Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Die Kommunikation der Wissenschaftler

Merton (1968a:51) sah das Zurückbleiben der Sozialwissenschaften - vergleichsweise zu den Na­tur­wissenschaften - verursacht durch eine „balkanization“, weil totale Theorien der So­zi­o­lo­gie von „System­bild­nern“ geschaffen worden seien. Mertons Therapievorschlag, die Orien­tie­rung hin auf middle range theories, ist wohlbekannt und recht ausgiebig diskutiert worden.[1]) Der Wert die­ses Vor­schlags, der als forschungs­poli­ti­sche Orientierungshilfe wohl immer wieder ak­tuell ge­prüft wer­den muss, ist indes durchaus unabhängig davon, ob Mertons Kritik der to­ta­len Sy­steme in allen Punk­ten gerechtfertigt ist. Sie ist es m.E. nicht, weil er den The­o­rienplu­ra­lis­mus in seiner metho­do­logischen Funktion verkennt und den Wert genereller Theorie zu sehr unter­schätzt. Schließlich hat Merton, der doch dieselben „Sy­stem­bildner“ als Klassiker zu­recht hoch ein­schätzt, selbst erkannt, dass in der Kontroverse zwischen allgemeiner und The­o­rie mitt­lerer Reichweite nichts zu gewin­nen ist, wenn man beide Orien­tie­rungsweisen ein­sei­tig, d.h. als sich einander ausschließende Ge­gen­sätze begreift.

Die manifest gewordene Kommunikationslosigkeit, nicht aber der Pluralismus der Para­dig­ma­ta und philosophischen Schulen, bezeugen das Stadium der kritischen Unreife bzw. die viel be­schwo­rene „Krise“ [2]) der Sozialwissenschaften, die alle Jahre wieder durch den sozio­lo­gi­schen Blätter­wald geistert. Die Kumulation im theoretischen Wissen der Sozialwissenschaften wird leicht unterschätzt, denn über das, worüber man einig ist, wird nicht gestritten. So­zi­ologen (zumindest soweit sie in der popperschen Offenen Gesellschaft residieren) werden geradezu prä­miert dafür, dass sie uneinig sind.

Das Projekt Wissenschaft lebt aber von und aus der Kommunikation [3]) der Beteiligten. Eine sol­che Kommunikation setzt jedoch immer schon voraus, dass Aussagen und Stellungnahmen her­meneutisch hinreichend präzise ausgemacht werden, sprich: verstanden werden. Dazu ist aber der Wille Vor­be­din­gung, gegnerische Standpunkte und Argumente überhaupt verstehen [4]) zu wollen.

Sol­ches fällt überaus schwer, wenn in einer Debatte derjenige siegt, der die Gegenseite bzgl. des jeweiligen Publikums rhetorisch und taktisch am geschicktesten missversteht. Je nach dem Urteils­vermögen des­sel­ben wird dabei leicht eine Prämie auf die dümmste Miss­inter­pre­ta­tion aus­gesetzt. So ist die offenbare Fru­stration, die die gesamte sog. „Positivismus-Debatte“ [5]) in der deutschen So­zi­ologie be­gleitet hat, auch mit der Unterschätzung des Sprachproblems und der Bedeutung von Metatheorie für die Inter­pre­ta­ti­on von Theorien und Daten zu er­klä­ren. Dass hier Kommunikation misslingen musste, lag nicht bloß am fehlenden Willen der Be­tei­lig­ten oder deren überzogenem po­litischen Durch­set­zungs­willen. Es lag zum größten Teil auch an der Schwierigkeit des Problems, un­terschiedliche Theo­riesprachen miteinander in Be­zie­hung zu setzen. Nun mag allerdings die Be­vorzugung einer be­stimm­ten Sprache und einer be­stimm­ten Theorie zur Beschreibung der uns al­len gemeinsamen gesell­schaft­li­chen Realität vie­len oft als ein Präjudiz für eine bestimmte ge­sell­schaftspolitische Marschrichtung er­schei­nen. So schien Keuth (1978a) diese Kontroverse als ein zweiter deutscher Werturteilsstreit um die wis­senschaftliche Be­gründ­barkeit von Werturteilen zu gehen. In diese Schablone analy­ti­scher Wis­senschaftstheorie wird damit aber nur stilisiert, was in Wirklichkeit als ein hand­fe­ster Streit um den gesellschaftspolitischen Standort und die Rol­le von So­zialwissenschaft in der gegen­wärti­gen Gesellschaft sich handelt. Der Werturteilsstreit ist das Epi­phänomen eines en­de­mi­schen Grundsatzkonflikts über Wissenschaftsorganisation und insofern ist die Hoff­nung so naiv wie trüge­risch, ihn einfach per Ideologie-Kritik und wissenschaftslogische Ana­ly­se hin­weg­zaubern zu können.

In gewisser Weise glich aber die vermeintliche Diskussion einer deutsch-französischen Kon­fe­renz, die versucht, ohne wechselseitige Sprachkenntnisse, Vorinformationen und Dolmet­scher [6]) zu einer Übereinkunft zu gelangen, die obendrein noch echt machtpolitisch als ein Null­summen­spiel aufgefasst wird. Rein logisch liefe das dann auf die unlösbare Streitfrage hin­aus, ob die deut­sche oder die fran­zö­sische Bezeichnung eines Sachverhalts der gesell­schaft­li­chen Realität adäquater wäre. Die „Positivismus-Debatte“ wäre somit weniger ein Paradig­ma der Kommunikation innerhalb einer Wissenschafts­diszip­lin denn ein exemplarischer Fall für die Erforschung von Fremdspra­chen­lernen und von Bilingualis­mus unter den Bedingun­gen ei­nes weltan­schaulichen Stellungs­krie­ges. Es wäre wohl für die Wissenschaftssoziologie äußerst lohnenswert, die deutschen Methoden-Streite als Modellbeispiele intradiszip­li­närer Kom­muni­kation unter Bedingungen divergierender Pa­radigmata zu studieren.

Dass ein derartiger Streit 1. frustrierend für alle Beteiligten sein und 2. durch theoretische Mit­tel un­ent­scheidbar bleiben muss, liegt wohl auf der Hand. Dazu gab es natürlich auch noch Dis­sens über sachliche Fragen. Leider blieb dieser kaum noch formulierbar, geschweige denn schlicht­bar. Dass eine solche babylonische Sprachverwirrung innerhalb derselben Kultur und der­sel­ben Wis­senschaft mög­lich sei, erschien vermutlich den meisten im Voraus schwer vor­stell­bar. Das er­scheint mir auch die einzige Erklärung für die sich schnell einstellende Ent­täu­schung und Frustra­ti­on durch diesen ver­wir­renden, aber unübersehbaren Kulturschock. Ist aber nicht „sociological ima­gination“ (Mills 1963a) insge­samt, zumindest so sie in den Kern der Din­ge dringt, ein syste­ma­ti­sierter Kulturschock?!



[1]) " Is it appropriate for social scientists whose legitimacy and traditions involve ordering mi­cro-empirical measurements with systematic theory to study broad amorphous topics, such as pri­vacy, deception, authenticity, liberty, autonomy, and justice in an interpretive fashion? Wouldn't it be better to start with just one question, replicate prior research, or test a few propositions using ri­gorous methods and quantitative data? Is it better to know things of lesser importance with grea­ter certainty or things of greater importance with lesser certainty?" (Marx 2000b)

[2]) „Crisis is a psychological concept; it is a contagious panic." (Lakatos 1970a:178) Demge­gen­über sehe ich durch­aus produktive Beziehungen zwischen „Krise" und „Kritik".

[3]) „But, for science to be advanced, it is not enough that fruitful ideas be originated or new ex­pe­riments deve­lo­ped or new problems formulated or new methods instituted. The innovations must be effectively com­municated to others. That, after all, is what we mean by a contribution to science - something given to the common fund of know­ledge. For the development of science, on­ly work that is effectively perceived and utilized by other scientists, then and there, matters." (Mer­ton 1968a:51)

[4]) Es ist ja nicht so, dass man, wenn man jemanden anhört, oder an eine Lektüre geht, alle Vor­meinungen über den Inhalt und alle eigenen Meinungen vergessen müsste. Lediglich Offenheit für die Meinung des anderen oder des Textes wird gefordert. Solche Offenheit aber schließt immer schon ein, dass man die andere Meinung zu dem Gan­zen der eigenen Meinungen in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr. Nun sind zwar Meinungen eine bewegliche Viel­falt von Möglichkeiten (im Vergleich zu der Übereinstimmung, die eine Sprache und ein Vokabular darstellen), aber innerhalb dieser Vielfalt des Meinbaren, d. h. dessen, was ein Leser sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich, und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird das Missverstandene am En­de auch der eigenen vielfältigen Sinnerwartung nicht einordnen kön­nen. So gibt es auch hier einen Maß­stab." (Gadamer 1960a:253)

[5]) Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, Karl R. Popper, Der Po­si­tivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied Berlin 1969; siehe dazu Dahms (1994a); Frisby (1972a), Frisby (1976a); Popper (1994a:65ff), Keuth (1978a).- "There is no answer to the question of how the book got a title which quite wrongly indicates that the opinions of some 'positivists' are discussed in it." (Popper 1994a:65ff) Diese Debatte ist die historisch bezeichnend überrascht-konfu­se Form, in welcher die deutsche akademische Soziologie die sog. "68er Jahre" "be­wältigt" hat.

[6]) Dolmetscher sind Eunuchen der Sprache, weil sie nur die Formen, nicht jedoch den Inhalt beherrschen.

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