Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Hegel-Phobie

Wie einstens Spinoza, so wurde Hegel schon kurze Zeit nach seinem Tode als ein toter Hund [1]) behan­delt. Popper und Albert „folgen der gewöhnlichen Heer­straße des Auffassens“ (Hegel (1930b:10, Anm.1), wenn sie den deutschen Idea­lis­mus [2]) beiläufig und pauschal als Schar­latanerie abtun:

„According to Popper Hegel was plainly a charlatan who polluted the German lan­guage and intellectual atmosphere, thus making intellectual irresponsibility re­spec­table. This way, says Popper, Hegel was preparing the ground for the rise of Nazism with no suspicion of things to come.” (Agassi 1993a:193)

Hegel stellt sogar für Popper [3]) den einzigartigen Fall eines Autors dar, den man nicht zu verstehen brauche, um ihn kritisieren zu können. Hiermit stoßen wir in Popper auf einen Ra­tionali­sten, der auf seine Gesprächsverweigerung [4]) noch stolz [5]) ist.

Hegel hat wohl eine beeindruckende Karriere vom preußischen Staatsphilo­so­phen zum „toten Hund“[6]) hinter sich. Und noch sind keinerlei Anzeichen vor­han­den, dass damit die Seelen­wan­de­rung des zum Berliner mutierten Schwaben ihr Ende erreicht hätte.[7]) Im Falle des toten Hundes Hegel zog selbst Popper es vor, mit den Wöl­fen zu heulen.[8]) Wer aber zur Quelle gelangen will, muss gegen den Strom schwimmen.

Mit einem von Fey­er­abend (1976a:395) der anthro­pologischen Forschung (Mar­wick 1970a:364) entlehnten Begriff kön­nen wir bei Hegel-Phobie auf das Vorliegen einer „Tabu-Reaktion“ er­ken­nen, welche re­gel­mä­ßig durch Ereignisse her­vor­ge­ru­fen wird, welche sich den eingeführten Klas­si­fi­ka­ti­ons­sche­mata einer eigentümli­chen Kul­tur nachdrücklich widersetzen.

Agassi [9]) muss schon sehr herumdrucksen, um Poppers außergewöhnliche Form der Kri­tik im Rahmen eines Kritizistismus noch irgendwie unterzubringen, und landet zum Behuf der fäl­li­gen Be­gründung - wer hätte dies erwartet?! - bei einem öden Werturteil:

“Popper criticized all irrationalism as such. Yet, he had a limit: he preferred to ig­nore details of ideas of tho­se who, like Hegel, show disregard for the truth. He did critizise their hostility to freedom and justi­ce, and he did criticize He­ge­lian dia­lec­tic, but he preferred to ignore the rest as too indifferent to the truth.” (Agassi 1997a:516)

Agassi sucht mit seiner vielleicht wohlgemeinten, aber apologetischen Kapriole ver­geb­lich zu beschönigen, dass ein schreiender Widerspruch klafft zwischen Pop­pers Ab­fer­ti­gung He­gels zu der von ihm selbst nur zwei Zeilen weiter deklarierten Maxime eines fal­li­bi­li­stischen (bzw. “ne­ga­tivistischen”) Kritizismus:

“Negativism may ignore it by concentrating on the question of truth in disre­gard for all motives.” (Agassi 1997a:517)

So wie hier Agassi kann aber nur jemand reden, der sich schon im Besitz der Wahr­heit oder zu­min­dest der richtigen Methode weiß. In dem Übermaß seines Ei­fers, Popper reinzu­wa­schen, hat sich Agas­si noch mehr in den doppelt, 3-fach, was weiß ich: n-fach verschanzten Dogma­tis­mus hinein­ge­re­det. Oder ist jeder, der mit Poppers Ansichten über Freiheit und Ge­rechtigkeit nicht übereinstimmt, schon dadurch ein Feind von Freiheit und Gerechtigkeit?! Wann ist der Vor­wurf der Irra­ti­onalität eine be­rechtigte Kritik, wann eine selbst errichtete Schranke oder leicht zu errei­chen­de Grenze des argu­men­tativen Diskurses? Jede zu enge Aus­le­gung von Ra­ti­o­nalität ist wenig ver­hüllter Dogmatismus. Wie dem auch sei, für Popper en­det das Abenteuer Wissenschaft an der Gren­ze zum Reiche Hegels.

Die In­tensi­on solcher Schimpfwörter [10]) angesichts ihrer manifest rhetorischen und katharti­schen Funk­ti­on verrät sich bloß noch durch eine etymologische Spur, die sich in Jahrhunderte fernen Kon­tro­versen verliert. Diese ist jedoch im jeweils aktuellen Kontext meist so gut wie un­beacht­lich. Ihre aktuelle Funktion besteht nämlich stets darin, die Auseinandersetzung mit der­art ge­kenn­zeichneten Ansich­ten schlichtweg als unzumutbar hinzustellen und sich dieser dem­nach in an­schei­nend legitimer Weise als enthoben zu betrachten. Auch das ist positivisti­sche Stra­te­gie. Das absichtsvolle Misslingenlassen einer hermeneutischen Übung bzw. einer lo­gisch be­frie­digenden Rekonstruktion, die Kannitverstan-Allüren [11]) eines ungläubigen Saulus muss aber dem unwilli­gen Interpreten als rhetorisch insze­nier­tes „sokratisches Nichtwissen“ aus­gelegt wer­den. Es neigen Positivisten dazu, auf unplausible Kommunika­tions­ver­su­che zu re­a­gieren wie ein Computer auf fehler­haf­te Eingaben. Vielleicht ist es aber auch nur ein fehlgeleiteter „Wort­zauber“ (Albert 1972c:281)?!

Popper hat seine Entscheidung, seinen search tree (Barr, Feigenbaum 1981a:59) vor der Ana­ly­se des deutschen Ide­alismus abzubrechen, als Erkenntnis nur maskiert. Ein Urteil, das feststeht, be­vor eine Prüfung durchgeführt wurde, heißt „Vorurteil“. Aus einer Entscheidung, die Suche abzu­brechen [12]), wird eine Verschanzung zu einem hartnäckig geführten ideologischen Gra­ben­krieg, vergleichbar dem Artille­riegefecht mit verbalen Platzpatronen, welches Horkheimer und Adorno jahrelang dem Positivis­mus zu liefern sich bemüßigt gefühlt hatten.

„Was die nachkantische deutsche Philosophie betrifft, so erscheint mir alles ab­we­gig zu sein, was auf Fichte, Schelling und Hegel zurückgeht.“ (Popper 1984a:XXIV)

Mit diesem Pauschal-Verdikt schafft sich Popper in bequemer Weise und auf ei­nen Schlag ziem­lich viele philosophische wie auch politische Alternativen [13]) vom Halse. Natürlich ist die Ge­schichte seit dem 19. Jahrhundert weitergegangen, und die Welt umfasst mehr als Mittel­eu­ro­pa.[14]) Liegt dies etwa daran, dass man den deutschen Idealismus nicht nur durch Marx und En­gels, sondern zu­dem noch durch die Brille [15]) der russischen Oktoberrevolution zu sehen ge­lernt hat?

Wird Kritik jedoch nicht pünktlich am Text der Theorie vollzogen, wird damit nur der eigene Stand­punkt zementiert. Denn die Diskussion divergierender Paradigma­ta wird erschwert durch die man­geln­de Identifizierung der zugrunde gelegten Tex­te oder Theorien. Popper bie­tet an Stel­le des­sen per­so­nalisierende Polemik und scheinpolitische Rhetorik auf, herausge­rissene Zi­ta­te, die er zum Teil mit Argu­men­ten aus den Naturwissenschaften zu widerlegen sucht. Wel­chen Schluss zieht er aber et­wa aus der physikalischen Kritik [16]) Hegels für dessen po­li­tische Phi­lo­sophie? Man gewinnt schier den untrüglichen Eindruck, dass Popper hier le­dig­lich auf ei­nen billigen Fang aus­ging. Jarvie u. Shear­mur (1996a:445) sprechen daher auch angemessen und taktvoll von einem „extended inter­pretative commentary on Plato and on Marx, and more cursory discussion of Hegel”.

Die fallibilistische Methodologie tritt ihrer Zielsetzung nach für eine Proliferation von The­o­ri­en und Me­ta­the­ori­en ein, denn Kritik benötigt ein Material. Die Schöp­fung neuer Hypothesen fragt dabei nicht zu aller erst nach Wahrheit, denn die al­ten Wahrheiten sind die Feinde alles Neu­en.[17])

Popper wie Albert halten anscheinend zumindest im Falle Hegel Kühnheit der Spe­kulation für ei­nen vernichtenden Einwand. Kühnheit [18]) ist in erster Linie eine Frage von Tempe­ra­ment, Ein­falls­reich­tum und Radikalität des Denkens, nicht nur bei einem empirischen Wissenschaft­ler, son­dern auch bei einem Philosophen oder Logiker. Wir haben keinen Anlass, Kühnheit auf empiri­schen Gehalt zu be­schrän­ken. Kühnheit ist nicht zu verwechseln mit bodenlosem Wahn­witz. Aber auch Un­sinn [19]) ergibt sich im philosophi­schen Dis­kurs oft le­diglich dar­aus, dass die zu­grun­de lie­gende Problemstellung der betref­fen­den Aus­sa­gen und so­mit das Thema der Erörterung nicht genügend deutlich gemacht werden. Ver­nünfti­gen macht auch Unsinn Sinn.

Popper demonstrierte in dieser Hinsicht nur eine seiner Person eigentümliche Un­fähigkeit, aus Ge­schich­te zu lernen [20]). Denn es ist jedem klar, der etwas in der Ge­schichte der Sozial­wi­sen­schaf­ten bewandert ist, dass ohne Kenntnis der Pro­blem­geschichte des deutschen Idealismus (Kroner 1921a) weder ein tiefergehendes Textverständnis von Marx oder Weber noch überhaupt das der nach­fol­gen­den deut­schen Geistesgeschichte erschlossen werden kann.[21])

Wir sehen: Die Welt, insbesondere aber die Politik ist eine Sammlung von Reiz­the­men. Und mit einer Mixtur aus kognitiver Ambi­gu­i­tät und emotionaler Auflad­barkeit, wie wir sie gerade bei Hegel finden, ist er der geborene Wat­schen­mann des Kriti­schen Ra­ti­onalismus. Wer die Welt in Böcke und Schafe einteilt, dem ge­bricht es nie allzulang an einem Sün­denbock.

„In Deutschland pflegt man unter dem Einfluss einer systematisch sterilen her­me­neutischen Philosophie dieses Buch vor allem danach zu beurteilen, ob dar­in He­gel richtig verstanden wurde, eine Tatsache, die auf die Befürworter sol­cher Stan­dards ein bezeichnendes Licht wirft.“ (Albert 1967a:27, Anm.54)

Will Albert damit etwa andeuten, dass im besonderen Falle Hegel Miss- oder Nichtverstehen eine ange­messene Form der Kritik darstelle?! Das durchsichtige Ablenkungs­manö­ver trifft nur den einen Punkt: Poppers Werk sollte nicht nach seinem schwächsten Punkt, seiner Hegel-Kritik, beurteilt werden. Man kann Hegel missverstehen (1972c:334, An­m.156) und dennoch ein guter Mensch sein.[22]) Es liegt aber die Schuld nicht an He­gel, dass Popper ihn als Fluchtpunkt eines ver­fehl­ten Kritik­ver­su­ches auserkoren hat. Ein anderes ist es, als ein selbst bestellter cri­ticus et­was über die Phi­losophie Hegels sagen zu wollen und sich zugleich damit zu brüsten, sie nicht verstan­den zu ha­ben. Unsinn ist meist nur das Indiz für ein her­meneuti­sches bout-du-monde. Hier­bei wird nicht die Kritik, sondern der Kritikaster zum Maß aller Dinge gemacht.

All die­se nega­tive Fi­xierung auf Hegel als eine permanente Ent­glei­sungsstelle lässt doch ge­wisser­ma­ßen auf eine durch emo­tionale Übererregung erzeugte Denk­­blockade führender Ver­tre­ter des Kriti­schen Ra­ti­ona­lis­mus schließen, welches Lernen aus Fehlern verhindert, weil da­zu not­wen­dige Inter­pre­ta­ti­ons­prozesse ver­sperrt wurden. Letzt­lich schließen die Kritischen Ra­tiona­listen aber nicht unge­straft He­gel aus ihrer philoso­phi­schen Manege aus. Sie bezahlen es nicht nur da­mit, über all die Jahre recht naive Auf­fas­sun­gen über das We­sen dessen Philoso­phie unbeschadet in ihrem Bu­sen zu hegen.[23]) So lange in­des Kri­ti­sche Ratio­na­listen in einer Um­welt gedeihen, für welche die­se Form von Un­be­lehr­bar­keit keine schwer­wiegenden nega­ti­ven, sondern eher positiven Kon­se­quen­zen zeitigt, wer­den wir uns je­doch wohl noch recht lan­ge daran erfreuen dürfen.



[1]) "Die mystifizierende Seite der hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band des 'Kapital' aus­ar­beitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wieder brave Moses Men­delssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als 'toten Hund'. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewe­gungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. In ih­rer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Är­gernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Ver­ständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponie­ren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. Die widerspruchsvolle Bewegung der ka­pitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfel­punkt - die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorsta­dien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken." (MEW 23:27 ff.)

[2]) Kant ausgenommen, der bei Popper in der Rolle des "Ersten Kritischen Rationalisten" seit der An­tike seinen großen Auftritt hat

[3]) „Nun glaube ich nicht, dass die Klassifikation eines Werkes als einer bestimmten Schule zu­gehörig schon sei­ne Erledigung bedeutet; im Falle des hegelschen Historizismus scheint mir aber dieses Vorgehen erlaubt zu sein; die Gründe dafür werden im zweiten Band dieses Werkes dis­ku­tiert werden." (Popper 1980a:285)

[4]) de facto wurde die kritisch-rationale Funksperre von Popper (1984b:105) jedoch auch auf Mar­cuse und Ha­ber­mas ausgedehnt: „Ich lasse mich nicht gern auf eine Kritik dieser Philosophen ein. Sie zu kritisieren hieße (wie einst mein Freund Karl Menger sagte), ihnen mit gezücktem Schwert in den Sumpf, in dem sie so­wie­so ver­sin­ken, nachzuspringen, um mit ihnen zu versinken. (Hans Albert hat’s gewagt, und er ist bisher noch nicht ver­sun­ken.) Statt sie zu kritisieren, versuche ich, durch die Diskussion von Problemlösungen neue, bessere Maß­stä­be (neue ‘standards’) ein­zu­richten." Die Sache ward dem Gebirgsländler Popper zu sumpfig. Doch: "Wenn frü­her ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen, verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf." (Neurath 1931a:118)

[5]) „Dabei schadet sich nur jeder selbst, der auf derlei Unwissenheit auch noch stolz ist." (Dru­cker 1999a:10)

[6]) „Lessing sagte zu seiner Zeit: die Leute gehen mit Spinoza wie mit einem toten Hunde um; man kann nicht sa­gen, dass in neuerer Zeit mit dem Spinozismus und dann überhaupt mit speku­la­ti­ver Philosophie besser um­ge­gan­gen werde, wenn man sieht, dass diejenigen, welche davon refe­rie­ren und urteilen, sich nicht einmal be­mü­hen, die Fak­ta richtig zu fassen und sie richtig anzu­ge­ben und zu erzählen. Es wäre dies das Minimum von Ge­rech­tigkeit, und ein solches doch könnte sie auf allen Fall fordern." (Hegel, Enzyklopädie:17)

[7]) "Wäre Hegels Philosophie schon tot, so müsste man über die heftige Polemik erstaunen, mit welcher sie eben von denen bekämpft wird, die sie für verschollen erklären. Eine tote Sache pflegt doch nicht so lebendigen Widerspruch zu erfahren." (Rosenkranz 1977a:XXVIII)

[8]) "... die Zeit der Gärung, mit der eine neue Schöpfung beginnt, (scheint) vorbei zu sein. In ihrer ersten Erscheinung pflegt eine solche sich mit fanatischer Feindseligkeit gegen die ausgebrei­tete Systematisierung des früheren Prinzips zu verhalten, teils auch furchtsam zu sein, sich in der Ausdehnung des Besonderen zu verlieren, teils aber die Arbeit, die zur wissenschaftlichen Ausbil­dung erfordert wird, zu scheuen und im Bedürfnisse einer solchen zuerst zu einem leeren For­ma­lis­mus zu greifen. Die Anforderung der Verarbeitung und Ausbildung des Stoffes wird nun um so dringender. Es ist eine Periode in der Bildung einer Zeit, wie in der Bildung des Individuums, wo es vornehmlich um Erwerbung und Behauptung des Prinzips in seiner unentwickelten Inten­sität zu tun ist. Aber die höhere Forderung geht darauf, dass es zur Wissenschaft werde." (Hegel: Wissen­schaft der Logik:6)

[9]) „What has annoyed the Hegel devotees was not the criticism but the off-hand wholesale re­pu­diation and dismissal. (...) Not that I myself endorse Popper’s outright dismissal." (Agassi 1993a: 194f)

[10]) "Phänomenologisch von Wichtigkeit ist, dass bei den letztgenannten Gelegenheiten, also dem Segnen, Ver­fluchen usw., der Wortgestaltung nach eigener Findung wesentlich größerer Spiel­raum gelassen scheint, als bei den Anlässen, wo ein Schaden verhindert oder behoben werden soll. Hier bedient man sich beinahe immer fester, erlernter Formeln. Beim Segnen und Fluchen mit ih­ren ungezwungenen Formulierungen kommt es jedoch, dem Ausübenden selber bewusst, auf die Tiefe des jeweiligen Affektes an. 'Es muss wirklich ernst gemeint sein', so lau­teten die entspre­chenden Er­klärungen, 'sonst wirkt es nicht.'" (Zucker 1948a:26)

[11] ) Nicht verstehen wollen als untauglichen Ersatz für ein philosophisches Argument wird von Agas­si (1993a:142) bei Wittgenstein kritisiert. Es ist unbedingt vom sokratischen Nichtwissen zu un­terscheiden, wenn man seine Funktion im Diskurs beachtet. Nicht verstehen kann natürlich auch produktiv sein, wenn man sich durch derlei Manko provozieren lässt und es nicht als existen­ti­elles Schicksal erleidet; siehe da­zu Boelderl (1997a). "Die List, die darin besteht, dass der Kluge die Gestalt der Dummheit annimmt, schlägt in Dummheit um, sobald er diese Gestalt aufgibt." (Horkheimer, Adorno 1998a:76)

[12]) "In der Meinung, ohne strikte Beschränkung auf Tatsachenfeststellung und Wahrscheinlich­keits­rechnung bliebe der erkennende Geist allzu empfänglich für Scharlatanerie und Aberglauben, präpariert es den ver­dor­renden Boden für die gierige Aufnahme von Scharlatanerie und Aberglau­ben. Wie Prohibition seit je dem gif­tigeren Produkt Eingang verschaffte, arbeitet die Absperrung der theoretischen Einbildungskraft dem politi­schen Wahne vor. Auch sofern die Menschen ihm noch nicht verfallen sind, werden sie durch die Zensurme­cha­nismen, die äußeren wie die ihnen selbst eingepflanzten, der Mittel des Widerstands beraubt." (Horkhei­mer, Adorno 1998a:3)

[13]) Es muss nicht betont werden, für einem Fallibilisten ist hier das genaue Gegenteil angesagt: „While an organon of de­monstration should be kept weak, an organon of criticism should be strong." (Popper 1973a:139f)

[14]) So sucht Rorty (1985a:169f) ein solches Verdikt mit ähnlicher Verdrossenheit zu begründen, wobei er hier auf Haber­mas (1981a) zielt: "The typical German story of the self-consciousness of the modern age (the one which runs from He­gel through Marx, Weber, and Nietzsche) focuses on fi­gures who were preoccupied with the world we lost when we lost the re­ligion of our ancestors. But this story may be both too pessimistic and too exclusively German. If so, then a sto­ry about the history of modern thought which took Kant and Hegel less seriously and, for example, the re­la­ti­ve­ly untheoretical socialists more seriously, might lead us to a kind of 'end-of-philosophy' thinking which would es­cape Habermas' strictures on Deleuze and Foucault. For these French writers buy in on the usual German sto­ry, and thus tend to share Habermas's assumption that the story of the realignment, assimilation, and expansion of the three 'value-spheres' is essential to the story of the Selbst­vergewisserung of modern society, and not just to that of the modern intellectuals." - Rorty über­sieht in­des, dass gerade die Sozialisten Kant und Hegel immer wieder studiert und weltan­schau­­lich ausgewertet haben. Nur dadurch erhält auch Poppers Projekt, aus dem deutschen Idea­lis­mus den mo­dernen Totalitarismus 'abzuleiten', einen Anflug von Plausi­bi­lität. Zu Recht ge­ta­delt wird hingegen die Ten­denz, aus Welt-3-Prozessen wie dem Fortgang phi­lo­sophischer Kritik direkt Prozesse ge­sellschaftlichen Wan­dels ablesen zu wollen oder gar zu schluss­folgern. Hier ist die Ge­schichte politischer Parteien oder der öf­fent­lichen Meinung weitaus näher am Ball (Arendt 1986a; Bracher 1964a). Mit Sicherheit sind Hitler und Sta­lin für den Normalsterb­li­chen wichtiger denn jeg­licher Philosoph. Deswegen ist Philosophie jedoch keine poli­tisch oder sozial irrelevante Größe. Eine soziologische Gesellschaftsanalyse ist ihrem Gegenstand natür­lich näher. Aber jede Sozio­lo­gie setzt Philosophie voraus; das ist die These, die vertreten werden soll. Diese Einsicht war Marx mitnichten und ist auch wohl Habermas keineswegs fremd. Neoplatoni­ker wie Hegel und Popper hatten da schon eher ihre Schwierigkeiten, diese Binsenwahrheit metho­disch zu realisieren. So sucht pa­radoxerweise Popper Hegel politisch zu erledigen, indem er Welt­ge­schichte im hegelschen Duktus schreibt; d.h. er sucht Hegels Ge­schichts­philo­so­phie zu wider­le­gen, indem er deren Me­tho­­de (zu­gege­be­nermaßen mehr rhapsodistisch und min­der syste­ma­tisch) selbst anwendet.

[15]) “Indeed, it is difficult to appreciate the state of Marxist theory before Lenin because inevi­tab­ly we read it, whe­t­her positively or negatively, through the prism of Lenin’s theories." (Burawoy 1990a:784) „Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deut­sche wissenschaftliche Sozialismus - der einzige wissenschaftliche Sozia­lis­mus, der je existiert hat - nie zu­stande gekommen.“ (Lenin 1962a:57) Tatsächlich hält Pop­per (1979a:55) den Marxismus durch die Russische Revolution em­p­risch widerlegt; demzu­fol­ge hält er ihn für seit-1918-dogmatisch. Wenn Soziologie und Ge­schichtswissenschaft so leicht wären! Er weist nicht nach, dass Marxis­mus-vor-1918 und Marxis­mus-nach-1918 in dieser Hinsicht als identisch an­ge­se­hen werden kann (ganz abgesehen von der "Feinheit", dass Marxismus ein Programm ist, und immer nur einzelne The­orien aus einem Pro­gramm empirisch widerlegt werden können). „... Marx hielt es zwar für mög­lich, dass ein Land wie Russland den Anstoß zu ei­nem Prozess der revolutionären Ver­ände­rung ge­ben könnte, erwartete aber den­noch, dass sich dieser Prozess auf die reiferen kapitalisti­schen Ge­sell­schaften konzen­trie­ren würde." (Giddens 1979a:281f) In­sofern wurde Marxens Erwar­tung nicht durch die Oktoberre­vo­lution, sondern bereits durch das Scheitern der west­europäischen Revoluti­o­nen wi­derlegt; wie auch schon Kautsky (1972a) darauf verweist, dass Marx und En­gels von einer Ausweitung der bür­ger­lichen Revolutionen binnen 3 bis 20 Jahren zu einer proletari­schen aus­ge­gan­gen sind. Wie Kauts­ky vermerkte, hat Bismarck diese Tendenz politisch ähnlich ein­geschätzt, da er sich sonst die Sozialistengesetze gespart hätte. Man muss insofern unter­schei­den zwischen den konkreten Ein­schät­zungen eines Politikers, welche eine grobe Datierung vor­neh­men können, und Ablei­tun­gen aus einem the­ore­tischen Modell, die nur über Tendenzen zu spre­chen erlauben. Jedoch: Es geht hier nicht um Marxens se­herische Fähigkeiten, Visions­kraft oder Erfolgsquote im Ten­den­zen Erraten, sondern um die Falsifikation von sozio­lo­gi­scher The­o­rie, und dazu muss man diese erst einmal haben, d.h.: in angemessen Genauigkeit formuliert haben!

[16]) zum Verhältnis Hegels zu den Naturwissenschaften siehe Neuser (1990a) und Wahsner (1996).

[17]) „the proposal that at times it is advisable to pursue ideas and postpone the worry about the­ir value." (Agassi 1993a:229) Die Methode des brain-storming ist eine methodische Anwen­dung der­selben Idee.

[18]) „A theory is the bolder the greater its content." (Popper 1973a:53) Ein "Scharlatan" ist je­mand, der gegen die hergebrachten Regeln der Zunft verstößt. Ist ein solcher Vorwurf ein geeig­ne­tes Argument für Fallibi­li­sten, die vorgeblich Er­kennt­nisfort­schritt durch Nonkonformismus auf ih­re Fahne geschrieben haben?! Wieder ein Indiz, dass Kritische Rationalisten stets die ersten sind, die ihre eigenen Slogans nicht ernstnehmen.

[19]) Popper hält an dem Volksglauben fest, dass die Beschäftigung mit Verrückten selbst ver­rückt mache (wie man es bei Irrenärzten annimmt). Feyerabend (1976a:370) indes sucht nachzu­weisen, Wahnsinn sei oft die Vorstu­fe zu einer neuen Form von Vernunft: „Aus Wahn­sinn wird Vernunft, vorausgesetzt, der Wahn­sinn ist genügend reich und regelmäßig, um als Grundlage einer neuen Weltauffassung dienen zu kön­nen." Auch Poppers „Open Society" besteht in die­sem Sinne aus einem solchen Wahnsinn, aus her­gebrachten Be­grif­fen und Denk­mu­stern eine neue Weltan­schauung zu fabrizieren. Die Ideolo­gie der Entideologisierung (Topitsch 1966a:25), ex­trapoliert eine keimfreie Wissenschaftlichkeit und re­in­karniert somit Augustins Idee der purifi­ca­tio ani­mae. Das Schlagwort vom "Ende der Ideo­logien" stellt nur einen sehr naiven Fehlschluss von be­kannten auf un­bekannte Arten von Ideologie dar. Verkannt wird dabei, dass in der Lebenspraxis logische Utopien nur höchst sel­ten unver­misch­te Wirklichkeit werden. Der Kampf ge­gen ideolo­gisch be­einträchtigtes Denken ist kein apartes Ge­biet von Hygiene und Prophylaxis, sondern nicht zu tren­nen und identisch mit der Ausein­ander­set­zung um die­jenige Theorie, die der Wahrheit je­weils bes­ser entspricht.

[20]) „The Santayana dictum that those who fail to remember history are destined to repeat it should hold with spe­cial force in the domain of science ..." (Merton 1973a:557)

[21]) „Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und Hegel, das sind die beiden Hauptwurzeln der deutschen So­zi­o­logie; was an älteren sozialwissenschaftlichen Bemühungen in den Staatswis­sen­schaften, der Ka­me­ralistik, der Na­tur­rechtslehre usw. auf sie eingewirkt hat, ist durch diese bei­den Filter erst hin­durch­ge­gangen." (Schelsky 1967a:12)

[22]) Si Popperum discis, satis est, si caetera nescis.

[23]) „Ein anderer solcher nun wird euch nicht sehr leicht wieder werden, ihr Män­ner.“ (Platon, Des Sokrates Verteidigung:22)

1 Kommentar:

meffo hat gesagt…

Bis zum heutigen Tag wird gerne von Poppers vernichtender Hegel-Kritik gesprochen.
Dabei wird übersehen: Eine wüste Beschimpfung oder Verleumdung ist nicht dasselbe wie eine vernichtende Kritik.

1. Eine definitive Widerlegung ist laut Fallibilismus unmöglich zu liefern.
2. Eine Kritik setzt voruas, dass man die zu kritisierenden Texte zur Kenntnis genommen hat.
Nun kann man insbesondere nicht einen Autor vernichtend kritisisieren, den man a) nicht versteht, b) der angeblich lügt, d.h. mit Absicht nicht das sagt, was er sagen will.

Popper hätte sich also besser auf die Kritik der Autoren beschränkt, die sich ihm gegenüber verständlicher ausdrücken. Und betreffs Hegel gesagt, dass er diesen Autor nicht leiden kann.

Zur Verfahrensweise Poppers gegenüber Hegel siehe:
Walter Kaufmann, Hegel, Legende und Wirklichkeit, http://hegel-system.de/popper/W.Kaufmann-Hegel_%20Legend_und_Wirklichkeit.pdf

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