Popper (1994b) lobt Kants Unterscheidung zwischen den beschreibend-erklärenden und der begründungs- oder geltungsorientierten Aspekten der Erkenntnistheorie, bemängelt jedoch, dass es Kant selbst nicht immer gelungen sei, dieselben in seinem Deduktionsargument auseinander zu halten. Popper (1984a:318f) erleidet jedoch selbst Schiffbruch, wenn er versucht, Kants transzendentales Argument seiner fallibilistischen Methodologie zu adaptieren. Die Adaption: Popper (1994b:124,263) hält „die Orientierung am tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb“ schlechthin als die „Anwendung der transzendentalen Methode“. Hier ist vor allem darauf zu achten, inwieweit Popper hierbei der Gefahr „naturalistischer Fehlschluss“ [1]) entgeht.
Popper macht zu Recht deutlich, dass Kants Argument bei der Tatsache ansetzt, dass Newtons Theorie wahr sei. Kants Erkenntnistheorie geht dann darauf aus, die Möglichkeit dieser Tatsache zu erklären und daraus die Bedingungen für wahres Erkennen zu gewinnen. Wie Albert (1972c:17ff) einwandfrei darlegt, verfährt auch Kant, den Popper (1994a:191) als quasi den ersten Kritischen Rationalisten vereinnahmt („the critical rationalist and the last great philosopher of the Enlightenment“) dabei im Sinne der Rechtfertigungsstrategie. Diesen wesentlichen Punkt lässt Popper außer Acht. Es macht indes einen entscheidenden Unterschied, ob man im Sinne der Rechtfertigungsstrategie vom Faktum einer absolut wahren Theorie ausgeht, oder wie Popper generell nur hypothetisches Wissen für möglich hält. In letzterem Falle kann Popper nur die Tatsache verwenden, dass wir in irgendeiner Weise über Wissen verfügen. Welcher Art dieses Wissen sei, lässt sich aber nur durch Erkenntnistheorie bzw. von einer durch eine bestimmte Erkenntnistheorie begründete empirische Theorie aussagen. Es liegt dann aber ein fehlerhafter Zirkel vor, wenn man Erkenntnistheorie durch die Tatsache von empirischem Wissen rechtfertigen will, dessen Natur und Geltungswert sich durch Erkenntnistheorie erst rekonstruieren und bewerten lassen. Diesen Punkt hat Albert (1972c:19, Anm.8) wohl übersehen [2]).
Auf das analoge Dilemma stößt ebenfalls Poppers „transzendentale Bewährung“ seiner Methodologie, welche er nämlich an dem im Lichte seiner Methodologie rekonstruierten tatsächlichen Verhalten der Wissenschaftler vornehmen will. Diese „Verifikation“ taugt genauso wenig wie die Verifikation einer empirischen Theorie durch konforme Tatsachen. Der einzige Ausweg liegt in der Organisation von transzendenter Kritik [3]), also der Proliferation alternativer Erkenntnistheorien, der Popper aber durchweg ablehnend gegenübersteht.
Die Fragen, welche institutionelle Bedingungen und soziale und kognitive Verlaufsmuster die Entwicklung von Wissenschaften aufweise sowie welche Methodologie zur Steuerung dieser Entwicklung geeignet sei, hängen sicherlich eng miteinander zusammen. Verlegt hat sich dabei die Diskussion auf das Thema „wissenschaftliche Revolution“, vor allem um die divergierenden Auffassungen von Popper, Kuhn, Lakatos und Feyerabend (Novakovic 1974a:173; Berkson 1974a; Andersson 1988a). Hierbei [4]) ging es vor allem um die dynamischen Aspekte von Wissenschaft, vor allem die Frage, inwieweit Revolution in der Wissenschaft permanent ist oder doch wenigstens sein sollte.
„Popper replaced the central problem of classical rationality, the old problem of foundations, with the new problem of fallible-critical growth, and started to elaborate objective standards of this growth.” (Lakatos 1970a:179)
In dieser Diskussion wird auch immer wieder die Entwicklung der Naturwissenschaften mit derjenigen der Sozialwissenschaften verglichen [5]). Indessen wird dabei häufig übersehen, dass ein derartiger Vergleich taugliche Kriterien voraussetzt, diese Kriterien aber das voraussetzen, was eigentlich erklärt werden soll: das erreichte Erkenntnisniveau der Sozialwissenschaften, hier insbesondere der Wissenschaftssoziologie. Mit einem solchen Zirkelschluss lässt sich äußerst leicht immer dasjenige beweisen, was man gerade im Schilde führt: die Rückständigkeit oder die besondere Eigenart der Sozialwissenschaften. Theorien kann man nicht fotografieren; und nicht einmal Fotos stellen das dar, was sie darstellen.
Mittlerweile hat die methodologische Kritik die Wissenschaft der Wissenschaft selbst, besonders in ihrer abstrakt-individualistisch verkappten Form und ihrem Logizismus, erreicht. Auf den ersten Blick wirkt es verwirrend, aber vielleicht auch lehrreich, wie in der Popper-Kuhn-Kontroverse sich logische mit historischen und soziologischen Fragen zu einem schwer aufzudröselnden Knäuel verwirren. Kern des Problems ist hier jedoch die fundamentale Frage der Rationalität des wissenschaftlichen „Fortschritts“ (d.h. was man für einen solchen zu halten hat) und dessen Kontinuität in all dem Wandel:
„... what happens to our standards (as opposed to our theories) during a period of revolution?” (Feyerabend 1970a:216)
So verficht Popper (1984a:429), dass
„... die von einigen Autoren vertretene These, dass wissenschaftliche Revolutionen totale Revolutionen sind, sowohl vom logischen wie auch vom historischen Standpunkt gesehen, der reine Unsinn ist.“
Ransom (1997a) unterscheidet
eine dynamische vs. eine statische und
individuelle vs. kollektive Rationalität.
Es ist aber gerade das Vorurteil der sog. „Wissenschaftslogik“, dass Wissenschaft logisch rekonstruierbar sei, als ob der Erkenntnisprozess von Wissenschaft sich auf Grundlage und in den Bahnen eines individuellen Bewusstseins und statischer Bewertungsverfahren vollziehen könne. Somit liegt das besondere Verdienst Kuhns darin, herausgestellt zu haben, dass der Streit der Paradigmata [6]) notwendig zur Entwicklung von Wissenschaft gehört und dass hierin auch Metatheorien involviert sind. Das heißt allerdings nichts anderes, als dass dabei jeweils die Theorie der wissenschaftlichen Rationalität selbst in die Auseinandersetzung sich verwickelt sieht, sogar mehr oder weniger verborgen als der zentrale Kern derselben operiert. Die Debatte [7]), die sich vordergründig an der „Autonomie“ und der „politischen Planbarkeit“ von Wissenschaft festgefahren hat, weist einmal mehr auf, wie abstrakter Individualismus (wie z.B. der walrassche Auktionator im neoklassischen Marktmodell) in der politischen Anwendung umschlägt zu der Fiktion des „kommunistischen Robinson“. Kollektive Prozesse werden hierbei modell-logisch rekonstruiert, als ob es sich um Denkprozesse innerhalb eines individuellen Bewusstseins handele. Die soziologische Analyse wird dabei mystifiziert durch die scheinbar makellose Logik eines Modells, das auf dem oberflächlichen Scheinrealismus eines atomistischen Individualismus beruht. Bei der in der neoklassischen Ökonomie eifrig betriebenen Modellschreinerei nimmt es keineswegs wunder, dass die Schreinermeister eine starke Neigung zu einer instrumentalistischen Interpretation ihrer Modelle verspüren, denn dadurch entziehen sie sich sehr elegant [8]) dem allzu harten Zugriff der Realität.
„Irrationalisten können im Instrumentalismus ihre Zuflucht suchen, wie eine Ente auf dem Wasser, da der Instrumentalismus die Möglichkeit einer Konfrontation zwischen Wissenschaft und irgendeiner irrationalen Bindung beseitigt hat.“ (Bartley 1987a:99)
Diese Neigung ist zuweilen so stark ausgeprägt, dass eigens zu ihrer Rechtfertigung Methodologien ersonnen werden, mit der selbstverständlichen Begründung, dass 1. in der Ökonomie (man nehme nach Belieben jedes andere Fach) vieles wesentlich anders laufe, ergo 2. anders laufen müsse als in jeder anderen empirischen Wissenschaft (Weimann 1989a).
Wenn für den Instrumentalisten wie für den Positivisten jede Idealisierung oder jedes theoretische Konstrukt bloß ein Instrument darstellt, dann vermag er nicht mehr die unterschiedlichen Stufen der Annäherung an die objektive Realität zu fassen. Letzteres spielt aber eine wesentliche Rolle in der wissenschaftlichen Argumentation (Shapere 1974a). Und wie immer auch die objektive Realität geeigneter Weise gemessen werden kann - sicherlich gibt es große Unterschiede in Reliabilität und Validität (Barlas, Carpenter 1990a) - diese objektiven Ergebnisse sind jedoch in der Regel alles, was den praktisch orientierten Kunden der Wissenschaft an dieser interessiert.
[1]) "Unter einem naturalistischen Fehlschluss ist hier ein deduktives Argument zu verstehen, dessen Prämissen ausschließlich aus Sachaussagen bestehen, aber dessen Konklusion normativen Charakter hat. Derartige Schlüsse vom 'Sein' auf das 'Sollen' pflegen seit jeher von Vertretern des Empirismus, aber auch des Kantianismus, kritisiert zu werden, da bei einem deduktiven Argument der Gehalt der Konklusion nicht über den der Prämissen hinausgehen kann." (Albert 1972c:136, Anm.24)
[2]) "Die kritische Verwendung einer transzendentalen Argumentation gegen jede Theorie, 'aus der die Unmöglichkeit der Erkenntnis oder des Lernens aus der Erfahrung folgt', wie Popper (1984a:319,Anm.3) sie vorschlägt -, scheint mir damit durchaus vereinbar zu sein." Es überrascht nicht, dass Albert jedes Mittel recht ist, womit er kritisieren kann. Was jedoch, wenn dieses Mittel inkonsistent ist, weil es einen naturalistischen Fehlschluss impliziert?
[3]) "Erkenntnistheorien, denen es nicht gelingt, das tatsächliche methodische Verfahren in befriedigender Weise darzustellen, sind - und darin besteht die transzendentale Methode - als gescheitert zu betrachten. Die verschiedenen Erkenntnistheorien müssen dabei in einen transzendentalen Wettbewerb treten. Denn manche Erkenntnistheorien erscheinen in sich geschlossen und befriedigend, versagen jedoch, wenn sie vor solche methodologische Probleme gestellt werden, die durch andere Erkenntnistheorien aufgerollt werden. Dabei ist aber zu beachten, dass nur transzendentales Versagen entscheidet, das heißt, ein Widerspruch mit einem tatsächlich vorliegenden wissenschaftlichen Begründungsverfahren.
(Eine solche transzendentale Kritik kann als immanente Kritik an der betreffenden Erkenntnistheorie aufgefasst werden, da diese ja, ihrem Begriff zufolge, die Methoden darzustellen hat. - Von diesem Verfahren ist die in der Erkenntnistheorie übliche, aber unberechtigte transzendente Kritik zu unterscheiden, die darin besteht, dass eine Erkenntnistheorie vom Standpunkt einer anderen aus als widerspruchsvoll abgelehnt wird, weil sie mit den theoretischen Voraussetzungen einer fremden Auffassung in Widerspruch steht.)" (Popper 1994b:424)
[4]) Zum aktuellen Diskussionsstand des „Kuhn-Popperschen Froschmäusekriegs"(Feyerabend) siehe ProtoSociology, vol. 12: „After the Received View - Developments in the Theory of Science"
[5]) „many sociologists take the achievements of physics as the standard for self-appraisal. They want to compare biceps with their bigger brothers." (Merton 1968a:47) Für Popper (1973a:186) ist „Szientismus" das Nachäffen dessen, was mehr oder minder irrtümlich als in den Naturwissenschaften praktizierte Methode ausgegeben wird. Laut (1994b:XXI) reduziert sich "Szientismus" schlechthin auf den Glauben an die Autorität der Wissenschaft. Neu dazu Oexle 1998a.
[6]) Der Begriff des Paradigma wurde von Lichtenberg eingebracht; darauf weist Toulmin (1978a:131f) hin. Eine diesbezügliche Begriffsanalyse liefert Masterman (1970a).
[7]) Torsten Bultmann, Die standortgerechte Dienstleistungshochschule, Prokla 104: Hochschule,
"Die gesamte aktuelle Hochschulentwicklung wäre daraufhin zu befragen, inwieweit sich Entpolitisierung, Entdifferenzierung, kurz: Nivellierung und Alternativenarmut, sowie zunehmende Außensteuerung gegenseitig bedingen. Die Fragestellung ist allein deswegen produktiv und provokativ, weil »Autonomie« und »Differenzierung« gerade ideologische Leitbegriffe der gegenwärtig einflussreichsten hochschulpolitischen Think-Tanks sind (vgl. Stifterverband 1994, Müller-Böling 1995)."
[8]) Dies ist schließlich der Hauptzweck einer guten Methodologie: Die Kritiker ins Leere laufen zu lassen, das eigene Gewissen zu beruhigen und das eigene Tun zu beschönigen (?!)
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