Poppers tiefschürfend [1]) angesetzte „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ stellt eine unverhohlene Schmähschrift gegen Platon und Aristoteles, Hegel und Marx dar.
„Dem Historizismus stehe ich in offener Feindschaft gegenüber; diese Feindschaft beruht auf der Überzeugung, dass er nicht nur unzulänglich, sondern geradezu schädlich ist. (...) Ich sehe meine Aufgabe vielmehr darin, jene Elemente seiner Philosophie zu zerstören, die meiner Ansicht nach Unheil anrichten. Die totalitäre Tendenz in Platons politischer Philosophie ist es, die ich zu analysieren und zu kritisieren versuchen werde.“ (Popper 1980a:42)
Besagte Philosophen werden von Popper alle der Reihe nach der geistigen Urheberschaft all jener aktuellen zeitgeschichtlichen Erscheinungen bezichtigt, welche man unter „Totalitarismus“ [2]) zu fassen gewöhnt wurde. Darin manifestiert sich eine fast kindliche, besser: magische Einstellung Poppers im Hinblick auf die sozialen Konsequenzen von Theorien aufgrund ihrer scheinbar politisch-moralischen Eigenschaften. Wie ein Kind dem Gegenstand, worüber es versehentlich gestolpert ist, für „böse“ hält und dementsprechend moralisch verwerfliche Absichten unterstellt, so projiziert Popper den locus of causation in die jeweiligen Urheber bestimmter philosophischer Systeme. Die wahrgenommene Kausalität ist weder in dem einen wie dem anderen Fall rationell nachgewiesen, weil Popper weder einen historisch-kausalen Zusammenhang empirisch aufzuzeigen unternimmt noch überhaupt über einen ausgearbeiteten Begriff oder eine bewährte Theorie von „Totalitarismus“ verfügt. Nun wollen wir Popper mitnichten anlasten, was politische Soziologie bislang nicht oder nur unzureichend geleistet hat (Kershav, Lewin 1997a) - es frappiert nur, dass hier bei diesem Thema unser Methodologe empirischer Wissenschaft par excellence eine diesbezügliche empirisch bewährte Theorie nicht nur nicht erörtert, sondern nicht einmal vermisst hat. Erreicht Popper damit nicht vielleicht eher das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt, nämlich den "Nachweis", dass Totalitarismus und sog. "abendländische Kultur" nicht zu trennen sind?!
[1]) „Nothing remotely as original or searching on the intellectual origins of totalitarianism had been published at the time.” (Jarvie, Shearmur 1996a)
[2]) „Ursprünglich allein auf den Nationalsozialismus bezogen (vgl. Ernst Fraenkel, The Dual State, New York / London / Toronto, 1941; Franz L. Neumann, Behemoth, London 1941; Sigmund Neumann, Permanent Revolution, New York/London 1942), aus dessen eigener und der ihn vorbereitender Begriffswelt er stammt (‘totaler Staat’ bei Forsthoff, Carl Schmitt, Ernst Jünger), wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf die kommunistischen Herrschaftssysteme angewandt und zu Totalitarismus-Theorien systematisiert, die sich - unter Verzicht auf die Analyse der je spezifischen sozialen, politischen und ideologischen Entstehungs- und Entfaltungsbedingungen der verschiedenen ‘totalitären’ Systeme - als idealtypische Modelle anbieten. Den verschiedenen Ansätzen zur Bildung von Totalitarismus-Theorien liegen fast durchwegs drei Prämissen zugrunde: 1. handele es sich um völlig neuartige, erst im 20. Jahrhundert auftretende Herrschaftsstrukturen. Dies wird begründet mit a) spezifisch modernen Herrschaftstechniken, die das technische Zeitalter bereitstellt, b) mit der spezifischen Situation des Individuums im modernen ‘Massenzeitalter’, die die totale Manipulierbarkeit des Menschen ermögliche; 2. stelle ein ‘totalitäres’ System einen Endzustand gesellschaftlicher Entwicklung dar, der, dank der perfekten Herrschaftstechniken, von innen heraus nicht mehr aufzubrechen sei; 3. seien die ‘totalitären’ Systeme in ihren wesentlichen Grundstrukturen identisch; mit dieser Prämisse legitimiert sich das idealtypisierende Verfahren. Die als typusstiftenden Merkmale des ‘Totalitarismus’ angesehenen Momente wechseln jedoch fast von Autor zu Autor. Sah Hannah Arendt noch - unterm unmittelbaren Eindruck einer frappierenden Gleichartigkeit nationalsozialistischer und stalinistischer Gewaltmethoden - im Terror das ‘wahre Wesen totaler Herrschaft’ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, - 1951-, Frankfurt/Main 1958, S. 512), so steht in dem 6-Punkte-Katalog von Merkmalen, den Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzesinski (Totalitäre Diktatur, - 1956-, Stuttgart 1957, S. 19) aufgestellt haben, bereits die ‘Ideologie’ an erster Stelle, woraus deutlich wird, dass mit dem Begriff immer mehr das Sowjetsystem bezeichnet werden soll. Martin Drath erklärt dann den Terror ausdrücklich zum ‘Sekundärphänomen’ des ‘Totalitären’, während die ‘primär intendierte Durchsetzung (eines) neuen Wertungs- und Ordnungssystems’, die ‘Ideologie’ also, zum ‘Primärphänomen’ erhoben wird (Totalitarismus in der Volksdemokratie, Einleitung zu Ernst Richert, Macht ohne Mandat, Köln Opladen 1958, S. xxvi). Auch Richard Löwenthal geht davon aus, es sei das Wesen totalitärer Regime, ‘die Gesellschaft ... im Sinne ihrer Ideologie zu transformieren’ (Totalitäre und demokratische Revolution, in: Der Monat, 13. Jhg./1960, Heft 146, S. 30). Angesichts der liberalisierenden Wandlungen im Sowjetsystem seit dem Ende der stalinistischen Periode hat sich diese Konzeption von ‘Totalitarismus’ weithin durchgesetzt; von ihr ist auch der behauptete Zusammenhang von ‘Totalitarismus’ und Utopie eher einsichtig zu machen. Neuerdings mehren sich jedoch die Stimmen, die auf die prinzipielle Problematik von Begriff und Theorie des ‘Totalitären’ aufmerksam machen (vgl. etwa Hans-Joachim Lieber, Totalitarismus, in: Philosophie, Soziologie, Gesellschaft, Berlin 1965). Dies hängt zweifellos mit dem politisch-strategischen Wertverlust der Totalitarismus-Formel für die westliche Welt im Zeichen der ‘friedlichen Koexistenz’ zusammen (zum politisch-strategischen Wert der Totalitarismus-Theorien vgl. Bernhard Blanke, Rot gleich Braun, in: Das Argument, 7. Jhg., Heft 33, S. 27ff.)." (Neusüss 1986b:37ff)
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