Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Methodologie: deskriptiv / normativ ?

Popper (1994b) lobt Kants Unterscheidung zwischen den beschreibend-erklärenden und der be­grün­dungs- oder geltungsorientierten Aspekten der Erkenntnistheorie, bemängelt jedoch, dass es Kant selbst nicht immer gelungen sei, dieselben in seinem Deduktionsargument ausein­an­der zu halten. Popper (1984a:318f) erleidet jedoch selbst Schiffbruch, wenn er versucht, Kants trans­zendentales Argument seiner fallibilistischen Methodologie zu adaptieren. Die Adaption: Pop­per (1994b:124,263) hält „die Orientierung am tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb“ schlechthin als die „Anwendung der transzendentalen Methode“. Hier ist vor allem darauf zu achten, inwieweit Popper hier­bei der Gefahr „naturalistischer Fehlschluss“ [1]) entgeht.

Pop­per macht zu Recht deutlich, dass Kants Argument bei der Tatsache ansetzt, dass Newtons The­o­rie wahr sei. Kants Erkenntnistheorie geht dann darauf aus, die Möglichkeit dieser Tatsa­che zu erklären und daraus die Bedingungen für wahres Erkennen zu gewinnen. Wie Albert (1972c:17ff) einwandfrei darlegt, verfährt auch Kant, den Popper (1994a:191) als quasi den er­sten Kritischen Rationalisten vereinnahmt („the critical rationalist and the last great philosopher of the Enligh­tenment“) da­bei im Sinne der Recht­fer­ti­gungsstrategie. Diesen wesentlichen Punkt lässt Popper außer Acht. Es macht indes einen entscheidenden Unterschied, ob man im Sinne der Rechtfer­ti­gungsstrategie vom Faktum einer absolut wahren Theorie ausgeht, oder wie Popper generell nur hypothetisches Wissen für möglich hält. In letzterem Falle kann Pop­per nur die Tatsache ver­wenden, dass wir in irgendeiner Weise über Wissen verfügen. Welcher Art dieses Wissen sei, lässt sich aber nur durch Erkenntnistheorie bzw. von einer durch eine bestimmte Er­kennt­nistheorie begründete empirische Theorie aussagen. Es liegt dann aber ein fehlerhafter Zirkel vor, wenn man Erkenntnistheorie durch die Tatsache von empirischem Wissen rechtfertigen will, dessen Natur und Geltungswert sich durch Erkenntnistheorie erst rekonstruieren und be­wer­ten lassen. Diesen Punkt hat Albert (1972c:19, Anm.8) wohl übersehen [2]).

Auf das analoge Dilemma stößt ebenfalls Poppers „transzendentale Bewährung“ seiner Metho­do­lo­gie, welche er nämlich an dem im Lichte seiner Methodologie rekonstruierten tatsächlichen Ver­halten der Wis­sen­schaftler vornehmen will. Diese „Verifikation“ taugt genauso wenig wie die Verifikation einer empi­ri­schen Theorie durch konforme Tatsachen. Der einzige Ausweg liegt in der Organisation von transzen­denter Kritik [3]), also der Proliferation alternativer Er­kennt­nistheorien, der Popper aber durchweg ab­lehnend gegenübersteht.

Die Fragen, welche institutionelle Bedingungen und soziale und kognitive Verlaufsmuster die Ent­wicklung von Wissenschaften aufweise sowie welche Methodologie zur Steuerung dieser Ent­wicklung geeignet sei, hängen sicherlich eng miteinander zusammen. Verlegt hat sich da­bei die Diskussion auf das Thema „wissenschaftliche Revolution“, vor allem um die divergie­ren­den Auffassungen von Popper, Kuhn, Lakatos und Feyerabend (Novakovic 1974a:173; Berkson 1974a; Andersson 1988a). Hierbei [4]) ging es vor allem um die dynamischen Aspekte von Wis­sen­schaft, vor allem die Frage, inwieweit Revolution in der Wissenschaft permanent ist oder doch wenigstens sein sollte.

„Popper replaced the central problem of classical rationality, the old problem of foundations, with the new problem of fallible-critical growth, and started to elaborate objective standards of this growth.” (Lakatos 1970a:179)

In dieser Diskussion wird auch immer wieder die Entwicklung der Naturwissenschaften mit der­jenigen der Sozialwissenschaften verglichen [5]). Indessen wird dabei häufig übersehen, dass ein derartiger Ver­gleich taugliche Kriterien voraussetzt, diese Kriterien aber das voraussetzen, was eigentlich erklärt werden soll: das erreichte Erkenntnisniveau der Sozi­al­wis­senschaften, hier insbesondere der Wissenschafts­soziologie. Mit einem solchen Zirkel­schluss lässt sich äußerst leicht immer dasjenige beweisen, was man ge­rade im Schilde führt: die Rückständigkeit oder die besondere Eigenart der Sozialwissenschaften. Theo­rien kann man nicht fotografieren; und nicht einmal Fotos stellen das dar, was sie darstellen.

Mittlerweile hat die methodologische Kritik die Wissenschaft der Wissenschaft selbst, beson­ders in ihrer abstrakt-individualistisch verkappten Form und ihrem Logizismus, erreicht. Auf den ersten Blick wirkt es verwirrend, aber vielleicht auch lehrreich, wie in der Popper-Kuhn-Kon­troverse sich logische mit histo­ri­schen und soziologischen Fragen zu einem schwer aufzu­dröselnden Knäuel verwirren. Kern des Problems ist hier jedoch die fundamentale Frage der Ra­ti­onalität des wissenschaftlichen „Fortschritts“ (d.h. was man für einen solchen zu halten hat) und des­sen Kontinuität in all dem Wandel:

„... what happens to our standards (as opposed to our theories) during a period of revolution?” (Feyerabend 1970a:216)

So verficht Popper (1984a:429), dass

„... die von einigen Autoren vertretene These, dass wissenschaftliche Revolutionen totale Revolutionen sind, sowohl vom logischen wie auch vom historischen Standpunkt gesehen, der reine Unsinn ist.“

Ransom (1997a) unterscheidet

eine dynamische vs. eine statische und

individuelle vs. kollektive Rationalität.

Es ist aber gerade das Vorurteil der sog. „Wissenschaftslogik“, dass Wissenschaft logisch rekon­stru­ier­bar sei, als ob der Erkenntnisprozess von Wissenschaft sich auf Grundlage und in den Bah­nen eines indi­vi­duellen Bewusstseins und statischer Bewertungsverfahren vollziehen kön­ne. Somit liegt das besondere Ver­dienst Kuhns darin, herausgestellt zu haben, dass der Streit der Paradigmata [6]) notwendig zur Ent­wick­lung von Wissenschaft gehört und dass hierin auch Me­tatheorien involviert sind. Das heißt allerdings nichts anderes, als dass dabei jeweils die The­orie der wissenschaftlichen Rationalität selbst in die Aus­ein­an­dersetzung sich verwickelt sieht, sogar mehr oder weniger verborgen als der zentrale Kern derselben ope­riert. Die Debat­te [7]), die sich vordergründig an der „Autonomie“ und der „politischen Planbarkeit“ von Wissen­schaft festgefahren hat, weist einmal mehr auf, wie abstrakter Individualismus (wie z.B. der wal­ras­sche Auktionator im neoklassischen Marktmodell) in der politischen Anwendung umschlägt zu der Fik­tion des „kommunistischen Robinson“. Kollektive Prozesse werden hierbei modell-logisch re­kon­stru­iert, als ob es sich um Denkprozesse innerhalb eines individuellen Bewusstseins han­de­le. Die sozi­olo­gi­sche Analyse wird dabei mystifiziert durch die scheinbar makellose Logik ei­nes Modells, das auf dem oberflächlichen Scheinrealismus eines atomistischen Indi­vi­dualis­mus beruht. Bei der in der neoklassischen Ökonomie eifrig betriebenen Modellschreinerei nimmt es keineswegs wunder, dass die Schreinermeister ei­ne starke Neigung zu einer instrumentalistischen Interpretation ihrer Modelle verspüren, denn dadurch ent­ziehen sie sich sehr elegant [8]) dem allzu harten Zugriff der Realität.

„Irrationalisten können im Instrumentalismus ihre Zuflucht suchen, wie eine Ente auf dem Was­ser, da der Instrumentalismus die Möglichkeit einer Konfrontation zwischen Wissenschaft und ir­gend­einer irrationalen Bindung beseitigt hat.“ (Bartley 1987a:99)

Diese Neigung ist zuweilen so stark ausgeprägt, dass eigens zu ihrer Rechtfertigung Methodo­lo­gien er­son­nen werden, mit der selbstverständlichen Begründung, dass 1. in der Ökonomie (man nehme nach Be­lie­ben jedes andere Fach) vieles wesentlich anders laufe, ergo 2. anders laufen müs­se als in jeder anderen em­pirischen Wissenschaft (Weimann 1989a).

Wenn für den Instrumentalisten wie für den Positivisten jede Idealisierung oder jedes theo­re­tische Kon­strukt bloß ein Instrument darstellt, dann vermag er nicht mehr die unterschied­li­chen Stufen der An­nä­herung an die objektive Realität zu fassen. Letzteres spielt aber eine we­sent­liche Rolle in der wissen­schaft­li­chen Argumentation (Shapere 1974a). Und wie immer auch die objektive Realität geeigneter Weise ge­mes­sen werden kann - sicherlich gibt es große Un­ter­schiede in Reliabilität und Validität (Barlas, Carpenter 1990a) - diese objektiven Ergebnisse sind jedoch in der Regel alles, was den praktisch orientierten Kunden der Wissenschaft an dieser interessiert.



[1]) "Unter einem naturalistischen Fehlschluss ist hier ein deduktives Argument zu verstehen, dessen Prämissen aus­schließ­lich aus Sachaussagen bestehen, aber dessen Konklusion normativen Charakter hat. Derartige Schlüsse vom 'Sein' auf das 'Sollen' pflegen seit jeher von Vertretern des Empirismus, aber auch des Kantianismus, kri­tisiert zu werden, da bei einem deduktiven Argument der Gehalt der Konklusion nicht über den der Prämissen hin­ausgehen kann." (Albert 1972c:136, Anm.24)

[2]) "Die kritische Verwendung einer transzendentalen Argumentation gegen jede Theorie, 'aus der die Unmög­lichkeit der Erkenntnis oder des Lernens aus der Erfahrung folgt', wie Popper (1984a:319,Anm.3) sie vorschlägt -, scheint mir damit durchaus vereinbar zu sein." Es überrascht nicht, dass Albert jedes Mittel recht ist, womit er kritisieren kann. Was jedoch, wenn dieses Mittel inkonsistent ist, weil es einen naturalistischen Fehlschluss im­pli­ziert?

[3]) "Erkenntnistheorien, denen es nicht gelingt, das tatsächliche methodische Verfahren in befriedigender Weise darzu­stel­len, sind - und darin besteht die transzendentale Methode - als gescheitert zu betrachten. Die ver­schie­denen Er­kennt­nis­the­o­ri­en müssen dabei in einen transzendentalen Wettbewerb treten. Denn manche Er­kennt­nistheorien erscheinen in sich ge­schlos­sen und befriedigend, versagen jedoch, wenn sie vor solche methodolo­gi­sche Probleme gestellt werden, die durch andere Er­kennt­nistheorien aufgerollt werden. Dabei ist aber zu be­ach­ten, dass nur transzendentales Versagen entscheidet, das heißt, ein Wi­der­spruch mit einem tatsächlich vor­liegen­den wissenschaftlichen Begründungsverfahren.
(Ei­ne solche transzendentale Kritik kann als immanente Kritik an der betreffenden Erkenntnistheorie aufgefasst werden, da die­se ja, ihrem Begriff zufolge, die Methoden darzustellen hat. - Von diesem Verfahren ist die in der Erkenntnistheorie üb­li­che, aber unberechtigte transzendente Kritik zu unterscheiden, die darin besteht, dass eine Erkenntnistheorie vom Standpunkt ei­ner anderen aus als widerspruchsvoll abgelehnt wird, weil sie mit den theoretischen Voraussetzungen einer fremden Auf­fas­sung in Widerspruch steht.)" (Popper 1994b:424)

[4]) Zum aktuellen Diskussionsstand des „Kuhn-Popperschen Froschmäusekriegs"(Feyerabend) siehe ProtoSociology, vol. 12: „After the Received View - Developments in the Theory of Science"

[5]) „many sociologists take the achievements of physics as the standard for self-appraisal. They want to compare biceps with their bigger brothers." (Merton 1968a:47) Für Popper (1973a:186) ist „Szientismus" das Nachäffen dessen, was mehr oder minder irrtümlich als in den Naturwissenschaften praktizierte Methode ausgegeben wird. Laut (1994b:XXI) reduziert sich "Szientismus" schlechthin auf den Glauben an die Autorität der Wissenschaft. Neu dazu Oexle 1998a.

[6]) Der Begriff des Paradigma wurde von Lichtenberg eingebracht; darauf weist Toulmin (1978a:131f) hin. Eine dies­be­züg­li­che Begriffsanalyse liefert Masterman (1970a).

[7]) Torsten Bultmann, Die standortgerechte Dienstleistungshochschule, Prokla 104: Hochschule,

"Die gesamte aktuelle Hochschulentwicklung wäre daraufhin zu befragen, inwieweit sich Entpolitisierung, Entdiffer­enzie­rung, kurz: Nivellierung und Alternativenarmut, sowie zunehmende Außensteuerung gegenseitig bedingen. Die Fragestellung ist allein deswegen produktiv und provokativ, weil »Autonomie« und »Differenzierung« gerade ideologische Leitbegriffe der gegenwärtig einflussreichsten hochschulpolitischen Think-Tanks sind (vgl. Stifterverband 1994, Müller-Böling 1995)."

[8]) Dies ist schließlich der Hauptzweck einer guten Methodologie: Die Kritiker ins Leere laufen zu lassen, das eigene Ge­wis­sen zu beruhigen und das eigene Tun zu beschönigen (?!)

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