Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Wie weit geht die Toleranzschwelle für wissen­schaft­liche Diskussion?

Pfahl-Traughber (1998a) nimmt als Kennzeichen rechts­ex­tre­mi­sti­scher Verfassungsfeind­lich­keit, dass die Theoretiker der Konservativen Revolution pu­b­li­zi­stisch wie­der „diskursfähig“ ge­macht werden sollen.

In welcher Weise rechts­extremisti­sche Staats­the­oretiker Teil deutscher akademischer Traditi­on sind, offenbart das Einge­ständ­nis [1]) eines be­kannten deutschen Natio­nal­ökonomen. Solche geschichtlichen Denkwürdigkei­ten, er­schienen in einer akademischen Fest­schrift, gibt es leider noch viel zu selten. Schmitt [2]) je­doch erlebt immer wieder deutsche Wie­der­geburten.

Kann man überhaupt eine rationale politische Auseinandersetzung mit Standpunkten führen, die als „nicht diskursfähig“ ausgegrenzt werden? Wer soll über „Diskursfähigkeit“ entschei­den, wenn nicht wie­der ein Diskurs, bei welchem alle Argumente [3]) aufgedeckt werden kön­nen und müssen? Der demo­kra­tische Verfassungsstaat schadet sich wohl oft mehr durch eine Ste­ri­lisierung per Ver­fassungsschutz (Partei­en­ver­bo­te, Extremisten-Erlass, SPIEGEL-Affäre etc.[4]) als durch eine ak­ti­ve Ausein­andersetzung im Diskurs. Ge­rade Deutschland mit seiner hi­storisch ge­wachsenen obrig­keitsstaatlichen Tradition hat wenig Veran­las­sung, sich mit der ak­tiven Prä­senz einer politischer Po­lizei zu beruhigen. Auch das Abschieben um­strit­te­ner poli­ti­scher Grund­satzentscheidungen auf die Verfassungsge­richts­bar­keit, der scheinbare deus ex ma­china [5]) der gesamten deutschen Po­li­tik, mag zu definitiven und formell korrekten Ent­schei­dun­gen füh­ren, stellt aber gewiss nicht der Königsweg [6]) einer leben­digen politischen De­mo­kratie dar.

Die wissenschaftliche und/oder philosophische Kritik einer Theorie muss dieser aber not­wen­di­gerweise ein wissenschaftlich und/oder philosophisch sinnvolles Problem unterstellen, an­dern­falls könnte sie ihren Zweck nicht erfüllen, nämlich Lösungen im Hinblick auf ihre Pro­blem­stellungen zu beurteilen.

„Der Vernunft ist nur das Vernünftige Gegenstand.“ (Feuerbach 1976a:26)

Alles Andere - z.B. etwas von vornherein, d.h. bevor es wissenschaftlich geprüft worden ist, als „pseu­do-wissenschaftlich“ abzuqualifizieren - ergibt methodologisch keinen Sinn, sondern mag allen­falls litera­rische oder politische Bedürfnisse der Polemik befriedigen. Dass sich die Wis­senschaft nicht um jede noch so unsinnige Frage kümmern kann und von daher Prioritäten bei der Auswahl von Forschungs­the­men setzen muss, ist eine nachrangige, eher praktisch lös­ba­re Frage. Freilich wäre, hierzu eine Konsistenz-Bedingung - d.h. die Forderung nach Über­ein­stim­mung mit dem je­weils gegebenen wissenschaftlichen Erkenntnisstand - einzuführen, ein we­der historisch noch ra­tional begründbares kon­ser­vatives Präjudiz und widerspräche nach Fey­erabend (1976a:61) sogar einem wohlverstandenen Em­pi­rismus, da es die Entdeckung neuer Tatsachen ver­hinderte.[7])

Denn ob eine Tatsache vorhanden oder logisch vorstellbar sei, hängt davon ab, ob ein ent­spre­chender metaphysischer Bezugsrahmen dem Denken und Sprechen überhaupt zur Ver­fü­gung steht.

Prinzipiell kann aber gesagt werden: Wann eine bestimmte Theorie oder Problemlösung wis­sen­schaft­lich akzeptiert werden können oder als degeneriert aufzufassen sind, hängt von der Ein­schät­zung der be­tref­fenden Wissenschaftler ab und kann wissenschaftlich nicht ex cathedra des kritisch-rationalen oder mar­xistischen Volksaufklärers [8]) abgeurteilt werden. Denn wenn der Me­tho­dologe die Aufgabe der lo­gi­schen und methodologischen Kritik zur Rolle eines Ideologie-Kritikers und politischen Aufklärers aufbläst, so muss, so wie einstens Marx nach der Er­zie­hung der Er­zieher gefragt hatte, analog die Frage gestellt wer­den:

Wer klärt den Aufklärer auf?



[1]) „Der Freund, der Petersons Konversion in langen Diskussionen erleichterte, war der böse Dä­mon von Uni­ver­sität und Politik in diesen Jahren, war Carl Schmitt. Er ist verdientermaßen heu­te verfemt; denn geisti­ge Misse­ta­ten wie die seinen wiegen mindestens so schwer wie die Morde ge­borener Verbrecher. Aber ge­ziemt es sich nicht für uns, dass wir dessen gedenken, wie oft wir uns an seinen geschliffenen Reden erfreu­ten, wie gern wir mit ihm dis­ku­tierten, wie er uns als einer der ganz Wenigen erschien, dessen politische Bil­dung und dessen juristische Schärfe je­des Ge­spräch bereicherte und würzte? Ich stehe gewiss nicht im Ver­dacht, dass ich etwas zugunsten des Halb­irren sa­ge, der 1936 die deutsche Rechtswissenschaft zerstörte, oder zugunsten des eitlen Mo­no­manen, der den großen Bo­dinus als seinen ‘Bruder im Geiste’ bezeichnete, - der wilde Antisemit in­stinktlos den Maranen ... Aber gab es nach dem allzu frühen Tod von Rothenbücher einen Staats­rechtslehrer vom Rang und von der Intensität dieses po­li­ti­schen Chamäleons und hatten lau­tere Charak­tere wie Anschütz oder Radbruch das gleiche Gespür für den Umbruch der Welt? Wir haben uns zeitweise in den Schlingen dieses Dämons verfangen; aber es gebührt sich, dass wir auch zu unseren Schwächen stehen." (Salin 1964a:16)

[2]) vgl. Utz (1999a); Gross (2000a); Herrmann (2001a)

[3]) So entdeckt z.B. Günther (1984a:99) zu seiner Überraschung, dass Poppers Anti-Nationalis­mus, , im flagranten Gegensatz zum Wiederver­ei­ni­gungs­gebot des deut­schen Grund­ge­setzes stün­de. Nichtsdestoweniger ist nicht zu übersehen, dass der Nationalismus als politische Denkvoraus­set­zung schon überfällig auf den Prüfstand ge­hört; vgl. Glotz (1990a). Eine ähnli­che Position hatte schon Börne reflektiert, wobei er sich als Jude zwischen Deutschland und Frankreich zurecht zu fin­den hatte. Eine aktuelle Einschätzung des Verhältnisses deutscher - französischer Intellektu­eller liefert Wolfgang Matz, Krieg, Kunst, Kitsch und Tod, taz 27.2.2001, S. 4.

[4]) "Es ist nicht einfach, Extremist en zu bekämpfen. Da der Rechtsstaat verachtet wird, finden seine Maß­nah­men keinen Respekt, seine Gesetze werden nicht beachtet. Wer sich nicht offen or­ga­nisiert, ist mit Ver­bo­ten nicht zu er­reichen. Vor allem in der linksextremistischen Szene gibt es geradezu eine Tradition der Arbeit im Untergrund. Bei Straftaten werden Spuren vermieden, der Mangel an Beweisen erschwert die Strafver­fol­gung außer­ordent­lich. Um so wichtiger ist die Arbeit des Verfassungsschutzes als politisches „Frühwarnsystem". Über seine Er­kenntnisse werden Politik und Öffentlichkeit kontinuierlich durch Lage­bilder und Analysen unterrichtet; Infor­ma­tionen über politisch mo­tivierte Straftaten teilt er den Strafverfolgungsbehörden mit. Der Kern seines Auf­trags bedeutet Prävention: der Ver­fassungsschutz benennt rechtzeitig Gefährdungen, damit Zeit zum Han­deln bleibt."

[5]) „Der Vorwurf, das Gericht werde missbraucht als Quasi-Gesetzgeber oder führe sich selbst als Gesetz­geber auf, gab es schon zu meiner Zeit und schon sehr viel früher. Man muss aber sagen, dass es in jüngster Zeit eine Rei­he von Entscheidungen gab, die auf die Gesetzgebung und die Po­li­tik weitreichende Auswirkun­gen haben." - „Nur keine Feigheit vor dem Freund". TV-Interview mit Ex-Verfassungsrichter Ernst Benda über Vergangenheit und Zu­kunft des höchsten deutschen Ge­richts, TV 27.04.1999 - "Das Kontrollmotiv hat in der poli­tischen Willensbildung, in Überein­stim­mung mit traditionellen Vorstellungen, aber auch aus zeitnahen Gründen, zwei wichtige Institu­ti­o­nen der politischen Willensbildung entstehen las­sen. Davon ist die eine, das Bundesver­fas­sungs­ge­richt, er­mächtigt, unabhängig allgemein-verbindliche, je­doch überparlamentarische Entschei­dun­gen zu tref­fen, um der möglichen Verwandlung parlamentarischer Rechtssetzung in parlamenta­ri­sches Un­recht oder dem Über­mut der Regierungsämter vorzubeugen. Die zweite, die Deutsche Bun­des­bank, übt partielle, zielgerichtete und in ih­ren Wirkungen oft diskriminierende Regierungs­funk­ti­onen aus. Sie ist auf dem Gebiet der Währungs- und damit der Wirtschaftspolitik als eine Kon­tre-Regierung errichtet und bewusst der Einwirkung und Kontrolle gesellschaftlicher Kräfte ent­zogen. Beide Institutionen sind nicht einer unmittelbaren Legitimation unterworfen." (Wilden­mann 1969a:10) Das demokratisch unlegitimier­te Hineinregieren der Bundesbank in die Politik setzt nun die EZB fort: "So wird die fragwürdige Aktion zur Rettung des Holzmann-Konzerns als Grund ge­nannt, nicht zuletzt von der EZB, die zwar explizit keine Wechselkurspolitik betreibt, aber de fac­to - und damit im Widerspruch zu ihrer intendierten wäh­rungspolitischen Abstinenz - mit ihrer Äußerung Wasser auf die Mühlen der Wäh­rungs­spe­kulanten gegossen hat." DIW-Wo­chenbericht 1/2000, Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung 2000 - Offensivere Wirtschaftspolitik er­for­derlich

[6]) zu Poppers Toleranzprinzip und der damit verbundenen deutschen Diskussion um Spin­ners Pluralismus-Kon­zeption siehe Günther (1984a:57-71)

[7]) „Mit noch so viel ‘kritischer Diskussion’ kann man nicht das nicht Vorhandene entdecken oder das Un­vor­stellbare untersuchen.“ (Feyerabend 1976a:318)

[8]) Feyerabend (1976a:317) bezeichnet Popper als einen „Nachzügler der Aufklärung". Lenin (1962a:118) for­derte „Volkstribune". Zu dieser eigentümlichen Einrichtung zum Schutz einer an­son­sten rechtlosen Un­ter­schicht sie­he Coulanges (o.J:287f): Person und der Leib der Tribunen wur­de (in Gegensatz zu den von der Prie­steraristokratie in herkömmlicher Weise legitimierten Ma­gistratsbeamten) durch eine besondersartige Ze­re­monie sakrosankt ge­macht, so dass niemand sich ungestraft am Leib des Tribunen vergreifen durfte. Der Schutzbereich des Tribunen er­streckte sich allerdings nur auf Rufweite; er war gewissermaßen ein "wandeln­der Altar".

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