So werden aber gerade Platon und Aristoteles von Popper (1992b:6,9) in besserwisserischer und zugleich anachronistischer Weise politisch moralisierend abgehalftert. Aristoteles z.B. sei kein besonders origineller Denker, er sei „nur“ Erfinder der Logik gewesen. Es wird ihm gar die Mentalität eines Fürstenknechts unterstellt, weil er sich für den Vorrang der zweckfreien Wissenschaft vor den zweckbestimmten Künsten ausgesprochen habe und für den Vorzug der Musse [1]). In dieser Frage pflichtet Aristoteles aber bis heute noch jeder Ordinarius nur zu bereitwillig bei (Hübner 1976a; Ransom 1991a). Nur verfügte Aristoteles darüber hinaus noch über eine philosophische Begründung [2]). Man kann wohl in der zweckfreien Bildung den Ausdruck eines ständischen Prestigebedürfnisses erblicken (Stammer 1965a:282). Welcher Vorwurf lässt sich aber daraus gegen den Einzelnen[3]) daraus ableiten? Gerade unter dem Gesichtspunkt der eigenen Berufsethik hat Weber [4]) die Frage: Wissenschaft - Beruf oder Hobby [5])? in hohem Maße beschäftigt. Poppers Angriff auf die Musse entspricht dem in der Wolle gefärbt positivistischen Vorurteil, etwa eines Comte (Negt 1964a:12), positives Wissen sei immer und überall mit dem nützlichen zu identifizieren.
„Während im alten Griechenland Arbeit als Makel galt, ja zum Ausschluss aus der Gesellschaft der Bürger beitrug, gilt in der modernen Gesellschaft genau das Gegenteil.“ (Beck 1999a:468)
Er übersah jedoch, dass die aristotelische Lehre vom bios theoretikos, also von der wissenschaftlichen Betrachtung als Lebensziel, voll in Gegensatz steht zum Holismus der organischen Konzeption des Staates (Gigon 1970a:19). Also gerade diese Lehre bezeugt bei Aristoteles einen ebenfalls vorhandenen individualistischen Blickwinkel: „dass es nicht gut ist, den Staat allzu sehr vereinheitlichen zu wollen“ (Aristoteles 1970a:93) - den aber Popper hier nicht erwartet hatte oder der ihm einfach nicht ins Strickmuster passen will.
Wenn Aristoteles vom gesunden Mittelmaß sprach, so muss man das Normale nicht mit dem Durchschnittlichen verwechseln (Löwith 1958a:251). Aus dem Blickwinkel der Biologie ist das Gleichgewicht eines Systems das „natürliche“, was selbst der neoklassischen Ökonomie noch in den Knochen steckt. Wenn Popper gegen das Mittelmäßige, Lauwarme polemisiert, übersieht er, dass er selbst gesellschaftspolitisch mit seinem piece-meal engimneering genau diese Leerformel zum Prinzip erkoren hat.
Wenn Popper aber Schlüsse zieht aus Themen, die Aristoteles angeblich ausgelassen habe, so verkennt er damit völlig die historisch überlieferte Textsituation: Was uns bekannt ist, stellt nur ein bruchstückhaftes Sammelsurium der originalen aristotelischen Bücher dar (Gigon 1970a), wie mir scheint zu wenig, um ein vorschnelles Gesamturteil über den historischen Autor zu fällen. So ist die Polemik gegen aristotelische Maß und Mitte bei Popper umso erstaunlicher, als die Antithese im Verfechten von politischem Radikalismus bestünde. Das eigentliche Problem einer jeden Kritik von Klassikern ist, das von denselben erreichte Niveau zu überbieten oder zumindest zu halten - nicht aber mit der billigen Allerweltsklugkeit des Nachgeborenen zu beckmessern.
Auf Poppers Polemisieren ist dasselbe Argument anwendbar, womit Marx Demokrit gegen die „Leichenfledderei“ [6]) verteidigte, die diesem durch einen akademischen Zeitgenossen Marxens, einem Historiker namens Ritter, widerfahren war. Für Jarvie u. Shearmur (1996a:445) jedoch beweist Popper hierin nur eine „robustly democratic vision of great men“. Ich meinerseits kann keine Verbindung sehen zwischen demokratischer Einstellung und einer solch plebejischen Polemik. Sie ist kleinliche Herumkrittelei an Personen - übrigens der ähnlichen Art, wie sie Popper bei Aristoteles im Hinblick auf Plato so abstieß.
Bei der Kritik eines Arguments interessiert die Person des Autors nur in der logischen Rolle des Subjekts, das argumentiert, d.h. von der Spitze seiner Prämissen die Armee der Konsequenzen befehligt.
[1]) "Aktivismus macht immer nur Stress. Und Passivität zieht immer nur runter. Deshalb erfand Laotse ein positives Wort für Nichtstun, das sogenannte Nicht-Tun, und das heißt bei ihm Wu Wei. (...) Wu Wei umschwebt präpietistisch die Lilien auf dem Felde der Bergpredigt. Die Scholastik nannte Wu Wei 'Vita Passiva'. Die Barockzeit nannte Wu Wei 'Wonnepfuhl'. Angelsachsen nannten Wu Wei 'non-violent resistance'. Lateinlehrer sprachen vom Wuweianer als von 'Cunctator', dem Zauderer. Obwohl große Geister auf Seiten des Wu Wei fochten - 'Der Handelnde ist immer gewissenlos' (Goethe), 'Je aktiver man ist, desto weniger hat man nachgedacht' (Dostojewski), 'Staatsmann ist, wer die Dinge undifferenziert genug sieht, um zu handeln' (Paul Valéry) -, geriet wu-wei-gefärbter Passivismus im aufkommenden Industrialismus in Misskredit. (...) Wu Wei gilt als einzige Panazee gegen Hektik, Hypermotorik, Überarbeitung. Und vice versa: Ohne Wu Wei nur Ejakulation präcox, Negativismus, Querulantismus, Quotenfetischismus. Keine Weisheit ohne eine sanfte Portion Wu Wei. Ohne Wu Wei kein Kommenlassen, kein 'Abwarten und Tee trinken.'" (Ulrich Holbein, Der Passivismus. Siesta im Land der Vulkane, FAZ 23.02.2000)
[2]) „Für Aristoteles (wie für Platon) stellt sich die Welt als vorgegebener, hierarchisch abgestufter Kosmos dar, mit einem obersten Prinzip an der Spitze (erster unbewegter Beweger bei Aristoteles, Idee des Guten bei Platon). Der Mensch soll mit seiner göttlichen Vernunft (Nûs) in der Schau des Höchsten (theoría) das Göttliche erfassen, damit sich selbst und den Kosmos. Darin besteht seine Eudämonie (vgl. Met. 1 u. 2 und EN X 7). Die zweckfreie Wissenschaft ist nicht durch ihr subjektives Motiv frei, sondern durch ihren objektiven Gegenstandsbezug: das Höchste ist von keinem anderen abhängig." (Martens 1974a:118)
[3]) "jene Einsamen, die von ihrem Volke aufgeopfert und aus der Welt ausgeschieden wurden, zu dem Zwecke, dass die Kontemplation des Ewigen und ein ihr allein dienendes Leben vorhanden sei - nicht um eines Nutzens, sondern um des Segens willen -, verschwanden" (Hegel: Wissenschaft der Logik, S. 4)
[4]) "Ein eigentlicher Gelehrter (...) bin ich nun einmal nicht: Wissenschaftliche Tätigkeit ist für mich zu fest mit dem Begriff einer Ausfüllung der Mussestunden verknüpft, so sehr ich einsehe, dass die Teilung der Arbeit es mit sich bringt, dass man sie erfolgreich nur bei der Hingabe der ganzen Persönlichkeit betreiben kann." Max Weber an Emmy Baumgarten, 18.02.1892, in: Baumgarten 1964a:79)
[5]) hobby: "weil die Freiheit, das ihm Überflüssige zu tun, ihm die Verfügungsgewalt über jene bestätigt, die solche Arbeit verrichten müssen, wenn sie leben wollen." (Horkheimer, Adorno 1998a:82)
[6]) „Es ist nichts leichter, als den Genuss seiner moralischen Vortrefflichkeit sich an jedem Stoffe zu geben; am leichtesten an den Toten. (...) Warum soll gerade die Gesinnung der Ansicht und nicht viel mehr umgekehrt die bestimmte Weise der Ansicht und Einsicht seiner Gesinnung zugrunde gelegen haben? Das letztere Prinzip ist nicht nur historischer, sondern auch das einzige, wodurch die Betrachtung der Gesinnung eines Philosophen Platz in der Geschichte der Philosophie nehmen darf." (EG:231) - "It's always fun to scoff at the beliefs oft the ancients. But now, thanks to the Internet, we can scoff at our own beliefs of just a year ago." Fortune, 19.3.2001, p. 20.
2 Kommentare:
"Bis zu Aristoteles wird das griechische Denken von religiöser und patriotischer Hingabe an die Stadt beherrscht; die ethischen Systeme sind auf die Lebensweise von Bürgern zugeschnitten und haben einen stark politischen Einschlag."
Bruch durch Stoa und Christentum: individualistische Ethik, unpolitisch (S. 13)
Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, München Wien 8. Auflage 1999 (A History of Western Philosophy, London 1945)
Die Einstellung zur polis hat gerade Hegel fasziniert.
Dass Aristoteles diesen politischen Umbruch durch Aleander nicht philosophisch reflektiert, ist ein Beweis für Hegels These, dass die Philosophen gemeinhin hinterher hinken, also dem Zeitgeist hinterher reflektieren.
Wenn man die Entwicklung der Kommunikationstechnik bedenkt: Wie lange braucht es nicht, dass ein philosophisches Werk rezipiert ist (scghon gar, wenn es eine neue Sichtweise enthält, oder sich in einer neuen Sprache ausdrückt?
"Wie man ohne Gewissheit und doch auch ohne durch Unschlüssigkeit gelähmt zu werden, leben kann, das zu lehren ist vielleicht das Wichtigste, was die Philosophie heutzutage noch für diejenigen tun kann, die sich mit ihr beschäftigen." (S. 12)
Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, München Wien 8. Auflage 1999 (A History of Western Philosophy, London 1945)
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