitere Formen der wechselseitigen Anerkennung hinzu, denen jeweils auch besondere Stufen des individuellen Selbstverhältnisses entsprechen mussten: in der Liebe, die Hegel in seinem Frühwerk noch ganz im emphatischen Sinn der VereinigungsPhilosophie Hölderlins begreift, er­ken­nen sich die Subjekte wechselseitig in ihrer einzigartigen Bedürfnisnatur an, so dass sie zu einer affektiven Sicherheit in der Artikulation ihrer Triebansprüche gelangen; und in der staatlichen Sphä­re der Sittlichkeit schließlich ist eine Form der Anerkennung angelegt, die es den Subjekten er­lauben soll, sich wechselseitig in den Eigenschaften wertzuschätzen, die zur Reproduktion der ge­sell­schaftlichen Ordnung beitragen." (Honneth 1997a:29)

[6]) Es war zuvor von Hegels Rezeption aristotelischer Entelechie-Vorstellungen die Rede.

[7]) “Echte Po­lemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säug­ling zurüstet.“ (Ben­ja­min 1955a:52)

[8]) Hegels wahre Einstellung zu Sklaverei lässt z.B. folgende Stelle erkennen: „Das Sklaven­ver­hält­nis der römischen Kinder ist eine der diese Gesetzgebung befleckendsten Institutionen, und die­se Kränkung der Sittlichkeit in ihrem innersten und zartesten Leben ist eins der wichtigsten Mo­mente, den weltgeschichtlichen Charakter der Römer und ihre Richtung auf den Rechtsfor­ma­lis­mus zu verstehen." (Hegel, Rechtsphilosophie:270)

[9]) Dieser Standpunkt ist vielmehr der des Sozialdarwinismus, welcher nirgends so sehr in Blü­te stand wie in den Vereinigten Staaten um die Jahrhundertwende und noch heute dort wie anders­wo zahlreiche Anhänger hat, zumindest in den Kreisen der Arrivierten und Neureichen.

[10]) wie z.B. die Wertzurechnungslehre der Neoklassik (Albert 1954a:33)

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