„Totalitarismus“ definiert eine Schublade, die sich mit der Zeit als ein Sammelkasten herausgestellt hat, der von Unsortiertem [1]) überquillt. Aktuell ist der von Popper zugrunde gelegte politische Begriff in der Bundesrepublik erneut in der Rede vom „antitotalitären Konsens“ (Sanio 1995a) in Umlauf gebracht worden. Das Deutschland der Kohl'schen Tendenzwende zeigt hierin eine beachtenswerte Kontinuität zur Zeit des "Glücksfalls für Deutschland", Konrad Adenauer.[2]) Da Popper sich in seinem 2-bändigen Werk jedoch keinerlei Mühe gab, uns seinen Begriff von „Totalitarismus“ zu geben, geschweige denn ihn näher zu analysieren, möchte ich hier, um nicht ganz im luftleeren Raum zu fechten, auf einen Vorschlag von Hoffmann zurückgreifen, der im Geiste Poppers gehalten zu sein scheint:
“Totalitarianism’ is a system of government or a social organization whereby those in authority attempt to control the basic forms of social life that arise directly from man’s personal nature and political activity and thereby to abolish freedom and to maintain total control over the individual’s personal, moral, and social life.” (Hoffmann 1972a)
Merton hatte sich seinerseits mit der Alternative: „liberal vs. Diktatur“ [3]) begnügt, die unprätentiös, dafür aber vielleicht umso brauchbarer ist:
„In a liberal society, integration derives primarily from the body of cultural norms toward which human activity is oriented. In a dictatorial structure, integration is effected primarily by formal organization and centralization of social control.” (Merton 1973a:265)
Aber, aller guten Dinge sind drei, machen wir’s wie Marx (RG:421) und schlagen (wie dieser seinerzeit „Hegel“) in Meyers Lexikon „Totalitarismus“ nach:
„[lat.], das Prinzip einer polit. Herrschaft, die einen uneingeschränkten, 'totalen' Verfügungsanspruch über die von ihr Beherrschten stellt. Der Begriff 'totalitär“'wurde von der Opposition des italien. Faschismus in den 1920er Jahren geprägt, von B. Mussolini und Giovanni Gentile (* 1875, + 1944; 'Grundlagen des Faschismus', 1929) übernommen. - Nach dem 2. Weltkrieg entbrannte eine wissenschaftl. Diskussion um die Theorie des T.; als Kennzeichen des totalitären Staates wurden angesehen: die Beseitigung des freiheitlich-demokrat. Verfassungssystems, bes. der Gewaltenteilung, der freien Parteibildung, der freien Wahlen, der Grundrechte und der richterl. Unabhängigkeit, die Zusammenfassung der gesamten Staatsgewalt in der Hand einer Machtgruppe (Partei, Bewegung), die geistige Manipulation und physische Unterdrückung der Bevölkerung durch eine diktatorische Ideologie, eine terrorist. Geheimpolizei und ein Waffen- und Kommunikationsmonopol der Einheitspartei, ferner die Zentralverwaltungswirtschaft. Im gegenseitigen Aufrechnen der Gräuel des Nat.-Soz. und Stalinismus entwickelte sich das Schlagwort T. zum polem. Kampfbegriff.“
Lieber (1996a:88) resümiert dreierlei Argumente gegen das Totalitarismus-Konzept:
1) gegen das zugrunde liegende idealtypische Verfahren;
2) gegen die damit verbundene statische Auffassung des Herrschaftssystems;
3) gegen die damit verbundene Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus sowjetischer Prägung.
In letzterem lag natürlich die Attraktivität dieses Kampfbegriffs. Erlaubt er doch unter normativem Gesichtspunkt gerade das einander gleichzusetzen, was nomologisch oder auch nur sachlich unterschieden werden müsste. Pragmatisch gesehen ist dies äquivalent jeglichem Schimpfwort: eine Äquivokation erfolgt, wobei nicht die sachlich begründete Identität, sondern die damit ausgedrückte normative Gleichwertigkeit die intendierte Pointe darstellt. Immerhin ist dieser Sprachzauber groß genug, dass während des Kalten Krieges sich ganze Forschungseinrichtungen darüber finanzieren konnten. Erlaubte dieser Begriff doch wundersamer Weise, dass die gesamte durch die Erfahrung mit dem Faschismus aufgewühlte Energie von der Bewältigung der eigenen Vergangenheit weg auf den aktuellen außenpolitischen Gegner umgelenkt und dabei gleichzeitig der wohlgefällige Schein eines innenpolitischen Konsenses hergestellt worden konnte [4]). Nach der Wende [5]) funktioniert die Gleichsetzung des NS- mit dem SED-Unrechtsstaat nicht mit gleicher Perfektion: Wurden zur Wiedergutmachung von NS-Verbrechen ungefähr 100 Milliarden DM gezahlt, so sind es für die Wiedergutmachung des SED-Unrechts gerade 1 Milliarde (Aufarbeitung u. Versöhnung, 1:82). Erst jetzt hat der Bundestag beschlossen, dass frühere politische Gefangene der DDR ebenso viel Haftentschädigung erhalten wie Opfer von Justizirrtümern in der Bundesrepublik (FAZ 27.11.1999). Dies erinnert in der Geschichte der Emanzipation des Judentums und des Antisemitismus daran, dass Preußen nicht nur zu wohl zu differenzieren wusste zwischen Juden als Staatsfinanziers und sogenannten „Pressejuden“, sondern auch zwischen Juden aus Ost- oder aus Westprovinzen (Arendt 1986a:72f).
[1]) „Like the indiscriminate use by the Communists of the term ‘bourgeois democracy’ in the thirties, or by Burnham of ‘managerial society’ in the forties, or the term ‘totalitarianism’ in the fifties, particular and crucial differences between societies are obscured." (Bell 1965a:74)
[2]) Wie schlimm muss es um Deutschland gestanden haben, wenn es dieses Politikers bedurfte! Zu Adenauer-Zeit und die Linke siehe Christian Semler, "Die Linke im Waschsalon", taz (www.taz.de) 24./25.2.2001, S. III (tazmag). Zu Willy Brandt: Warnfried Dettling, Der pragmatische Visionär, taz 13.3.2001, S.16. Schon Hegel war auf große Männer fixiert, die Geschichte machen. Wie lächerlich dieser Gedanke ist, hat Helmut Kohl gezeigt. Das ist seine Größe.
[3]) Auf diese "Grundfrage" ist Rolf Apel in der PDS-Zeitschrift "Disput" 1998/3 zurückgegangen: "Die Grundfrage: Demokratie oder Diktatur. KPD-Geschichte auf dem Prüfstand"
[4]) Zur Rolle der Medien in dieser Ära des sog. "Endes der Ideologien" als Weltanschauungsvermittler siehe z.B. Kruip (1999a).
[5]) "Letztlich lautete der Befund der Podiumsdiskussion: Bei Ostdeutschen habe sich weder der Begriff 'Revolution' noch 'Implosion' eingebürgert, sondern das schlichte Wort 'Wende'. Und dabei wollte man es dann auch belassen. Schade, dass sich keiner der Mühe historischer Vergleiche unterzog. Diese können recht aufschlussreich sein. So wird über die 'Glorreiche Revolution' in England von 1688 gesagt: Man schlief rechts ein und wachte links auf. In der DDR war es offenbar genau umgekehrt. Tja, die Leute hätten nicht einschlafen dürfen ..." Karlen Vesper, "Ein Plädoyer für Fairness. SPD-Stiftung: Ohne SED-Volk wäre die Wende '89 nicht möglich gewesen", Neues Deutschland, 2.3.1999
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