Der Totalitarismus wird indessen von Popper überhaupt nicht aus seinen zeitgenössischen sozialen und politischen Ursachen und Prozessen [1]) erklärt, sondern es treibt ihn zurück in das Land, wo die Zitronen blühen, nach Griechenland [2]) zu den Griechen, zu Platon und Aristoteles [3]). So wird hier nicht das Unbekannte aus dem Bekannten erklärt, sondern gerade umgekehrt. Zu rechtfertigen wäre dies am ehesten noch durch die hegelsche These, dass in den Kategorien der Vergangenheit der Keim der Zukunft enthalten sei: das Wesen der Geschichte ist das Gewesensein - aber von Hegels Thesen weiß sich Popper ja angeblich Lichtjahre entfernt. Aber nach dem Reinfall mit Hitler muss wohl nicht nur die gesamte deutsche und abendländische Geschichte, sondern auch selbst noch die von Deutschen importierte Lektüre nach allem hin durchsucht werden, wie so etwas wie Totalitarismus bei diesem „Kulturvolk“ [4]) hat möglich werden können.
Selbst hierbei beweist Popper eine merkwürdige Einseitigkeit in der Auswahl seiner Kandidaten für historische Schuldzuweisungen: Wie steht es mit dem Nationalismus und Machtstaatsdenken Max Webers [5]) oder zum Beispiel dem Antisemitismus eines Jacob Burckhardt [6]), dessen Konterfei neuerdings die Schweizer 1000-Franken-Note ziert?! Ein unbefangener Historiker oder empirischer Sozialwissenschaftler würde sinnvoller Weise nach den ursächlichen historischen Bedingungen in der deutschen Gesellschaft forschen, welche unmittelbar dem Nationalsozialismus vorangegangen sind:
„Reducing the time lag between cause and effect produces more detailed and fine-grained explanations and decreases the possibility of spuriousness.” (Kiser, Hechter 1998a:790f)
Popper versucht sich jedoch offenbar erst gar nicht an einer historischen oder soziologischen Erklärung. Vielmehr hat er sich auf den Beruf der Philosophie geworfen, und so kommen wir nicht umhin zu prüfen, was Poppers „Kriegsbeitrag“ uns an philosophischem Ertrag gebracht hat. Wenn Popper sich am Schreibtisch als Kriegsteilnehmer wähnte, so ist klar, dass der Nutzeffekt, d.i. im Kriege die zersetzende Feindwirkung sowie die Hebung der Kampfmoral der eigenen Truppen, genau das ist, was hier zählt. Dies ist konsequent das zu erwartende Resultat, wenn ein Philosoph sich unter Rechtfertigungszwang stellt, nur weil alle Welt sich im Kriegszustand befindet. Wer richten will, ob Autoren wie Marx recht oder unrecht hatten, muss die Geschichte kennen. Die Tatsache, dass bei einer historischen Betrachtung der Standpunkt der Interpretation wesentlich ist, Poppers Arbeit aber als eine Gelegenheitsarbeit auftritt, zwingt zum Schluss, dass die Gesichtspunkte der Gelegenheit auch die Kriterien der Interpretation und die Linie der Argumentation stark beeinflusst, und das heißt wohl: beeinträchtigt haben.
[1]) z.B. Machtergreifung und Gleichschaltung, (Mommsen 1992a).
[2]) Delgado-Moreira (1997a) nennt dies die „ ’from Plato to NATO’ definition of ‘Western Civilization’". - „O Griechenland, mit deiner Genialität und Deiner Frömmigkeit, wo bist Du hingekommen?" (Hölderlin 3:371) - Auch Popper (1994a:38) konnte sich am "griechischen Wunder" nicht satt sehen; aber es ist für ihn ganz einfach zu erklären: clash of cultures. Vielleicht liegt wirklich die Zukunft der NATO in der Organisation kultureller Austauschbeziehungen.
[3]) Die Frage, die Frage Popper umtreibt und 1945 anscheinend so nahe lag, nämlich ob Aristoteles und Platon Nazis waren oder ein antikes Politbüro geplant hatten, lässt sich auch differenzierter behandeln: "Although Plato and Aristotle on their own way share the conviction that social control and invidual freedom should go hand in hand, they both are obviously quite unfamiliar with the modern idea of private initiative being required for progress. According to them there are fixed and ascertainable norms of human virtue, which, if observed, do ensure that men flourish, however, if ignored, do leave them in misery. For certain prudential reasons (although different in either case), Plato and Aristotle favour the notion of authority, over and as opposed to the individual, in elaborate hierarchical forms. If in general the author succeeds to posit clearly where Plato and Aristotle fall on the spectrum between authoritarianism and individualism, in detail he considers the picture to be a mixed one, one which restrains from trying to be too exact." (Saunders 1999a:523)
[4]) Es gehört zu den für uns heute wohl erstaunlichen, im 19. Jahrhundert aber leider recht gewöhnlichen Verquickungen zwischen Demokratismus, Imperialismus und Rassenlehre, dass Lassalle (1919a:35) ernstlich Kriterien dafür finden zu können glaubte, ob ein Volk Anspruch auf den Titel eines „Kulturvolks" oder überhaupt eine nationale Existenzberechtigung beanspruchen dürfe (heute spricht man von "Leitkultur"). Zum Thema siehe auch: Jens Schley: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Köln Weimar Wien 1999. Zu imperialistischen Ideen an der LSE siehe Dahrendorf (1995a), bei Max Weber siehe Stammer (1965a).
[5]) "Treitschkes Lehre vom sittlichen Charakter des Staates, entsprungen einer nationalen Parzellierung des hegelschen Staatsdenkens, fand in Webers politischem Denken eher noch eine Steigerung." (Mommsen 1974a:52)
[6]) "Der Fall Burckhardt zeigt, wie kompliziert das Rezept der Ursuppe ist, in der die explosiven Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts gezeugt wurden." (Roeck 1999a) Am Beispiel Nietzsche – Hitler demonstriert Kaufmann (1958a:356) die Willkürlichkeit, womit politische Legendenerfinder Kausalketten konstruieren: „As a corrective to the cliché that Stefan George was a link between Nietzsche and Hitler, one is tempted to say that George transmitted Nietzsche’s heritage to von Stauffenberg.”
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen