Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Totalitarismus

„Totalitarismus“ definiert eine Schublade, die sich mit der Zeit als ein Sammelkasten her­aus­ge­stellt hat, der von Unsortiertem [1]) überquillt. Ak­tuell ist der von Popper zugrunde gelegte po­litische Begriff in der Bundesrepublik erneut in der Rede vom „antitotalitären Konsens“ (Sa­nio 1995a) in Umlauf ge­bracht wor­den. Das Deutschland der Kohl'schen Tendenzwende zeigt hier­in eine beachtenswerte Kontinuität zur Zeit des "Glücksfalls für Deutschland", Konrad Ade­nauer.[2]) Da Popper sich in sei­nem 2-bändigen Werk jedoch keinerlei Mühe gab, uns sei­nen Be­griff von „Tota­litarismus“ zu geben, ge­schwei­ge denn ihn näher zu analysieren, möch­te ich hier, um nicht ganz im luftleeren Raum zu fech­ten, auf einen Vorschlag von Hoff­mann zu­rückgreifen, der im Geiste Poppers gehalten zu sein scheint:

Totalitarianism’ is a system of government or a social organization whereby tho­se in authority attempt to control the basic forms of social life that arise di­rectly from man’s personal nature and political ac­ti­vi­ty and thereby to abolish freedom and to maintain total control over the individual’s personal, moral, and social life.” (Hoffmann 1972a)

Merton hatte sich seinerseits mit der Alternative: „liberal vs. Diktatur“ [3]) be­gnügt, die un­prätentiös, dafür aber vielleicht umso brauchbarer ist:

„In a liberal society, integration derives primarily from the body of cultural norms toward which human ac­tivity is oriented. In a dictatorial structure, inte­gra­tion is effected primarily by formal organization and centralization of social con­trol.” (Merton 1973a:265)

Aber, aller guten Dinge sind drei, machen wir’s wie Marx (RG:421) und schlagen (wie dieser sei­ner­zeit „Hegel“) in Meyers Lexikon „Totalitarismus“ nach:

„[lat.], das Prinzip einer polit. Herrschaft, die einen uneingeschränkten, 'totalen' Verfügungs­an­spruch über die von ihr Beherrschten stellt. Der Begriff 'totalitär“'wurde von der Opposition des ita­li­en. Faschis­mus in den 1920er Jah­ren geprägt, von B. Mussolini und Giovanni Gentile (* 1875, + 1944; 'Grundlagen des Fa­schis­mus', 1929) über­nom­men. - Nach dem 2. Weltkrieg entbrannte ei­ne wissenschaftl. Diskussion um die Theorie des T.; als Kenn­zei­chen des totalitären Staates wur­den angesehen: die Beseitigung des freiheitlich-demokrat. Verfassungs­systems, bes. der Ge­wal­ten­tei­lung, der freien Parteibildung, der freien Wahlen, der Grundrechte und der richterl. Un­ab­hän­gig­keit, die Zusammenfassung der gesam­ten Staatsgewalt in der Hand einer Macht­gruppe (Partei, Be­we­gung), die gei­sti­ge Manipulation und physische Unterdrückung der Bevölkerung durch eine dik­ta­tori­sche Ideologie, eine terr­orist. Geheimpolizei und ein Waffen- und Kommunikationsmonopol der Einheitspartei, ferner die Zen­tral­ver­wal­tungs­wirt­schaft. Im gegenseitigen Aufrechnen der Gräuel des Nat.-Soz. und Stalinismus entwickelte sich das Schlag­wort T. zum polem. Kampfbe­griff.“

Lieber (1996a:88) resümiert dreierlei Argumente gegen das Totalitarismus-Konzept:

1) gegen das zugrunde liegende idealtypische Verfahren;
2) gegen die damit verbundene statische Auffassung des Herrschaftssystems;
3) gegen die damit verbundene Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kom­munis­mus sowjetischer Prägung.

In letzterem lag natürlich die Attraktivität dieses Kampfbegriffs. Erlaubt er doch unter nor­ma­ti­vem Ge­sichts­punkt gerade das einander gleichzusetzen, was nomologisch oder auch nur sach­lich un­ter­schieden wer­den müsste. Pragmatisch gesehen ist dies äquivalent jeglichem Schimpf­wort: eine Äquivokation erfolgt, wo­bei nicht die sachlich begründete Identität, sondern die da­mit ausge­drückte normative Gleichwertigkeit die intendierte Pointe darstellt. Immerhin ist die­ser Sprachzauber groß genug, dass während des Kalten Krie­ges sich ganze For­schungs­ein­rich­tun­gen darüber finanzieren konnten. Erlaubte dieser Begriff doch wun­dersamer Weise, dass die ge­samte durch die Erfahrung mit dem Faschismus aufgewühlte Energie von der Be­wäl­tigung der eigenen Vergangenheit weg auf den aktuellen außenpolitischen Gegner um­ge­lenkt und da­bei gleichzeitig der wohlgefällige Schein eines innenpolitischen Konsenses her­ge­stellt worden konn­te [4]). Nach der Wende [5]) funktioniert die Gleichsetzung des NS- mit dem SED-Un­rechts­staat nicht mit glei­cher Perfektion: Wurden zur Wie­der­gut­machung von NS-Ver­brechen un­ge­fähr 100 Milliarden DM gezahlt, so sind es für die Wiedergutmachung des SED-Unrechts ge­rade 1 Milliarde (Aufarbeitung u. Versöhnung, 1:82). Erst jetzt hat der Bun­des­tag beschlos­sen, dass frühere politische Gefangene der DDR ebenso viel Haftentschädigung er­halten wie Op­fer von Justizirrtümern in der Bundesre­publik (FAZ 27.11.1999). Dies erinnert in der Ge­schichte der Emanzipation des Judentums und des Antisemitismus daran, dass Preußen nicht nur zu wohl zu differenzieren wusste zwischen Ju­den als Staatsfinanziers und so­ge­nann­ten „Presse­ju­den“, sondern auch zwischen Juden aus Ost- oder aus Westprovinzen (Arendt 1986a:72f).



[1]) „Like the indiscriminate use by the Communists of the term ‘bourgeois democracy’ in the thir­ti­es, or by Burn­ham of ‘ma­nagerial society’ in the forties, or the term ‘totalitarianism’ in the fifties, parti­cular and crucial dif­fer­en­ces between so­cieties are obscured." (Bell 1965a:74)

[2]) Wie schlimm muss es um Deutschland gestanden haben, wenn es dieses Politikers bedurfte! Zu Adenauer-Zeit und die Linke siehe Christian Semler, "Die Linke im Waschsalon", taz (www.taz.de) 24./25.2.2001, S. III (tazmag). Zu Willy Brandt: Warnfried Dettling, Der pragmatische Visionär, taz 13.3.2001, S.16. Schon Hegel war auf große Männer fixiert, die Geschichte machen. Wie lächerlich dieser Gedanke ist, hat Helmut Kohl gezeigt. Das ist seine Größe.

[3]) Auf diese "Grundfrage" ist Rolf Apel in der PDS-Zeitschrift "Disput" 1998/3 zurückge­gan­gen: "Die Grundfrage: Demokratie oder Diktatur. KPD-Geschichte auf dem Prüfstand"

[4]) Zur Rolle der Medien in dieser Ära des sog. "Endes der Ideologien" als Weltanschauungs­ver­mitt­ler siehe z.B. Kruip (1999a).

[5]) "Letztlich lautete der Befund der Podiumsdiskussion: Bei Ostdeutschen habe sich weder der Begriff 'Revolu­ti­on' noch 'Implosion' eingebürgert, sondern das schlichte Wort 'Wende'. Und dabei woll­te man es dann auch be­las­sen. Schade, dass sich keiner der Mühe historischer Vergleiche un­ter­zog. Diese können recht aufschlussreich sein. So wird über die 'Glorreiche Revolution' in Eng­land von 1688 gesagt: Man schlief rechts ein und wachte links auf. In der DDR war es offenbar genau um­gekehrt. Tja, die Leute hätten nicht einschlafen dürfen ..." Karlen Vesper, "Ein Plädoyer für Fair­ness. SPD-Stiftung: Ohne SED-Volk wäre die Wende '89 nicht möglich ge­we­sen", Neues Deutschland, 2.3.1999

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