Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Poppers Beitrag zur „Totalitarismus­forschung"

... warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“ (Horkheimer, Adorno 1998a:1)

Poppers tiefschürfend [1]) angesetzte „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ stellt eine un­ver­hohlene Schmäh­schrift gegen Platon und Aristoteles, Hegel und Marx dar.

„Dem Historizismus stehe ich in offener Feindschaft gegenüber; diese Feind­schaft beruht auf der Über­zeu­gung, dass er nicht nur unzulänglich, sondern ge­radezu schädlich ist. (...) Ich sehe meine Aufgabe viel­mehr darin, jene Elemente seiner Philosophie zu zerstören, die meiner Ansicht nach Unheil an­rich­ten. Die totalitäre Tendenz in Platons politischer Philosophie ist es, die ich zu analy­sie­ren und zu kri­ti­sie­ren versuchen werde.“ (Popper 1980a:42)

Besagte Philosophen werden von Popper alle der Reihe nach der geistigen Urheberschaft all je­ner aktuellen zeitgeschichtlichen Erscheinungen bezichtigt, welche man unter „Totalita­ris­mus“ [2]) zu fas­sen gewöhnt wurde. Darin manifestiert sich eine fast kindliche, besser: ma­gi­sche Ein­stellung Poppers im Hinblick auf die sozialen Konsequenzen von Theorien aufgrund ih­rer schein­bar politisch-moralischen Eigenschaften. Wie ein Kind dem Gegenstand, worüber es ver­sehent­lich gestolpert ist, für „böse“ hält und dementsprechend moralisch verwerfliche Ab­sich­ten unterstellt, so projiziert Popper den locus of causation in die jeweiligen Urheber be­stimm­ter philosophischer Systeme. Die wahrgenommene Kausalität ist weder in dem einen wie dem anderen Fall rationell nachgewiesen, weil Popper weder einen historisch-kausalen Zu­sam­menhang empirisch aufzuzeigen unternimmt noch überhaupt über einen aus­ge­ar­bei­te­ten Begriff oder eine bewährte Theorie von „Totalitarismus“ verfügt. Nun wollen wir Popper mit­nichten an­lasten, was politische Soziologie bis­lang nicht oder nur unzu­rei­chend geleistet hat (Kershav, Le­win 1997a) - es frappiert nur, dass hier bei diesem Thema unser Metho­do­loge em­pirischer Wis­senschaft par excellence eine diesbezügliche empirisch bewährte The­o­rie nicht nur nicht er­ör­tert, sondern nicht einmal vermisst hat. Erreicht Popper damit nicht vielleicht eher das Gegen­teil von dem, was er beabsichtigt, nämlich den "Nachweis", dass Totalitarismus und sog. "abend­ländische Kultur" nicht zu tren­nen sind?!



[1]) „Nothing remotely as original or searching on the intellectual origins of totalita­rianism had been published at the time.” (Jarvie, Shearmur 1996a)

[2]) „Ursprünglich allein auf den Nationalsozialismus bezogen (vgl. Ernst Fraenkel, The Dual State, New York / London / To­ronto, 1941; Franz L. Neumann, Behemoth, London 1941; Sig­mund Neumann, Permanent Revolu­ti­on, New York/London 1942), aus dessen eigener und der ihn vorbereitender Be­griffswelt er stammt (‘totaler Staat’ bei Forsthoff, Carl Schmitt, Ernst Jün­ger), wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf die kommunistischen Herrschaftssysteme ange­wandt und zu To­ta­li­ta­ris­mus-Theorien systematisiert, die sich - unter Verzicht auf die Analyse der je spezifischen sozia­len, politischen und ide­olo­gi­schen Entstehungs- und Entfaltungsbe­din­gun­gen der verschiedenen ‘totalitären’ Systeme - als idealtypische Modelle an­bie­ten. Den verschiedenen An­sätzen zur Bildung von Totalitarismus-Theorien liegen fast durchwegs drei Prämissen zu­grun­de: 1. han­dele es sich um völ­lig neuartige, erst im 20. Jahrhundert auftretende Herrschaftsstrukturen. Dies wird begründet mit a) spe­zifisch mo­dernen Herrschaftstechniken, die das technische Zeitalter be­reit­stellt, b) mit der spezifischen Situation des In­di­vi­duums im modernen ‘Massenzeitalter’, die die to­tale Manipulier­bar­keit des Menschen ermögliche; 2. stelle ein ‘totalitäres’ Sy­stem einen Endzu­stand gesell­schaft­li­cher Entwicklung dar, der, dank der perfekten Herr­schafts­techniken, von innen heraus nicht mehr aufzu­brechen sei; 3. seien die ‘totalitären’ Systeme in ihren we­sent­lichen Grund­strukturen iden­tisch; mit dieser Prä­misse legitimiert sich das idealtypisierende Verfahren. Die als ty­pusstiftenden Merkmale des ‘Totalitaris­mus’ an­ge­se­he­nen Momente wechseln jedoch fast von Autor zu Au­tor. Sah Hannah Arendt noch - unterm unmittelbaren Eindruck einer frap­pierenden Gleich­ar­tigkeit na­ti­o­nal­sozi­ali­sti­scher und stalinistischer Gewaltmethoden - im Terror das ‘wahre Wesen to­ta­ler Herrschaft’ (Elemente und Ursprünge totaler Herr­schaft, - 1951-, Frankfurt/Main 1958, S. 512), so steht in dem 6-Punk­te-Ka­talog von Merk­malen, den Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzesinski (Totalitäre Diktatur, - 1956-, Stuttgart 1957, S. 19) auf­gestellt haben, bereits die ‘Ideologie’ an erster Stelle, woraus deutlich wird, dass mit dem Begriff immer mehr das Sow­jet­sy­stem bezeichnet wer­den soll. Martin Drath er­klärt dann den Terror ausdrücklich zum ‘Se­kun­där­phä­no­men’ des ‘To­ta­li­tä­ren’, während die ‘pri­mär intendierte Durchsetzung (eines) neuen Wertungs- und Ord­nungs­sy­stems’, die ‘Ideo­lo­gie’ also, zum ‘Primär­phä­no­men’ erhoben wird (Totalitarismus in der Volksdemokratie, Ein­leitung zu Ernst Richert, Macht ohne Man­dat, Köln Opladen 1958, S. xxvi). Auch Richard Löwenthal geht da­von aus, es sei das We­sen to­tali­tä­rer Regime, ‘die Ge­sell­schaft ... im Sinne ihrer Ideologie zu transfor­mie­ren’ (To­talitäre und de­mo­kra­ti­sche Revolution, in: Der Monat, 13. Jhg./1960, Heft 146, S. 30). An­gesichts der li­be­ra­li­sierenden Wand­lun­gen im Sowjetsystem seit dem Ende der stalinistischen Peri­o­de hat sich diese Konzeption von ‘Totalitarismus’ weithin durchgesetzt; von ihr ist auch der be­haup­tete Zusammen­hang von ‘To­tali­ta­ris­mus’ und Utopie eher einsichtig zu machen. Neuerdings meh­ren sich jedoch die Stim­men, die auf die prinzipielle Pro­ble­matik von Begriff und Theorie des ‘To­talitären’ aufmerksam machen (vgl. etwa Hans-Joachim Lieber, To­ta­li­taris­mus, in: Philosophie, So­ziologie, Gesellschaft, Berlin 1965). Dies hängt zwei­fellos mit dem politisch-stra­tegischen Wert­verlust der To­tali­tarismus-Formel für die west­liche Welt im Zeichen der ‘friedlichen Koexistenz’ zu­sam­men (zum politisch-strate­gi­schen Wert der To­talitaris­mus-Theorien vgl. Bernhard Blanke, Rot gleich Braun, in: Das Argument, 7. Jhg., Heft 33, S. 27ff.)." (Neu­süss 1986b:37ff)

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