Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Kann man Ideen ideengeschichtlich widerlegen?

Kein wissenschaftliches Resultat ist dagegen gefeit, aus dem theoretisch-methodologischen Kontext heraus, indem es als wissenschaftliches Argument notwendigerweise steht, herausge­nom­men und als absolute Wahrheit aufgefasst und verkündet zu werden. So stimmt es selbst­ver­ständlich, dass bei einer Popularisierung oder in der Propaganda die logischen Vorausset­zungen einer Progno­se meist unter den Tisch fallen (so wie bei jeder Veröffentlichung von Re­sultaten empirischer Sozialforschung in den Medien die methodischen Voraussetzungen dersel­ben ungenannt bleiben). Auch Poppers Falsifikatio­nis­mus kann naiv verabsolutiert, seine of­fe­ne Gesellschaft simplifiziert werden. So ist zumindest Poppers Kritik die Undifferenziertheit an­zulas­ten, mit der sie nicht zwischen der anspruchsvollen wissenschaft­lichen Form des marx­schen Arguments oder anderer mar­xistischer Theoretiker und deren po­pu­lari­sierten und ideo­lo­gischen Fassungen unterscheidet, wie man sie in der Tagespraxis kom­munisti­scher Agitation sowie beim normalen Medienkonsumenten vorfindet (Kolakowski 1984a; Burawoy 1990a). An­geb­lich jedoch kam es Popper ja darauf an, das Argument in seiner stärksten Form zu kriti­sie­ren, und nicht etwa nur ideologische Verflachungen oder Deformationen des Marxismus an­zu­pran­gern. War es aber wirklich Poppers Absicht, das politische Wunschdenken des Marxismus zu bekämp­fen, d.h. die marxistische Politik auf eine realpo­litische Basis zu stellen?!

Wenn Popper sein eigenes Anliegen offen betrachtet hätte, so wäre er darauf gekommen, dass es ihm um primär politische Dif­fe­ren­zen mit kommunistischer Politik ging und nicht darum, ob Mar­xisten eine logisch einwandfreie Prog­nosetechnik benutzen. Poppers Strategie, Vor­urteile durch Aufsuchen ihrer the­oreti­schen oder philosophischen Ursprünge liquidieren zu wollen, stellt eine Argumentationslinie dar, die selbst auf einer mythischen Denkweise be­ruht, welche eine Idee als eine Sub­stanz auffasst, wie mit sich selbst identisch bis auf ihren ersten Ursprung zu­rückzuver­folgen ist. Diesen verbreiteten My­thos [1]) hat Bhatt (1999a:75) rekonstruiert. Der ver­breitete Glaube an Propheten beruht aber nicht so sehr auf einer falschen Philosophie oder bö­sen Ideen als an irrationalisierenden Ein­flüssen der betreffenden Form der Gesellschaft. Dies widerspricht auch eklatant Poppers Essentialis­mus-Kritik, dessen sog. „me­thodologischen No­mi­nalismus“ viel eher Neurath in einer kurz und präg­nan­ten Weber-Kritik zum Ausdruck bringt:

„Es gibt Protestanten, aber keinen Protestantismus.“ (Neurath 1931a:58)

Demzufolge müsste Popper als Nominalist konsequenterweise sagen: Es gibt kei­nen Essen­ti­a­lis­mus (oder Marxismus, Totalitarismus etc.), sondern nur Essentiali­sten (etc.) Elster (1982a) hat ge­nau die­sen Braten gerochen und plädiert für einen methodologischen Individualismus zuzüglich bei den Individu­en kognitiv vorhan­de­ner Universalien - eine Lösung, der Popper später mit sei­ner 3-Welten-Lehre näher­getreten ist.

In den eigentlichen Kernpunkt des Problems führt vermutlich die Frage der Be­griffs­logik. He­gel hat die Identität zwischen Denken und Sein [2]) vorausgesetzt, hat aber diese klare idea­li­sti­sche Prä­misse nur zur ex-post-Betrachtung ausgewertet. Es ist nur zu verständlich, dass Links­he­ge­lianer wie Lukács diese idealistische Prä­misse auszubeuten versu­chen, um eine The­o­rie revolutionärer Praxis zu fundie­ren, die womöglich die Geschichte der Zu­kunft zu kon­stru­ieren er­lauben soll. So wie Disneyland nicht mehr den Schein von Wirk­lich­keit, son­dern den Schein einer Scheinwelt widerspie­gelt, so ist der Neohegelianismus in seiner aufge­wärmten Form eine Ver­doppelung bereits ideologisch verdoppelter Scheinwelten, also Ide­olo­gieIdeologie. Die Nabel­schnur zum realen Leben ist dem ungeübten Auge nicht mehr er­kennbar, oft mit theorieim­manen­ten Mitteln nicht mehr auszumachen. Ra­tionaler Zugang ge­lingt nur noch durch kritische Destruk­ti­on. Der Neohegelia­nis­mus ist ein Gerüst, das auf ein an­deres Ge­rüst baut, ohne des­sen Grund­lagen zu geprüft zu haben.

Existenzgrundlage des Marxismus ist aber schon jeher die Arbeiterbewegung und darauf fu­ßend die Kritik der politischen Ökonomie. Es ist daher begründeter Zwei­fel angebracht,

1. ob ein ideologisch-dogmatisches Ausbeuten der idealistischen Identitätsphilo­sophie je­mals in Marxens Absicht lag (Es wäre nicht erfordert gewesen, jahrelange ökono­mi­schen Grund­lagen- und Detailanalysen für das „Kapital“ zu treiben, wenn ein spekulati­ver Zu­griff auf die Zukunft für praktikabel gehalten wäre!) und

2. ob die materialistische Fundierung der marxschen Dialektik dies logisch und/oder philo­so­phisch überhaupt zugelassen hätte.

Die Identität von Denken und Sein in der revolutionären Praxis stellt sich nämlich nur sehr wi­der­sprüchlich her und ist zu keinem Zeitpunkt der Geschichte absolut zu nehmen. Die ab­so­lute Iden­tität von Sein und Bewusstsein ist für das marxsche Denken historisch nie erreicht; sie kann nichts weiter als eine philosophische Abstraktion darstellen. Einzig die Kritik in und durch die Pra­xis vermag wirk­lich zu werden.

„Dass aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei, und zur Seligkeit gehöre, ist Aber­glaube.“ (Kant XI:335) [3])



[1]) „’Blood’ invokes immediately the sexual metaphor and the heterosexual act itself. These se­xu­al meta­phors are allied closely to the patronymic of the ancient fathers (not the actual father, who is typically made to disappear) and the genealogical quest that shows one’s descent from and identity with them. In this project, time is both collapsed and is seen to be congruent with the tra­vel of the patronymic, or with that quality which is transmitted patrilinearly. The mother, the ‘empty vessel’ (Theweleit 1987) is also created as dis­ap­pearance in this mythical genealogy, but frequently re­ap­pears in various ancient geographical or spatial tro­pes. This ‘genealogy’ is a pure form, an imme­di­ate purity of the male self, or the purity of the substance that is transmitted unchanged, that pro­vi­des a powerful my­thical idea for one’s ownmost and purest history."

[2]) „Aus der Identität von Denken und Sein die Realität irgendeines Denkergebnisses beweisen zu wollen, das war ja grade eine der tollsten Fieberphantasien - eines Hegel." (Engels, Anti-Düh­ring:68)

[3]) Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Physi­schen oder Moralischen." (Kant XI:335, Anm.*)

2 Kommentare:

meffo hat gesagt…

„Und nach dem kurzen Verzweifeln kommt nun, wie es sich gehört, die fröhliche Wissenschaft. Denn nun ist sie rechtfertigungsfrei, überhaupt ganz und gar frei. (...) Feyerabend ist konsequenter als Popper, er wählt nämlich gleich Anarchismus der Methoden." (Brentano 1971a:490)
Ebenfalls meldet Bhatt ) gewisse Zweifel an, ob mit der Kritik des Fundamentalismus durch den Fallibilismus schon der Sieg der aufklärerischen Vernunft sichergestellt sei. Indes, wenn er die leichte Verfügbarkeit selbst fallibilistischer Argumentationen für partikularistische Ideologie denunziert, erhebt sich die Frage, ob er damit von Philosophie oder Ideen nicht etwas verlangt, was sie per se nicht leisten können. Es gibt eben keine Gedanken mit eingebautem Missbrauchsschutz, in der Philosophie so wenig wie anderswo. Das Problem sitzt sogar noch tiefer. Begriffe bilden zusammen mit ihren typischen Anwendungsfällen ein Sinnganzes. Notorischer Missbrauch kann daher tatsächlich einen Begriff mit der Zeit völlig herunterwirtschaften, was dann aber weniger mit der Idee an sich zu tun hat, als mit den Leuten, ihren Verhältnissen und ihrer Geschichte.

meffo hat gesagt…

"Western critics of teleological reason or foundationalism, such as Kuhn and Feyerabend, are mobilized in support of a project that seeks to create the human civilization record anew in fundamentally particularist directions. If this illustrates the ease with which anti-foundationalist ideas can allow themselves to be used for chauvinist enterprises, it perhaps also raises a more elemental question about the nature of the philosophical debate about foundation."(Bhatt 1999a:76)

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