Wie einstens Spinoza, so wurde Hegel schon kurze Zeit nach seinem Tode als ein toter Hund [1]) behandelt. Popper und Albert „folgen der gewöhnlichen Heerstraße des Auffassens“ (Hegel (1930b:10, Anm.1), wenn sie den deutschen Idealismus [2]) beiläufig und pauschal als Scharlatanerie abtun:
„According to Popper Hegel was plainly a charlatan who polluted the German language and intellectual atmosphere, thus making intellectual irresponsibility respectable. This way, says Popper, Hegel was preparing the ground for the rise of Nazism with no suspicion of things to come.” (Agassi 1993a:193)
Hegel stellt sogar für Popper [3]) den einzigartigen Fall eines Autors dar, den man nicht zu verstehen brauche, um ihn kritisieren zu können. Hiermit stoßen wir in Popper auf einen Rationalisten, der auf seine Gesprächsverweigerung [4]) noch stolz [5]) ist.
Hegel hat wohl eine beeindruckende Karriere vom preußischen Staatsphilosophen zum „toten Hund“[6]) hinter sich. Und noch sind keinerlei Anzeichen vorhanden, dass damit die Seelenwanderung des zum Berliner mutierten Schwaben ihr Ende erreicht hätte.[7]) Im Falle des toten Hundes Hegel zog selbst Popper es vor, mit den Wölfen zu heulen.[8]) Wer aber zur Quelle gelangen will, muss gegen den Strom schwimmen.
Mit einem von Feyerabend (1976a:395) der anthropologischen Forschung (Marwick 1970a:364) entlehnten Begriff können wir bei Hegel-Phobie auf das Vorliegen einer „Tabu-Reaktion“ erkennen, welche regelmäßig durch Ereignisse hervorgerufen wird, welche sich den eingeführten Klassifikationsschemata einer eigentümlichen Kultur nachdrücklich widersetzen.
Agassi [9]) muss schon sehr herumdrucksen, um Poppers außergewöhnliche Form der Kritik im Rahmen eines Kritizistismus noch irgendwie unterzubringen, und landet zum Behuf der fälligen Begründung - wer hätte dies erwartet?! - bei einem öden Werturteil:
“Popper criticized all irrationalism as such. Yet, he had a limit: he preferred to ignore details of ideas of those who, like Hegel, show disregard for the truth. He did critizise their hostility to freedom and justice, and he did criticize Hegelian dialectic, but he preferred to ignore the rest as too indifferent to the truth.” (Agassi 1997a:516)
Agassi sucht mit seiner vielleicht wohlgemeinten, aber apologetischen Kapriole vergeblich zu beschönigen, dass ein schreiender Widerspruch klafft zwischen Poppers Abfertigung Hegels zu der von ihm selbst nur zwei Zeilen weiter deklarierten Maxime eines fallibilistischen (bzw. “negativistischen”) Kritizismus:
“Negativism may ignore it by concentrating on the question of truth in disregard for all motives.” (Agassi 1997a:517)
So wie hier Agassi kann aber nur jemand reden, der sich schon im Besitz der Wahrheit oder zumindest der richtigen Methode weiß. In dem Übermaß seines Eifers, Popper reinzuwaschen, hat sich Agassi noch mehr in den doppelt, 3-fach, was weiß ich: n-fach verschanzten Dogmatismus hineingeredet. Oder ist jeder, der mit Poppers Ansichten über Freiheit und Gerechtigkeit nicht übereinstimmt, schon dadurch ein Feind von Freiheit und Gerechtigkeit?! Wann ist der Vorwurf der Irrationalität eine berechtigte Kritik, wann eine selbst errichtete Schranke oder leicht zu erreichende Grenze des argumentativen Diskurses? Jede zu enge Auslegung von Rationalität ist wenig verhüllter Dogmatismus. Wie dem auch sei, für Popper endet das Abenteuer Wissenschaft an der Grenze zum Reiche Hegels.
Die Intension solcher Schimpfwörter [10]) angesichts ihrer manifest rhetorischen und kathartischen Funktion verrät sich bloß noch durch eine etymologische Spur, die sich in Jahrhunderte fernen Kontroversen verliert. Diese ist jedoch im jeweils aktuellen Kontext meist so gut wie unbeachtlich. Ihre aktuelle Funktion besteht nämlich stets darin, die Auseinandersetzung mit derart gekennzeichneten Ansichten schlichtweg als unzumutbar hinzustellen und sich dieser demnach in anscheinend legitimer Weise als enthoben zu betrachten. Auch das ist positivistische Strategie. Das absichtsvolle Misslingenlassen einer hermeneutischen Übung bzw. einer logisch befriedigenden Rekonstruktion, die Kannitverstan-Allüren [11]) eines ungläubigen Saulus muss aber dem unwilligen Interpreten als rhetorisch inszeniertes „sokratisches Nichtwissen“ ausgelegt werden. Es neigen Positivisten dazu, auf unplausible Kommunikationsversuche zu reagieren wie ein Computer auf fehlerhafte Eingaben. Vielleicht ist es aber auch nur ein fehlgeleiteter „Wortzauber“ (Albert 1972c:281)?!
Popper hat seine Entscheidung, seinen search tree (Barr, Feigenbaum 1981a:59) vor der Analyse des deutschen Idealismus abzubrechen, als Erkenntnis nur maskiert. Ein Urteil, das feststeht, bevor eine Prüfung durchgeführt wurde, heißt „Vorurteil“. Aus einer Entscheidung, die Suche abzubrechen [12]), wird eine Verschanzung zu einem hartnäckig geführten ideologischen Grabenkrieg, vergleichbar dem Artilleriegefecht mit verbalen Platzpatronen, welches Horkheimer und Adorno jahrelang dem Positivismus zu liefern sich bemüßigt gefühlt hatten.
„Was die nachkantische deutsche Philosophie betrifft, so erscheint mir alles abwegig zu sein, was auf Fichte, Schelling und Hegel zurückgeht.“ (Popper 1984a:XXIV)
Mit diesem Pauschal-Verdikt schafft sich Popper in bequemer Weise und auf einen Schlag ziemlich viele philosophische wie auch politische Alternativen [13]) vom Halse. Natürlich ist die Geschichte seit dem 19. Jahrhundert weitergegangen, und die Welt umfasst mehr als Mitteleuropa.[14]) Liegt dies etwa daran, dass man den deutschen Idealismus nicht nur durch Marx und Engels, sondern zudem noch durch die Brille [15]) der russischen Oktoberrevolution zu sehen gelernt hat?
Wird Kritik jedoch nicht pünktlich am Text der Theorie vollzogen, wird damit nur der eigene Standpunkt zementiert. Denn die Diskussion divergierender Paradigmata wird erschwert durch die mangelnde Identifizierung der zugrunde gelegten Texte oder Theorien. Popper bietet an Stelle dessen personalisierende Polemik und scheinpolitische Rhetorik auf, herausgerissene Zitate, die er zum Teil mit Argumenten aus den Naturwissenschaften zu widerlegen sucht. Welchen Schluss zieht er aber etwa aus der physikalischen Kritik [16]) Hegels für dessen politische Philosophie? Man gewinnt schier den untrüglichen Eindruck, dass Popper hier lediglich auf einen billigen Fang ausging. Jarvie u. Shearmur (1996a:445) sprechen daher auch angemessen und taktvoll von einem „extended interpretative commentary on Plato and on Marx, and more cursory discussion of Hegel”.
Die fallibilistische Methodologie tritt ihrer Zielsetzung nach für eine Proliferation von Theorien und Metatheorien ein, denn Kritik benötigt ein Material. Die Schöpfung neuer Hypothesen fragt dabei nicht zu aller erst nach Wahrheit, denn die alten Wahrheiten sind die Feinde alles Neuen.[17])
Popper wie Albert halten anscheinend zumindest im Falle Hegel Kühnheit der Spekulation für einen vernichtenden Einwand. Kühnheit [18]) ist in erster Linie eine Frage von Temperament, Einfallsreichtum und Radikalität des Denkens, nicht nur bei einem empirischen Wissenschaftler, sondern auch bei einem Philosophen oder Logiker. Wir haben keinen Anlass, Kühnheit auf empirischen Gehalt zu beschränken. Kühnheit ist nicht zu verwechseln mit bodenlosem Wahnwitz. Aber auch Unsinn [19]) ergibt sich im philosophischen Diskurs oft lediglich daraus, dass die zugrunde liegende Problemstellung der betreffenden Aussagen und somit das Thema der Erörterung nicht genügend deutlich gemacht werden. Vernünftigen macht auch Unsinn Sinn.
Popper demonstrierte in dieser Hinsicht nur eine seiner Person eigentümliche Unfähigkeit, aus Geschichte zu lernen [20]). Denn es ist jedem klar, der etwas in der Geschichte der Sozialwisenschaften bewandert ist, dass ohne Kenntnis der Problemgeschichte des deutschen Idealismus (Kroner 1921a) weder ein tiefergehendes Textverständnis von Marx oder Weber noch überhaupt das der nachfolgenden deutschen Geistesgeschichte erschlossen werden kann.[21])
Wir sehen: Die Welt, insbesondere aber die Politik ist eine Sammlung von Reizthemen. Und mit einer Mixtur aus kognitiver Ambiguität und emotionaler Aufladbarkeit, wie wir sie gerade bei Hegel finden, ist er der geborene Watschenmann des Kritischen Rationalismus. Wer die Welt in Böcke und Schafe einteilt, dem gebricht es nie allzulang an einem Sündenbock.
„In Deutschland pflegt man unter dem Einfluss einer systematisch sterilen hermeneutischen Philosophie dieses Buch vor allem danach zu beurteilen, ob darin Hegel richtig verstanden wurde, eine Tatsache, die auf die Befürworter solcher Standards ein bezeichnendes Licht wirft.“ (Albert 1967a:27, Anm.54)
Will Albert damit etwa andeuten, dass im besonderen Falle Hegel Miss- oder Nichtverstehen eine angemessene Form der Kritik darstelle?! Das durchsichtige Ablenkungsmanöver trifft nur den einen Punkt: Poppers Werk sollte nicht nach seinem schwächsten Punkt, seiner Hegel-Kritik, beurteilt werden. Man kann Hegel missverstehen (1972c:334, Anm.156) und dennoch ein guter Mensch sein.[22]) Es liegt aber die Schuld nicht an Hegel, dass Popper ihn als Fluchtpunkt eines verfehlten Kritikversuches auserkoren hat. Ein anderes ist es, als ein selbst bestellter criticus etwas über die Philosophie Hegels sagen zu wollen und sich zugleich damit zu brüsten, sie nicht verstanden zu haben. Unsinn ist meist nur das Indiz für ein hermeneutisches bout-du-monde. Hierbei wird nicht die Kritik, sondern der Kritikaster zum Maß aller Dinge gemacht.
All diese negative Fixierung auf Hegel als eine permanente Entgleisungsstelle lässt doch gewissermaßen auf eine durch emotionale Übererregung erzeugte Denkblockade führender Vertreter des Kritischen Rationalismus schließen, welches Lernen aus Fehlern verhindert, weil dazu notwendige Interpretationsprozesse versperrt wurden. Letztlich schließen die Kritischen Rationalisten aber nicht ungestraft Hegel aus ihrer philosophischen Manege aus. Sie bezahlen es nicht nur damit, über all die Jahre recht naive Auffassungen über das Wesen dessen Philosophie unbeschadet in ihrem Busen zu hegen.[23]) So lange indes Kritische Rationalisten in einer Umwelt gedeihen, für welche diese Form von Unbelehrbarkeit keine schwerwiegenden negativen, sondern eher positiven Konsequenzen zeitigt, werden wir uns jedoch wohl noch recht lange daran erfreuen dürfen.
[1]) "Die mystifizierende Seite der hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band des 'Kapital' ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wieder brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als 'toten Hund'. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt - die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken." (MEW 23:27 ff.)
[2]) Kant ausgenommen, der bei Popper in der Rolle des "Ersten Kritischen Rationalisten" seit der Antike seinen großen Auftritt hat
[3]) „Nun glaube ich nicht, dass die Klassifikation eines Werkes als einer bestimmten Schule zugehörig schon seine Erledigung bedeutet; im Falle des hegelschen Historizismus scheint mir aber dieses Vorgehen erlaubt zu sein; die Gründe dafür werden im zweiten Band dieses Werkes diskutiert werden." (Popper 1980a:285)
[4]) de facto wurde die kritisch-rationale Funksperre von Popper (1984b:105) jedoch auch auf Marcuse und Habermas ausgedehnt: „Ich lasse mich nicht gern auf eine Kritik dieser Philosophen ein. Sie zu kritisieren hieße (wie einst mein Freund Karl Menger sagte), ihnen mit gezücktem Schwert in den Sumpf, in dem sie sowieso versinken, nachzuspringen, um mit ihnen zu versinken. (Hans Albert hat’s gewagt, und er ist bisher noch nicht versunken.) Statt sie zu kritisieren, versuche ich, durch die Diskussion von Problemlösungen neue, bessere Maßstäbe (neue ‘standards’) einzurichten." Die Sache ward dem Gebirgsländler Popper zu sumpfig. Doch: "Wenn früher ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen, verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf." (Neurath 1931a:118)
[5]) „Dabei schadet sich nur jeder selbst, der auf derlei Unwissenheit auch noch stolz ist." (Drucker 1999a:10)
[6]) „Lessing sagte zu seiner Zeit: die Leute gehen mit Spinoza wie mit einem toten Hunde um; man kann nicht sagen, dass in neuerer Zeit mit dem Spinozismus und dann überhaupt mit spekulativer Philosophie besser umgegangen werde, wenn man sieht, dass diejenigen, welche davon referieren und urteilen, sich nicht einmal bemühen, die Fakta richtig zu fassen und sie richtig anzugeben und zu erzählen. Es wäre dies das Minimum von Gerechtigkeit, und ein solches doch könnte sie auf allen Fall fordern." (Hegel, Enzyklopädie:17)
[7]) "Wäre Hegels Philosophie schon tot, so müsste man über die heftige Polemik erstaunen, mit welcher sie eben von denen bekämpft wird, die sie für verschollen erklären. Eine tote Sache pflegt doch nicht so lebendigen Widerspruch zu erfahren." (Rosenkranz 1977a:XXVIII)
[8]) "... die Zeit der Gärung, mit der eine neue Schöpfung beginnt, (scheint) vorbei zu sein. In ihrer ersten Erscheinung pflegt eine solche sich mit fanatischer Feindseligkeit gegen die ausgebreitete Systematisierung des früheren Prinzips zu verhalten, teils auch furchtsam zu sein, sich in der Ausdehnung des Besonderen zu verlieren, teils aber die Arbeit, die zur wissenschaftlichen Ausbildung erfordert wird, zu scheuen und im Bedürfnisse einer solchen zuerst zu einem leeren Formalismus zu greifen. Die Anforderung der Verarbeitung und Ausbildung des Stoffes wird nun um so dringender. Es ist eine Periode in der Bildung einer Zeit, wie in der Bildung des Individuums, wo es vornehmlich um Erwerbung und Behauptung des Prinzips in seiner unentwickelten Intensität zu tun ist. Aber die höhere Forderung geht darauf, dass es zur Wissenschaft werde." (Hegel: Wissenschaft der Logik:6)
[9]) „What has annoyed the Hegel devotees was not the criticism but the off-hand wholesale repudiation and dismissal. (...) Not that I myself endorse Popper’s outright dismissal." (Agassi 1993a: 194f)
[10]) "Phänomenologisch von Wichtigkeit ist, dass bei den letztgenannten Gelegenheiten, also dem Segnen, Verfluchen usw., der Wortgestaltung nach eigener Findung wesentlich größerer Spielraum gelassen scheint, als bei den Anlässen, wo ein Schaden verhindert oder behoben werden soll. Hier bedient man sich beinahe immer fester, erlernter Formeln. Beim Segnen und Fluchen mit ihren ungezwungenen Formulierungen kommt es jedoch, dem Ausübenden selber bewusst, auf die Tiefe des jeweiligen Affektes an. 'Es muss wirklich ernst gemeint sein', so lauteten die entsprechenden Erklärungen, 'sonst wirkt es nicht.'" (Zucker 1948a:26)
[11] ) Nicht verstehen wollen als untauglichen Ersatz für ein philosophisches Argument wird von Agassi (1993a:142) bei Wittgenstein kritisiert. Es ist unbedingt vom sokratischen Nichtwissen zu unterscheiden, wenn man seine Funktion im Diskurs beachtet. Nicht verstehen kann natürlich auch produktiv sein, wenn man sich durch derlei Manko provozieren lässt und es nicht als existentielles Schicksal erleidet; siehe dazu Boelderl (1997a). "Die List, die darin besteht, dass der Kluge die Gestalt der Dummheit annimmt, schlägt in Dummheit um, sobald er diese Gestalt aufgibt." (Horkheimer, Adorno 1998a:76)
[12]) "In der Meinung, ohne strikte Beschränkung auf Tatsachenfeststellung und Wahrscheinlichkeitsrechnung bliebe der erkennende Geist allzu empfänglich für Scharlatanerie und Aberglauben, präpariert es den verdorrenden Boden für die gierige Aufnahme von Scharlatanerie und Aberglauben. Wie Prohibition seit je dem giftigeren Produkt Eingang verschaffte, arbeitet die Absperrung der theoretischen Einbildungskraft dem politischen Wahne vor. Auch sofern die Menschen ihm noch nicht verfallen sind, werden sie durch die Zensurmechanismen, die äußeren wie die ihnen selbst eingepflanzten, der Mittel des Widerstands beraubt." (Horkheimer, Adorno 1998a:3)
[13]) Es muss nicht betont werden, für einem Fallibilisten ist hier das genaue Gegenteil angesagt: „While an organon of demonstration should be kept weak, an organon of criticism should be strong." (Popper 1973a:139f)
[14]) So sucht Rorty (1985a:169f) ein solches Verdikt mit ähnlicher Verdrossenheit zu begründen, wobei er hier auf Habermas (1981a) zielt: "The typical German story of the self-consciousness of the modern age (the one which runs from Hegel through Marx, Weber, and Nietzsche) focuses on figures who were preoccupied with the world we lost when we lost the religion of our ancestors. But this story may be both too pessimistic and too exclusively German. If so, then a story about the history of modern thought which took Kant and Hegel less seriously and, for example, the relatively untheoretical socialists more seriously, might lead us to a kind of 'end-of-philosophy' thinking which would escape Habermas' strictures on Deleuze and Foucault. For these French writers buy in on the usual German story, and thus tend to share Habermas's assumption that the story of the realignment, assimilation, and expansion of the three 'value-spheres' is essential to the story of the Selbstvergewisserung of modern society, and not just to that of the modern intellectuals." - Rorty übersieht indes, dass gerade die Sozialisten Kant und Hegel immer wieder studiert und weltanschaulich ausgewertet haben. Nur dadurch erhält auch Poppers Projekt, aus dem deutschen Idealismus den modernen Totalitarismus 'abzuleiten', einen Anflug von Plausibilität. Zu Recht getadelt wird hingegen die Tendenz, aus Welt-3-Prozessen wie dem Fortgang philosophischer Kritik direkt Prozesse gesellschaftlichen Wandels ablesen zu wollen oder gar zu schlussfolgern. Hier ist die Geschichte politischer Parteien oder der öffentlichen Meinung weitaus näher am Ball (Arendt 1986a; Bracher 1964a). Mit Sicherheit sind Hitler und Stalin für den Normalsterblichen wichtiger denn jeglicher Philosoph. Deswegen ist Philosophie jedoch keine politisch oder sozial irrelevante Größe. Eine soziologische Gesellschaftsanalyse ist ihrem Gegenstand natürlich näher. Aber jede Soziologie setzt Philosophie voraus; das ist die These, die vertreten werden soll. Diese Einsicht war Marx mitnichten und ist auch wohl Habermas keineswegs fremd. Neoplatoniker wie Hegel und Popper hatten da schon eher ihre Schwierigkeiten, diese Binsenwahrheit methodisch zu realisieren. So sucht paradoxerweise Popper Hegel politisch zu erledigen, indem er Weltgeschichte im hegelschen Duktus schreibt; d.h. er sucht Hegels Geschichtsphilosophie zu widerlegen, indem er deren Methode (zugegebenermaßen mehr rhapsodistisch und minder systematisch) selbst anwendet.
[15]) “Indeed, it is difficult to appreciate the state of Marxist theory before Lenin because inevitably we read it, whether positively or negatively, through the prism of Lenin’s theories." (Burawoy 1990a:784) „Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus - der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat - nie zustande gekommen.“ (Lenin 1962a:57) Tatsächlich hält Popper (1979a:55) den Marxismus durch die Russische Revolution emprisch widerlegt; demzufolge hält er ihn für seit-1918-dogmatisch. Wenn Soziologie und Geschichtswissenschaft so leicht wären! Er weist nicht nach, dass Marxismus-vor-1918 und Marxismus-nach-1918 in dieser Hinsicht als identisch angesehen werden kann (ganz abgesehen von der "Feinheit", dass Marxismus ein Programm ist, und immer nur einzelne Theorien aus einem Programm empirisch widerlegt werden können). „... Marx hielt es zwar für möglich, dass ein Land wie Russland den Anstoß zu einem Prozess der revolutionären Veränderung geben könnte, erwartete aber dennoch, dass sich dieser Prozess auf die reiferen kapitalistischen Gesellschaften konzentrieren würde." (Giddens 1979a:281f) Insofern wurde Marxens Erwartung nicht durch die Oktoberrevolution, sondern bereits durch das Scheitern der westeuropäischen Revolutionen widerlegt; wie auch schon Kautsky (1972a) darauf verweist, dass Marx und Engels von einer Ausweitung der bürgerlichen Revolutionen binnen 3 bis 20 Jahren zu einer proletarischen ausgegangen sind. Wie Kautsky vermerkte, hat Bismarck diese Tendenz politisch ähnlich eingeschätzt, da er sich sonst die Sozialistengesetze gespart hätte. Man muss insofern unterscheiden zwischen den konkreten Einschätzungen eines Politikers, welche eine grobe Datierung vornehmen können, und Ableitungen aus einem theoretischen Modell, die nur über Tendenzen zu sprechen erlauben. Jedoch: Es geht hier nicht um Marxens seherische Fähigkeiten, Visionskraft oder Erfolgsquote im Tendenzen Erraten, sondern um die Falsifikation von soziologischer Theorie, und dazu muss man diese erst einmal haben, d.h.: in angemessen Genauigkeit formuliert haben!
[16]) zum Verhältnis Hegels zu den Naturwissenschaften siehe Neuser (1990a) und Wahsner (1996).
[17]) „the proposal that at times it is advisable to pursue ideas and postpone the worry about their value." (Agassi 1993a:229) Die Methode des brain-storming ist eine methodische Anwendung derselben Idee.
[18]) „A theory is the bolder the greater its content." (Popper 1973a:53) Ein "Scharlatan" ist jemand, der gegen die hergebrachten Regeln der Zunft verstößt. Ist ein solcher Vorwurf ein geeignetes Argument für Fallibilisten, die vorgeblich Erkenntnisfortschritt durch Nonkonformismus auf ihre Fahne geschrieben haben?! Wieder ein Indiz, dass Kritische Rationalisten stets die ersten sind, die ihre eigenen Slogans nicht ernstnehmen.
[19]) Popper hält an dem Volksglauben fest, dass die Beschäftigung mit Verrückten selbst verrückt mache (wie man es bei Irrenärzten annimmt). Feyerabend (1976a:370) indes sucht nachzuweisen, Wahnsinn sei oft die Vorstufe zu einer neuen Form von Vernunft: „Aus Wahnsinn wird Vernunft, vorausgesetzt, der Wahnsinn ist genügend reich und regelmäßig, um als Grundlage einer neuen Weltauffassung dienen zu können." Auch Poppers „Open Society" besteht in diesem Sinne aus einem solchen Wahnsinn, aus hergebrachten Begriffen und Denkmustern eine neue Weltanschauung zu fabrizieren. Die Ideologie der Entideologisierung (Topitsch 1966a:25), extrapoliert eine keimfreie Wissenschaftlichkeit und reinkarniert somit Augustins Idee der purificatio animae. Das Schlagwort vom "Ende der Ideologien" stellt nur einen sehr naiven Fehlschluss von bekannten auf unbekannte Arten von Ideologie dar. Verkannt wird dabei, dass in der Lebenspraxis logische Utopien nur höchst selten unvermischte Wirklichkeit werden. Der Kampf gegen ideologisch beeinträchtigtes Denken ist kein apartes Gebiet von Hygiene und Prophylaxis, sondern nicht zu trennen und identisch mit der Auseinandersetzung um diejenige Theorie, die der Wahrheit jeweils besser entspricht.
[20]) „The Santayana dictum that those who fail to remember history are destined to repeat it should hold with special force in the domain of science ..." (Merton 1973a:557)
[21]) „Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und Hegel, das sind die beiden Hauptwurzeln der deutschen Soziologie; was an älteren sozialwissenschaftlichen Bemühungen in den Staatswissenschaften, der Kameralistik, der Naturrechtslehre usw. auf sie eingewirkt hat, ist durch diese beiden Filter erst hindurchgegangen." (Schelsky 1967a:12)
[22]) Si Popperum discis, satis est, si caetera nescis.
[23]) „Ein anderer solcher nun wird euch nicht sehr leicht wieder werden, ihr Männer.“ (Platon, Des Sokrates Verteidigung:22)
1 Kommentar:
Bis zum heutigen Tag wird gerne von Poppers vernichtender Hegel-Kritik gesprochen.
Dabei wird übersehen: Eine wüste Beschimpfung oder Verleumdung ist nicht dasselbe wie eine vernichtende Kritik.
1. Eine definitive Widerlegung ist laut Fallibilismus unmöglich zu liefern.
2. Eine Kritik setzt voruas, dass man die zu kritisierenden Texte zur Kenntnis genommen hat.
Nun kann man insbesondere nicht einen Autor vernichtend kritisisieren, den man a) nicht versteht, b) der angeblich lügt, d.h. mit Absicht nicht das sagt, was er sagen will.
Popper hätte sich also besser auf die Kritik der Autoren beschränkt, die sich ihm gegenüber verständlicher ausdrücken. Und betreffs Hegel gesagt, dass er diesen Autor nicht leiden kann.
Zur Verfahrensweise Poppers gegenüber Hegel siehe:
Walter Kaufmann, Hegel, Legende und Wirklichkeit, http://hegel-system.de/popper/W.Kaufmann-Hegel_%20Legend_und_Wirklichkeit.pdf
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