Ziel ist ein Verständnis der Gegenwart als einer geschichtliche Epoche (Mills 1963a:52). Eine wahre, in sich stimmige historische Analyse hat demnach von der Gegenwartsanalyse des betreffenden Problems bzw. Systems auszugehen. Erst wenn diese deutlich geworden ist, können rückschreitend in der wirklichen Geschichte die betreffenden Kategorien oder erklärenden Momente aufgesucht werden und in ihrem logisch-historischen Zusammenhang gestellt werden. Alles andere führt zu einer Pseudo-Geschichte [1]) bzw. zu einem unverdaulichen Brei aus Theorie und Geschichte
Poppers Vorgehensweise erinnert jedoch insoweit stark an Hegel, als für diesen Geschichte es schon deshalb immer schon mit dem Gegenwärtigen [2]) zu tun habe, weil es der Philosophie um absolute Wahrheit gehe.
Als ein Popper gleichwertiges negatives Beispiel für eine schludrige Form der Geschichtsbetrachtung darf Becker (1972a) aufgeführt werden, der eine Vorgeschichte der marxschen Arbeitswerttheorie zu liefern vorgibt, ohne sich auch nur des Begriffes der Arbeitswerttheorie, geschweige denn dem der marxschen, vergewissert zu haben. Dies ist exemplarisch für die verbreitete schlechte Angewohnheit, Kurzbiographien und willkürlich zusammengestellte Theorie-abstracts zum willkürlichen narrative zu verrühren und sogleich für eine dem Leser zuträgliche Aufarbeitung einer Problemgeschichte auszugeben.
Die Monstrosität dessen, was Soziologen oft geneigt sind, für eine passable Geschichtsbetrachtung halten, erscheint Merton als umso gravierender, als zunehmend Wissenschaftshistoriker auf Soziologie als Hilfsdisziplin zurückgreifen möchten. Zuerst muss dann aber Theorie und Geschichte analytisch unterschieden werden:
„The history and systematics of scientific theory can be related precisely because they are first recognized to be distinct.” (Merton 1968a:3)
Es opponiert Merton zu Recht gegen „the artless merger of history and systematics“. Ein Wissenschaftshistoriker muss den gesamten Entwicklungsprozess neuen Wissens untersuchen und darf dabei auch nicht der Fiktion erliegen, dass die veröffentlichte Form auch dieselbe Form ist, in der das Wissen entstanden ist:
„The public record of science therefore fails to provide many of the source materials needed to reconstruct the actual course of scientific developments.” (Merton 1968a:4)
Vor allen Dingen darf er nicht eine amalgamierte, stilisierte Form einer Theorie als authentische geschichtliche Tatsache vorstellen, sondern die Problementwicklung [3]) innerhalb der Arbeit eines Theoretikers nachverfolgen. Merton (1968a:21) sieht als eines der größten Probleme an, als einen Drahtseilakt, dementsprechend eine Problemkontinuität oder -diskontinuität authentisch zu rekonstruieren. Ein verbreitetes Laster der Wissenschaftsgeschichtsschreibung besteht nämlich im „adumbrationism“, einer Tendenz, sobald eine Idee neu expliziert worden ist, überall dafür angebliche Vorläufer zu entdecken. Von derart Skrupeln wenig geplagt, ist es nur zu deutlich, dass Popper gerade auf dieser Tour geritten ist, wenn er nach dem historischen Ende von Hitler als Vorläufer des Faschismus mit einem Schlag Platon entdeckt. Alles in allem, liefert Popper nicht Geschichtswissenschaft, sondern einen Mythos, oder moderner ausgedrückt: ein narrative, d.h. ein Histörchen darüber, wie sich Klein-Erna die Geschichte vorstellt und er wünscht, wie andere sie auch sehen möchten.
Ein Mythos war Platon eine zulässige dichterische Form, einen Gedanken darzustellen. Aber er kannte demnach zumindest die Differenz. Außerdem gibt es noch so etwas wie eine Notwendigkeit in der Beziehung zwischen Form und Inhalt. Die Idee des Mythos hat Sorel (1981a) als ideologisches Kampfmittel aufgegriffen. Bloch hat später zu argumentieren versucht, man solle dieses mächtige irrationale Kampfmittel [4]) nicht der politischen Rechten überlassen. Allein politische Kampfmittel sind selten wertneutral. Das gilt übrigens auch für den „war of ideas“, an dem Popper teilzunehmen glaubte.
[1]) "Die Völker der Sowjetunion wurde über siebzig Jahre lang eine immer falsche Geschichte gelehrt. Daher der Witz aus jenen Zeiten: 'Die Zukunft ist gewiss, nur die Vergangenheit nicht.'" (Stern 1998a)
[2]) "Die Vernunft ist - bei diesem Ausdruck können wir hier stehen bleiben, ohne die Beziehung und das Verhältnis zu Gott näher zu erörtern - die Substanz wie die unendliche Macht, sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens, wie die unendliche Form, die Betätigung dieses ihres Inhalts. Wir haben Ernst damit zu machen, die Wege der Vorsehung, die Mittel und Erscheinungen in der Geschichte zu erkennen. Wir müssen beachten, dass die Weltgeschichte auf dem geistigen Boden vorgeht. Indem wir es mit der Idee des Geistes zu tun haben, und in der Weltgeschichte alles nur als seine Erscheinung betrachten, so haben wir, wenn wir die Vergangenheit, wie groß sie auch immer sei, durchlaufen, es nur mit Gegenwärtigem zu tun; denn die Philosophie als sich mit dem Wahren beschäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu tun. Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d.h. er ist nicht vorbei und ist noch nicht, sondern ist wesentlich jetzt." (Hegel, zit. nach Neurath 1931a:24)
[3]) Vorbildlich in diesem Sinne sind auf Marx bezogen Tuchscheerer (1968a) und im Hinblick auf Weber insbesondere Schluchter (1991a). Neuere gelungene Versuche einer Disziplingeschichte der Soziologie stellt Joas (1998a) vor.
[4]) „Myths are, indeed, straw-men; but when one is knocked down by a straw-man one is bound to feel hurt and humiliation." (Agassi 1993a:150)
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