Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Die Muße und die Musen

So werden aber gerade Platon und Aristoteles von Popper (1992b:6,9) in besserwisserischer und zu­gleich anachronistischer Weise politisch moralisierend abgehalftert. Aristoteles z.B. sei kein be­sonders origineller Denker, er sei „nur“ Erfinder der Logik gewesen. Es wird ihm gar die Mentalität eines Fürstenknechts unterstellt, weil er sich für den Vorrang der zweck­freien Wissenschaft vor den zweckbestimmten Künsten ausgesprochen habe und für den Vor­zug der Musse [1]). In dieser Frage pflichtet Aristoteles aber bis heute noch jeder Ordi­na­rius nur zu bereitwillig bei (Hübner 1976a; Ransom 1991a). Nur verfügte Aristoteles darüber hin­aus noch über ei­ne philosophische Begründung [2]). Man kann wohl in der zweckfreien Bil­dung den Ausdruck eines ständischen Prestigebedürfnisses erblicken (Stammer 1965a:282). Wel­cher Vor­wurf lässt sich aber dar­aus gegen den Einzelnen[3]) daraus ableiten? Gerade unter dem Ge­sichts­punkt der eigenen Berufsethik hat Weber [4]) die Frage: Wissenschaft - Beruf oder Hob­by [5])? in ho­hem Maße beschäftigt. Poppers Angriff auf die Musse entspricht dem in der Wol­le ge­färbt positivisti­schen Vorurteil, etwa eines Comte (Negt 1964a:12), positives Wissen sei immer und überall mit dem nützlichen zu identifizieren.

„Während im alten Griechenland Arbeit als Makel galt, ja zum Ausschluss aus der Ge­sell­schaft der Bürger beitrug, gilt in der modernen Gesellschaft genau das Gegenteil.“ (Beck 1999a:468)

Er übersah jedoch, dass die aristotelische Lehre vom bios theoretikos, also von der wissen­schaft­lichen Betrachtung als Lebensziel, voll in Gegensatz steht zum Holismus der organi­schen Konzep­tion des Staates (Gigon 1970a:19). Also gerade diese Lehre bezeugt bei Aristoteles ei­nen ebenfalls vorhande­nen individualistischen Blickwinkel: „dass es nicht gut ist, den Staat allzu sehr vereinheitlichen zu wol­len“ (Ari­sto­teles 1970a:93) - den aber Popper hier nicht er­wartet hat­te oder der ihm einfach nicht ins Strickmuster passen will.

Wenn Aristoteles vom gesunden Mittelmaß sprach, so muss man das Normale nicht mit dem Durch­schnitt­lichen verwechseln (Löwith 1958a:251). Aus dem Blickwinkel der Biologie ist das Gleichge­wicht eines Systems das „natürliche“, was selbst der neoklassischen Ökonomie noch in den Knochen steckt. Wenn Popper gegen das Mittelmäßige, Lauwarme polemisiert, über­sieht er, dass er selbst ge­sell­schaftspolitisch mit seinem piece-meal engimneering genau diese Leer­formel zum Prinzip erkoren hat.

Wenn Popper aber Schlüsse zieht aus Themen, die Aristoteles angeblich ausgelassen habe, so ver­kennt er damit völlig die hi­storisch überlieferte Textsituation: Was uns bekannt ist, stellt nur ein bruch­stückhaftes Sam­mel­surium der originalen aristotelischen Bücher dar (Gigon 1970a), wie mir scheint zu wenig, um ein vorschnelles Gesamturteil über den historischen Autor zu fäl­len. So ist die Po­lemik ge­gen aristotelische Maß und Mitte bei Popper umso erstaunlicher, als die Antithese im Ver­fech­ten von politischem Radikalismus bestünde. Das eigentliche Problem einer jeden Kritik von Klas­si­kern ist, das von denselben erreichte Niveau zu überbieten oder zu­mindest zu hal­ten - nicht aber mit der billigen Allerweltsklugkeit des Nachgeborenen zu beckmessern.

Auf Poppers Polemisieren ist dasselbe Argument anwendbar, womit Marx Demokrit gegen die „Leichenfledderei“ [6]) verteidigte, die diesem durch einen akademischen Zeitgenossen Mar­xens, ei­nem Hi­sto­riker namens Ritter, widerfahren war. Für Jarvie u. Shearmur (1996a:445) je­doch beweist Popper hier­in nur eine „robustly democratic vision of great men“. Ich meinerseits kann keine Verbin­dung sehen zwi­schen demokratischer Einstellung und einer solch plebe­jischen Po­le­mik. Sie ist klein­li­che Herumkrit­te­lei an Per­so­nen - übrigens der ähnlichen Art, wie sie Pop­per bei Ari­sto­teles im Hinblick auf Plato so ab­stieß.

Bei der Kritik eines Arguments interessiert die Person des Autors nur in der logischen Rolle des Sub­jekts, das argumentiert, d.h. von der Spitze seiner Prämissen die Armee der Konse­quen­zen be­fehligt.



[1]) "Aktivismus macht immer nur Stress. Und Passivität zieht immer nur runter. Deshalb er­fand Laotse ein po­si­ti­ves Wort für Nichtstun, das sogenannte Nicht-Tun, und das heißt bei ihm Wu Wei. (...) Wu Wei um­schwebt prä­pie­tistisch die Lilien auf dem Felde der Bergpredigt. Die Scho­la­stik nannte Wu Wei 'Vita Passiva'. Die Barockzeit nann­te Wu Wei 'Wonnepfuhl'. Angel­sach­sen nann­ten Wu Wei 'non-violent resistance'. Latein­leh­rer sprachen vom Wuweianer als von 'Cunc­tator', dem Zauderer. Obwohl große Geister auf Seiten des Wu Wei fochten - 'Der Han­delnde ist immer gewissenlos' (Goethe), 'Je aktiver man ist, desto weniger hat man nach­gedacht' (Do­sto­jews­ki), 'Staatsmann ist, wer die Dinge undifferenziert genug sieht, um zu handeln' (Paul Valéry) -, geriet wu-wei-ge­färb­ter Passivismus im aufkommenden Industrialismus in Misskredit. (...) Wu Wei gilt als einzige Panazee gegen Hek­tik, Hypermotorik, Überarbeitung. Und vice versa: Ohne Wu Wei nur Eja­ku­lation präcox, Negativismus, Que­rulantismus, Quotenfetischismus. Keine Weisheit ohne eine sanf­te Por­tion Wu Wei. Ohne Wu Wei kein Kom­menlassen, kein 'Abwarten und Tee trinken.'" (Ulrich Hol­bein, Der Passivismus. Siesta im Land der Vulkane, FAZ 23.02.2000)

[2]) „Für Aristoteles (wie für Platon) stellt sich die Welt als vorgegebener, hierarchisch abge­stuf­ter Kosmos dar, mit einem obersten Prinzip an der Spitze (erster unbewegter Beweger bei Aristo­te­les, Idee des Guten bei Platon). Der Mensch soll mit sei­ner göttlichen Vernunft (Nûs) in der Schau des Höchsten (theoría) das Gött­li­che erfassen, da­mit sich selbst und den Kos­mos. Darin be­steht seine Eudämonie (vgl. Met. 1 u. 2 und EN X 7). Die zweck­freie Wissenschaft ist nicht durch ihr sub­jek­tives Motiv frei, sondern durch ihren objektiven Ge­gen­stands­bezug: das Höchste ist von kei­nem an­deren abhängig." (Martens 1974a:118)

[3]) "jene Einsamen, die von ihrem Volke aufgeopfert und aus der Welt ausgeschieden wurden, zu dem Zwecke, dass die Kontemplation des Ewigen und ein ihr allein dienendes Leben vorhan­den sei - nicht um eines Nutzens, sondern um des Segens willen -, verschwanden" (Hegel: Wissen­schaft der Logik, S. 4)

[4]) "Ein eigentlicher Gelehrter (...) bin ich nun einmal nicht: Wissenschaftliche Tätigkeit ist für mich zu fest mit dem Be­griff einer Ausfüllung der Mussestunden verknüpft, so sehr ich einsehe, dass die Teilung der Ar­beit es mit sich bringt, dass man sie erfolgreich nur bei der Hingabe der gan­zen Persönlichkeit betreiben kann." Max Weber an Emmy Baumgarten, 18.02.1892, in: Baum­gar­ten 1964a:79)

[5]) hobby: "weil die Freiheit, das ihm Überflüssige zu tun, ihm die Verfügungsgewalt über jene be­stätigt, die solche Arbeit verrichten müssen, wenn sie leben wollen." (Horkheimer, Adorno 1998a:82)

[6]) „Es ist nichts leichter, als den Genuss seiner moralischen Vortrefflichkeit sich an jedem Stof­fe zu geben; am leichtesten an den Toten. (...) Warum soll gerade die Gesinnung der Ansicht und nicht viel mehr umge­kehrt die be­stimmte Weise der Ansicht und Einsicht seiner Gesinnung zugrunde gelegen haben? Das letztere Prinzip ist nicht nur historischer, sondern auch das einzige, wodurch die Betrachtung der Gesinnung eines Phi­losophen Platz in der Geschichte der Philo­so­phie nehmen darf." (EG:231) - "It's always fun to scoff at the beliefs oft the ancients. But now, thanks to the Internet, we can scoff at our own beliefs of just a year ago." Fortune, 19.3.2001, p. 20.

2 Kommentare:

meffo hat gesagt…

"Bis zu Aristoteles wird das griechische Denken von religiöser und patriotischer Hingabe an die Stadt beherrscht; die ethischen Systeme sind auf die Lebensweise von Bürgern zugeschnitten und haben einen stark politischen Einschlag."
Bruch durch Stoa und Christentum: individualistische Ethik, unpolitisch (S. 13)

Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, München Wien 8. Auflage 1999 (A History of Western Philosophy, London 1945)

Die Einstellung zur polis hat gerade Hegel fasziniert.

Dass Aristoteles diesen politischen Umbruch durch Aleander nicht philosophisch reflektiert, ist ein Beweis für Hegels These, dass die Philosophen gemeinhin hinterher hinken, also dem Zeitgeist hinterher reflektieren.

Wenn man die Entwicklung der Kommunikationstechnik bedenkt: Wie lange braucht es nicht, dass ein philosophisches Werk rezipiert ist (scghon gar, wenn es eine neue Sichtweise enthält, oder sich in einer neuen Sprache ausdrückt?

meffo hat gesagt…

"Wie man ohne Gewissheit und doch auch ohne durch Unschlüssigkeit gelähmt zu werden, leben kann, das zu lehren ist vielleicht das Wichtigste, was die Philosophie heutzutage noch für diejenigen tun kann, die sich mit ihr beschäftigen." (S. 12)

Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, München Wien 8. Auflage 1999 (A History of Western Philosophy, London 1945)

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