Merton (1968a:51) sah das Zurückbleiben der Sozialwissenschaften - vergleichsweise zu den Naturwissenschaften - verursacht durch eine „balkanization“, weil totale Theorien der Soziologie von „Systembildnern“ geschaffen worden seien. Mertons Therapievorschlag, die Orientierung hin auf middle range theories, ist wohlbekannt und recht ausgiebig diskutiert worden.[1]) Der Wert dieses Vorschlags, der als forschungspolitische Orientierungshilfe wohl immer wieder aktuell geprüft werden muss, ist indes durchaus unabhängig davon, ob Mertons Kritik der totalen Systeme in allen Punkten gerechtfertigt ist. Sie ist es m.E. nicht, weil er den Theorienpluralismus in seiner methodologischen Funktion verkennt und den Wert genereller Theorie zu sehr unterschätzt. Schließlich hat Merton, der doch dieselben „Systembildner“ als Klassiker zurecht hoch einschätzt, selbst erkannt, dass in der Kontroverse zwischen allgemeiner und Theorie mittlerer Reichweite nichts zu gewinnen ist, wenn man beide Orientierungsweisen einseitig, d.h. als sich einander ausschließende Gegensätze begreift.
Die manifest gewordene Kommunikationslosigkeit, nicht aber der Pluralismus der Paradigmata und philosophischen Schulen, bezeugen das Stadium der kritischen Unreife bzw. die viel beschworene „Krise“ [2]) der Sozialwissenschaften, die alle Jahre wieder durch den soziologischen Blätterwald geistert. Die Kumulation im theoretischen Wissen der Sozialwissenschaften wird leicht unterschätzt, denn über das, worüber man einig ist, wird nicht gestritten. Soziologen (zumindest soweit sie in der popperschen Offenen Gesellschaft residieren) werden geradezu prämiert dafür, dass sie uneinig sind.
Das Projekt Wissenschaft lebt aber von und aus der Kommunikation [3]) der Beteiligten. Eine solche Kommunikation setzt jedoch immer schon voraus, dass Aussagen und Stellungnahmen hermeneutisch hinreichend präzise ausgemacht werden, sprich: verstanden werden. Dazu ist aber der Wille Vorbedingung, gegnerische Standpunkte und Argumente überhaupt verstehen [4]) zu wollen.
Solches fällt überaus schwer, wenn in einer Debatte derjenige siegt, der die Gegenseite bzgl. des jeweiligen Publikums rhetorisch und taktisch am geschicktesten missversteht. Je nach dem Urteilsvermögen desselben wird dabei leicht eine Prämie auf die dümmste Missinterpretation ausgesetzt. So ist die offenbare Frustration, die die gesamte sog. „Positivismus-Debatte“ [5]) in der deutschen Soziologie begleitet hat, auch mit der Unterschätzung des Sprachproblems und der Bedeutung von Metatheorie für die Interpretation von Theorien und Daten zu erklären. Dass hier Kommunikation misslingen musste, lag nicht bloß am fehlenden Willen der Beteiligten oder deren überzogenem politischen Durchsetzungswillen. Es lag zum größten Teil auch an der Schwierigkeit des Problems, unterschiedliche Theoriesprachen miteinander in Beziehung zu setzen. Nun mag allerdings die Bevorzugung einer bestimmten Sprache und einer bestimmten Theorie zur Beschreibung der uns allen gemeinsamen gesellschaftlichen Realität vielen oft als ein Präjudiz für eine bestimmte gesellschaftspolitische Marschrichtung erscheinen. So schien Keuth (1978a) diese Kontroverse als ein zweiter deutscher Werturteilsstreit um die wissenschaftliche Begründbarkeit von Werturteilen zu gehen. In diese Schablone analytischer Wissenschaftstheorie wird damit aber nur stilisiert, was in Wirklichkeit als ein handfester Streit um den gesellschaftspolitischen Standort und die Rolle von Sozialwissenschaft in der gegenwärtigen Gesellschaft sich handelt. Der Werturteilsstreit ist das Epiphänomen eines endemischen Grundsatzkonflikts über Wissenschaftsorganisation und insofern ist die Hoffnung so naiv wie trügerisch, ihn einfach per Ideologie-Kritik und wissenschaftslogische Analyse hinwegzaubern zu können.
In gewisser Weise glich aber die vermeintliche Diskussion einer deutsch-französischen Konferenz, die versucht, ohne wechselseitige Sprachkenntnisse, Vorinformationen und Dolmetscher [6]) zu einer Übereinkunft zu gelangen, die obendrein noch echt machtpolitisch als ein Nullsummenspiel aufgefasst wird. Rein logisch liefe das dann auf die unlösbare Streitfrage hinaus, ob die deutsche oder die französische Bezeichnung eines Sachverhalts der gesellschaftlichen Realität adäquater wäre. Die „Positivismus-Debatte“ wäre somit weniger ein Paradigma der Kommunikation innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin denn ein exemplarischer Fall für die Erforschung von Fremdsprachenlernen und von Bilingualismus unter den Bedingungen eines weltanschaulichen Stellungskrieges. Es wäre wohl für die Wissenschaftssoziologie äußerst lohnenswert, die deutschen Methoden-Streite als Modellbeispiele intradisziplinärer Kommunikation unter Bedingungen divergierender Paradigmata zu studieren.
Dass ein derartiger Streit 1. frustrierend für alle Beteiligten sein und 2. durch theoretische Mittel unentscheidbar bleiben muss, liegt wohl auf der Hand. Dazu gab es natürlich auch noch Dissens über sachliche Fragen. Leider blieb dieser kaum noch formulierbar, geschweige denn schlichtbar. Dass eine solche babylonische Sprachverwirrung innerhalb derselben Kultur und derselben Wissenschaft möglich sei, erschien vermutlich den meisten im Voraus schwer vorstellbar. Das erscheint mir auch die einzige Erklärung für die sich schnell einstellende Enttäuschung und Frustration durch diesen verwirrenden, aber unübersehbaren Kulturschock. Ist aber nicht „sociological imagination“ (Mills 1963a) insgesamt, zumindest so sie in den Kern der Dinge dringt, ein systematisierter Kulturschock?!
[1]) " Is it appropriate for social scientists whose legitimacy and traditions involve ordering micro-empirical measurements with systematic theory to study broad amorphous topics, such as privacy, deception, authenticity, liberty, autonomy, and justice in an interpretive fashion? Wouldn't it be better to start with just one question, replicate prior research, or test a few propositions using rigorous methods and quantitative data? Is it better to know things of lesser importance with greater certainty or things of greater importance with lesser certainty?" (Marx 2000b)
[2]) „Crisis is a psychological concept; it is a contagious panic." (Lakatos 1970a:178) Demgegenüber sehe ich durchaus produktive Beziehungen zwischen „Krise" und „Kritik".
[3]) „But, for science to be advanced, it is not enough that fruitful ideas be originated or new experiments developed or new problems formulated or new methods instituted. The innovations must be effectively communicated to others. That, after all, is what we mean by a contribution to science - something given to the common fund of knowledge. For the development of science, only work that is effectively perceived and utilized by other scientists, then and there, matters." (Merton 1968a:51)
[4]) Es ist ja nicht so, dass man, wenn man jemanden anhört, oder an eine Lektüre geht, alle Vormeinungen über den Inhalt und alle eigenen Meinungen vergessen müsste. Lediglich Offenheit für die Meinung des anderen oder des Textes wird gefordert. Solche Offenheit aber schließt immer schon ein, dass man die andere Meinung zu dem Ganzen der eigenen Meinungen in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr. Nun sind zwar Meinungen eine bewegliche Vielfalt von Möglichkeiten (im Vergleich zu der Übereinstimmung, die eine Sprache und ein Vokabular darstellen), aber innerhalb dieser Vielfalt des Meinbaren, d. h. dessen, was ein Leser sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich, und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird das Missverstandene am Ende auch der eigenen vielfältigen Sinnerwartung nicht einordnen können. So gibt es auch hier einen Maßstab." (Gadamer 1960a:253)
[5]) Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied Berlin 1969; siehe dazu Dahms (1994a); Frisby (1972a), Frisby (1976a); Popper (1994a:65ff), Keuth (1978a).- "There is no answer to the question of how the book got a title which quite wrongly indicates that the opinions of some 'positivists' are discussed in it." (Popper 1994a:65ff) Diese Debatte ist die historisch bezeichnend überrascht-konfuse Form, in welcher die deutsche akademische Soziologie die sog. "68er Jahre" "bewältigt" hat.
[6]) Dolmetscher sind Eunuchen der Sprache, weil sie nur die Formen, nicht jedoch den Inhalt beherrschen.
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