Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Wissenschaftsbegriff und Methodologie

„Unter den mancherlei freundlichen Gaben, die der sterbliche Mensch in diesen vergänglichen Tagen als Gottes Geschenk erhalten kann, darf es nicht als das letzte angesehen werden, dass er sich durch unermüdliches Studium Wissenschaft zu erwerben vermag, wie man eine kostbare Perle erwirbt. Sie erschließt ihm den Weg zu einem guten und glücklichen Leben; sie ist so kostbar, dass der Wissende kraft ihrer den Unwissenden weit überragt; sie macht ihn Gott ähnlich. Die Wissenschaft ist es, die dem Menschengeist die Geheimnisse der Welt erhellt; sie fördert die Ungebildeten; sie hebt die Niedriggeborenen zu den Hochgestellten empor.“ [1])

„Was nun in diesem Gedränge von Wahrheiten weder Altes noch Neues, sondern Bleibendes sei, wie soll dieses aus diesen formlos hin- und hergehenden Betrachtungen sich herausheben - wie anders sich unterscheiden und bewähren als durch die Wissenschaft!“ [2])

Der Mensch ist ein soziales Wesen; ein Wissenschaftler ebenfalls [3]). Jedoch mit ein paar be­son­deren Fähigkeiten [4]) ausgestattet. Wissenschaft ist also zweifellos ein soziales Projekt der Kom­munikation zwischen Menschen, die Wissenschaft treiben. Wissenschaft ist daher aber vor allem auch eine soziale Institution.[5])

Antworten findet man nur, wenn man Fragen stellt. Und so ist Kritik nicht das Ende, sondern der An­fang von Wissenschaft. Dass dies mit Verstand geschieht, erfolgt es nach gewissen Re­geln [6]), die sich als eine Methodologie rekonstruieren las­sen und sich auf ideelle Objekte be­zie­hen, welche logisch analysiert und dargestellt werden kön­nen.

„Ein sogenanntes wissenschaftliches Fach ist nur ein abgegrenztes und konstruiertes Konglomerat von Problemen und Lösungsversuchen. Was es aber wirklich gibt, das sind die Probleme und die wissenschaftlichen Traditionen.“ (Popper 1969b:108)

Eine derartige Abgrenzung von Wissenschaft oder einzelnen Disziplinen ist stets nur relativ, be­dingt und wird leider durch die Geschichte von Institutionen und Lehrbuchtraditionen (Mills 1963a:190) re­gel­mä­ßig über Gebühr am Leben erhalten. Wenn Albert (1969a:193) von einer „Ein­bruchstelle“ der Philo­so­phie in die Wissenschaft spricht, so verrät diese Redewendung aus der Schimmelreiter [7])-Perspektive eine po­siti­vi­stische Reminiszenz an die vorgebliche Eigen­stän­dig­keit empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis. Wenn Wissenschaft keine geschlossene An­stalt ist, muss die Grenze zur Philosophie nach beiden Seiten os­moti­sche Eigenschaften auf­wei­sen. An dieser Grenze darf es keine gate-keeper geben, auch wenn diese sich mit dem Lo­go „kritisch-rational“ schmücken sollten. Wenn Demokratie und Wissenschaft Wächter benö­ti­gen, dann im Sinne eines internen Kritikmecha­nismus, wie Agassi (1993a:232) ihn vielleicht zu opti­mi­stisch in den underground leaders [8]) beschworen hat.

Die Frage stellt sich:

Wie sind diese unterschiedlichen Aspekte dieses sozialen Projekts miteinander verknüpft?

Wenn Wissenschaft ein Sprachspiel [9]) (Popper 1984a:25f) ist, das betrieben wird zwischen meh­re­ren mehr oder minder reifen [10]) Personen, so kann „Methodologie“ nichts anderes sein als die Fixierung und Ab­stimmung der hierbei benutzten Spielregeln. Spielregeln gehören jedoch im­mer einer Gruppe von Per­so­nen an, welche dieses Spiel in Kooperation und Wettstreit spielen, als Normen dieser Grup­pe. Ist Kritik ein wichtiges Instrument des Erkenntnisfort­schritts, so geht es dann auch darum, wie soziale Bedingungen be­schaffen sein müssen und wie man sol­che herbeiführen kann, welche die Produktion von Kritik för­dern.

Das Problem, worum es hier geht, ist demzufolge

1. ein wissenschaftssoziologisches [11]) und
2. ein methodologisches:

Welche soziale Bedingungen sind notwendige und optimale Voraussetzungen für Erkenntnisfortschritt?

Welche methodologischen Normen sollten zweckmäßigerweise dazu institutionalisiert sein?



[1]) Diese anheimelnde Stilblüte zeitgemäßer Bildungspolitik findet sich in der Invocatio der päpstlichen Gründungsurkunde der Trierer Universität vom 02. 02. 1455. Sie geriet alsbald in Geldnöte und beendete ihr göttliches Dasein regierungsamtlich erst 1798.

[2]) Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 6. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 42201 (vgl. Hegel-W Bd. 7, S. 13)

[3]) „Zur wissenschaftlichen Nachprüfung, zur Methode, gehört eben auch die Objektivität, und die ist für einen Robinson grundsätzlich nicht ganz erreichbar." (Popper 1994b:133)
Poppers Gleichsetzung von Objektivität mit intersubjektiver Kontrollierbarkeit impliziert wohl gemerkt, dass persönliches Wissen, welches nicht explizierbar ist, keine Objektivität besitzt bzw. nicht als "objektiv" bezeichnet werden kann.

[4]) „Now a wise old rat may know a lot about traps and poison but he cannot write a text book ..." (Bur­roughs 1970a) Hieran schließt wundervoll Neuraths (1931a:84) Einsicht an: "Es ist wohl schwer, einem Tier dadurch unbedingte Sicherheit bei einem Kampf zu geben, ihm alle Furcht zu nehmen, dass man ihm den Knochen seines toten Vaters umhängt. Beim Menschen gelingt das." Es ist auch wenig sinnvoll, bei Ratten die Selbstmordquote (Durkheim) zu berechnen. Während Ratten nach einem Vergiftungsfall in der Familie entsprechende Köder nicht mehr annehmen, können Menschen dazu gebracht werden, verdächtige Lebensmittel wieder zu konsumieren, als wäre nichts passiert. So mutet uns heute ebenfalls bemerkenswert weitsichtig Neuraths Anmerkung (z.B. im Hinblick auf britisches Rindfleisch): "Wie konstant erscheint die Viehzucht der Ameisen neben jener der Menschen." (121)

[5]) "... when I trust my mathematical tables I am implicitly trusting certain social institutions..." (Agassi 1975a:6)

[6]) „Unter Methode aber verstehe ich zuverlässige und leicht zu befolgende Regeln, so dass, wer sich pünktlich an sie hält, niemals etwas Falsches für wahr unterstellt und, in dem er seine geistige Mühe nutzlos verschwendet, sondern sein Wissen Stück für Stück ständig erweitert, die wahre Erkenntnis alles dessen erreicht, wozu er fähig ist." René Descartes – Regulae - „Was die Methode betrifft - gibt es da etwas anderes zu sagen als: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg? Wenn dieser Wille nicht da sein sollte, so sind wir verloren." „Die goldene Regel heißt: Es gibt keine goldenen Regeln." (Shaw) „Science is an essentially anarchistic enterprise: theoretical anarchism is more humanitarian and more likely to encourage progress than its law-and-order alternatives. This is shown by an examination of historical episodes and by an abstract analysis of the relation between idea and action. The only principle that does not inhibit progress is: ‘anything goes’." (Feyerabend 1976a) „Philo­so­phen, genau wie andere Leute, können in ihrer Suche nach Wahrheit alle Methoden wählen, die ihnen Erfolg zu versprechen scheinen. Es gibt keine Methode, die für die Philosophie charakteristisch oder wesentlich ist." (Popper 1984a:XIV)

[7]) Frei nach der gleichnamigen Novelle von Theodor Storm, die von einem dämonisch- preußisch pflicht­bewussten Deichgrafen handelt, der das Volk gegen dessen eigenen Willen und Einsicht vor den Fluten der Nordsee zu retten suchte.

[8]) „guardians who are motivated by the love of freedom; they must be serious and sincere and honest. (...) The Cabalist tradition calls them the thirty-six righteous; they are anonymous and they keep the world going round."

[9]) "Man kann die Wissenschaften als 'Sprachspiele' ansehen, die wir konstruieren, um uns in der Wirklichkeit besser zurechtzufinden, als wir es auf Grund unserer Alltagserfahrung zu tun vermögen - Sprachspiele also, die der Weltorientierung dienen. Fragen der Methodologie richten sich darauf, wie solche Sprachspiele beschaffen sein müssen, um für ihren Zweck brauchbar zu sein. Man könnte hier von einer Technologie sprechen." (Albert 1957a:126)

[10]) „Als Ausweg werden die demokratischen Grundsätze gewöhnlich da außer Kraft gesetzt, wo sie am wichtig­sten sind: im Erziehungswesen. Man sagt, die Gedankenfreiheit sei schon gut für Erwachsene, die rational er­zo­gen und wissenschaftlich geschult sind, sie könne aber nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft gewährt werden." (Feyerabend 1976a:84) So wie in der attischen Demokratie Bürgerrechte nicht für Sklaven, so gelten innerhalb der Ordinarienuniversität die Privilegien von Wissenschaft und Forschung nicht für Studenten, die noch im Status der Unreife verharren. Doch auch sie können erlöst werden. „It pays to treat students as intelligent beings and to explain one’s intention and reasons for presenting to them whatever one does. The trouble is, many teachers are too ignorant of the reasons for the traditional curriculum and present it as mere good form." (Agassi 1993a:57)

[11]) "... auch die Aussagen der Gelehrten sind räumlich-zeitliche Gebilde im Rahmen der Soziologie. (...) sozi­ologische Aussagen sind soziologisch zu behandeln." (Neurath 1931a:3) Neurath plädierte gar für einen "Gelehr­ten-Behaviorismus".

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