Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Denkgeschichte einer Gelegenheitsschrift

Der Totalitarismus wird indessen von Popper überhaupt nicht aus seinen zeitgenössischen so­zialen und politischen Ursachen und Prozessen [1]) erklärt, sondern es treibt ihn zurück in das Land, wo die Zitronen blühen, nach Griechenland [2]) zu den Griechen, zu Platon und Aristo­te­les [3]). So wird hier nicht das Un­be­kannte aus dem Bekannten erklärt, sondern gerade um­ge­kehrt. Zu rechtfertigen wäre dies am ehesten noch durch die hegelsche These, dass in den Ka­te­gorien der Vergangenheit der Keim der Zukunft ent­hal­ten sei: das Wesen der Geschichte ist das Gewesensein - aber von Hegels Thesen weiß sich Popper ja an­geblich Lichtjahre entfernt. Aber nach dem Rein­fall mit Hitler muss wohl nicht nur die gesamte deutsche und abend­län­di­sche Ge­schichte, sondern auch selbst noch die von Deut­schen importierte Lektüre nach allem hin durchsucht werden, wie so etwas wie Totalitarismus bei die­sem „Kulturvolk“ [4]) hat möglich wer­den können.

Selbst hierbei beweist Popper eine merkwürdige Einseitigkeit in der Auswahl sei­ner Kandida­ten für histo­ri­sche Schuldzuweisungen: Wie steht es mit dem Nationalismus und Macht­staats­den­ken Max Webers [5]) oder zum Beispiel dem Antisemitismus eines Jacob Burck­hardt [6]), des­sen Kon­terfei neuerdings die Schweizer 1000-Franken-Note ziert?! Ein un­be­fangener Hi­sto­riker oder empirischer Sozialwissenschaftler würde sinnvoller Weise nach den ur­säch­li­chen hi­sto­rischen Be­dingungen in der deutschen Gesellschaft for­schen, welche un­mittelbar dem Natio­nal­sozialismus vorangegangen sind:

„Reducing the time lag between cause and effect produces more detailed and fi­ne-grained explanations and de­crea­ses the possibility of spuriousness.” (Kiser, Hechter 1998a:790f)

Popper versucht sich jedoch offenbar erst gar nicht an einer historischen oder soziologischen Er­klärung. Viel­mehr hat er sich auf den Beruf der Philosophie geworfen, und so kommen wir nicht umhin zu prüfen, was Poppers „Kriegsbeitrag“ uns an philosophischem Ertrag gebracht hat. Wenn Popper sich am Schreib­tisch als Kriegsteilnehmer wähnte, so ist klar, dass der Nutz­ef­fekt, d.i. im Kriege die zersetzende Feind­wir­kung sowie die Hebung der Kampfmoral der ei­ge­nen Truppen, genau das ist, was hier zählt. Dies ist kon­se­quent das zu erwartende Re­sul­tat, wenn ein Philosoph sich unter Rechtfertigungszwang stellt, nur weil al­le Welt sich im Kriegs­zu­stand befindet. Wer richten will, ob Autoren wie Marx recht oder unrecht hat­ten, muss die Geschichte kennen. Die Tatsache, dass bei einer historischen Betrachtung der Stand­punkt der Interpretation wesentlich ist, Poppers Arbeit aber als eine Gelegenheitsarbeit auf­tritt, zwingt zum Schluss, dass die Gesichts­punkte der Gelegenheit auch die Kriterien der In­terpretation und die Linie der Argumentation stark beeinflusst, und das heißt wohl: beeinträchtigt ha­ben.



[1]) z.B. Machtergreifung und Gleichschaltung, (Mommsen 1992a).

[2]) Delgado-Moreira (1997a) nennt dies die ’from Plato to NATO’ definition of ‘Western Civi­li­za­tion’". - „O Grie­chen­land, mit deiner Genialität und Deiner Frömmigkeit, wo bist Du hinge­kom­men?" (Hölderlin 3:371) - Auch Popper (1994a:38) konnte sich am "griechischen Wunder" nicht satt se­hen; aber es ist für ihn ganz einfach zu erklären: clash of cultures. Viel­leicht liegt wirklich die Zu­kunft der NATO in der Orga­ni­sation kul­tu­rel­ler Austauschbeziehungen.

[3]) Die Frage, die Frage Popper umtreibt und 1945 anscheinend so nahe lag, nämlich ob Ari­sto­teles und Platon Na­zis waren oder ein antikes Politbüro geplant hatten, lässt sich auch differen­zier­ter behandeln: "Although Plato and Aristotle on their own way share the conviction that social con­trol and invidual freedom should go hand in hand, they both are obviously quite unfa­miliar with the modern idea of private initiative being re­quired for progress. According to them there are fixed and as­cer­tainable norms of human virtue, which, if ob­ser­ved, do ensure that men flourish, how­ever, if ignored, do leave them in mise­ry. For certain prudential reasons (although different in either case), Plato and Aristotle favour the notion of authority, over and as opposed to the in­divi­du­al, in elaborate hierarchical forms. If in general the author succeeds to posit clearly where Plato and Ari­sto­tle fall on the spectrum between authoritarianism and individualism, in detail he consi­ders the picture to be a mixed one, one which restrains from trying to be too exact." (Saunders 1999a:523)

[4]) Es gehört zu den für uns heute wohl erstaunlichen, im 19. Jahrhundert aber leider recht ge­wöhnlichen Ver­quickungen zwischen Demokratismus, Imperialismus und Rassenlehre, dass Las­sal­le (1919a:35) ernstlich Kri­terien dafür finden zu kön­nen glaubte, ob ein Volk Anspruch auf den Titel eines „Kulturvolks" oder überhaupt ei­ne nationale Existenzberechtigung be­anspruchen dürfe (heute spricht man von "Leitkultur"). Zum Thema siehe auch: Jens Schley: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrati­onsla­ger 1937-1945, Köln Weimar Wien 1999. Zu imperi­ali­stischen Ide­en an der LSE siehe Dahrendorf (1995a), bei Max Weber siehe Stammer (1965a).

[5]) "Treitschkes Lehre vom sittlichen Charakter des Staates, entsprungen einer nationalen Par­zellierung des he­gelschen Staatsdenkens, fand in Webers politischem Denken eher noch eine Stei­gerung." (Mommsen 1974a:52)

[6]) "Der Fall Burckhardt zeigt, wie kompliziert das Rezept der Ursuppe ist, in der die explosi­ven Ideologien des zwan­zigsten Jahrhunderts gezeugt wurden." (Roeck 1999a) Am Beispiel Nietz­sche – Hitler demonstriert Kaufmann (1958a:356) die Willkürlichkeit, womit politische Legenden­er­finder Kausalketten konstruieren: „As a corrective to the cliché that Stefan George was a link bet­ween Nietzsche and Hitler, one is tempted to say that George transmitted Nietzsche’s heritage to von Stauffenberg.”

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