Der „Streit der Fakultäten“, auch innerhalb denselben, ist so unvermeidlich und gesetzmäßig wie eine Pflicht (Kant XI:296). Wissenschaft ist wie eine Wohnung, in der wirkliches Leben ist, wenn sie jemals aufgeräumt scheint, so niemals für längere Zeit.[1])
Man soll daher Popper auch erst gar nicht zu kanonisieren [2]) suchen. Nichts ist widersinniger als die Begriffe eines Autoren definieren zu streben, der selber Definitionen verabscheute. Eine Kanonisierung setzt im Allgemeinen voraus, dass ein wissenschaftliches Gebiet erschöpft sei und seinen definitiven Abschluss gefunden habe, so wie ihn Kant auf dem Gebiet der (aristotelischen [3]) Logik erreicht geglaubt und wie er dasselbe in Bezug auf die Philosophie zu leisten erhofft hatte. Wird eine Kanonisierung auf einem Gebiet unternommen, das nicht erschöpft ist oder aufgrund seiner inhaltlichen Problematik nie werden wird (was m.E. sowohl für die Philosophie im Allgemeinen wie die Poppersche im besonderen zutrifft), so kann dieses Kanonisieren nur Scholastifizierung oder weitere Vulgarisierung bedeuten. Der Kritische Rationalismus aber drohte das Schicksal einer dogmatischen Philosophie zu erleiden, die ihre wesentlichsten Probleme bereits als gelöst ansieht. Sie erhält zwar immer mehr Zulauf von Menschen, die in ihr die Lösung ihrer Probleme vorhanden glauben, die nicht aber gekommen sind, um immer wieder neue Fragen zu stellen oder gestellt zu bekommen. Ab einer kritischen Masse solcher Anhänger überwiegt dann der Trend zur Selbstbestätigung und zur geistigen Inzucht. Die Zerfallsprozesse kritischen Bewusstseins werden gesteuert durch um sich greifende Sprachregelungen zur Umgehung prekär gehaltener Probleme. Kanonisierung führt unter solchen Umständen dazu, dass Antworten behauptet werden, von denen kein Mensch mehr zu sagen weiß, zu welchen Fragen sie gegeben wurden. Indikator für eine solche Entwicklung kann dann sein, inwieweit innerhalb der in-group kritische Infragestellung des theoretischen Kerns überhaupt noch toleriert wird.
Kanonisierung unterschlägt auch die historische Entwicklung, die jeder Autor durchmacht. Zu welchen unterschiedlichen Bildern einer Philosophie man dabei kommt, wenn man diese entweder retrograd oder in der historischen Entwicklung betrachtet, macht der Tagungsstreit zwischen Popper (1968a) und Bartley deutlich: Popper betont die Kontinuität seiner Philosophie und sieht überhaupt keinen Widerspruch zwischen seiner Theorie der Demarkation und der Rationalität. Bartley sieht Brüche in der Entwicklung und Problemverschiebungen, die von Popper überkleistert wurden. Da Identität der Philosophie auch ein Problem der persönlichen Identität des Philosophen ist, ist verstehbar, dass dem Philosophen die Unterschiede seiner Entwicklung keineswegs so gravierend vorkommen wie einem Gegenüber. Wer schreibt, der bleibt. Wer schreibt, dessen Änderungen sind dafür aber anderen umso besser feststellbar. Auch Identität [4]) muss ja erst hergestellt, konstruiert werden, will das Individuum als solches weiter existieren, was uns allen heutzutage, wo der Kulturschock mittlerweile Alltagserfahrung darstellt, aus der eigenen Erfahrung bekannt sein dürfte. Wer sich aber berufen fühlt, einen intellektuellen Führungsanspruch auszuüben, erliegt umso schneller einer Neigung zum window-dressing.
Popper hat die aposteriorische Rekonstruktion seiner philosophischen Identität in seiner Autobiografie [5]) niedergelegt, die seitdem zum Springquell aller angeblich „authentischen“ Popper-Darstellung geworden ist. Während Popper seine Kontinuität fast schon im Sinne eines Triumphzugs der Unfehlbarkeit überbetont [6]), ist man geneigt, bei Alberts (1996a) erratischer Wanderung von Heidegger über den Positivismus hin zu Popper ein viel stärkeres Profil nachzuzeichnen, als dieser selbst vielleicht zugeben würde. Wie einstens bei der Kanonisierung von Marx, Engels und Lenin ist man bei solchem Vorgang gewohnt, dass die biografische Entwicklung des philosophischen Individuums unter der Hand zu einer hagiografischen Inkarnation changiert: Er kam auf die Welt, stach schon hervor vor Leuten seines Alters durch seine Weisheit und Tugend und brauchte fortan nur noch seine im Ganzen fertige Lehre zu verkünden [7]). Ob jedoch eine neu hinzugefügte Information als die kritische Masse betrachtet wird, die zu einer Änderung des Gesamten zwingt, hängt immer auch von der Masse des Ausgebreiteten ab.
Fallibilismus bedarf eines Pluralismus von Theorien, um sein kritisches Erkenntnispotential voll entfalten zu können. Denn der Wahrheit nähert man sich nicht durch endgültige Begründungen, sondern durch Auseinandersetzung mit relevanten Alternativen. Diese Alternativen müssen zuerst aufgestellt, d.h. expliziert und rekonstruiert werden, hernach verglichen. Dabei wird die Grundregel von brain storming angewandt: Die Produktion und die Evaluation von Einfällen sind als voneinander getrennte Schritte bzw. Gebiete zu behandeln!
Diese Methodologie eines Pluralismus an Alternativlösungen ist auch bei der Entscheidung für eine Metatheorie bzw. für eine Methodologie durchzuführen. Den wissenschaftlichen Diskurs von vornherein auf die Anerkennung von Fallibilismus, Pluralismus oder sonst wie definierter Wissenschaftlichkeit festlegen zu wollen, liefe auf einen „Monopolpluralismus“, d.h. einer von einer Partei einseitig diktierten Fassung von „Pluralismus“ [8]) hinaus - nach dem Motto: Pluralismus ist, wenn nur Positionen vertreten werden, welche ich für wissenschaftlich vertretbar halte. Solchem widerspräche aber schon der Idee und Aufgabe von Methodologie, eine Verständigung über die Regeln des Diskurses herbeizuführen.
Es wird von Kritischen Rationalisten im Allgemeinen als ihre philosophische Position definierend anerkannt:
Keine wissenschaftliche Aussage kann definitiv bewiesen oder definitiv widerlegt [9]) werden.
Erkenntnisfortschritt ist allein durch kritischen Vergleich mit Alternativen zu erlangen.[10])
Ist der erste Punkt durch die Kritik am Münchhausen-Trilemma der Rechtfertigungs-Strategie begründet, so der zweite durch die Einsicht, dass eine Kritik von Theorien am effektivsten durch andere Theorien vollzogen werden kann.
„This is all that is needed: as soon as we have competing theories, there is plenty of scope for critical, or rational, discussion: we explore the consequences of the theories, and we try, especially, to discover their weak points - that is, consequences which we think may be mistaken. This kind of critical or rational discussion may sometimes lead to a clear defeat of one of the theories; more often it only helps to bring out the weaknesses of both, and thus challenges us to produce some further theory.” (Popper 1973a:35)
Da es eine von jeglicher Theorie prinzipiell unabhängige Beobachtungssprache nicht gibt, stellen also Basisaussagen für eine zu prüfende Theorie immer schon Aussagen dar, die im Lichte derselben Theorie und in deren Sprache formuliert sind. Deswegen sind zu einem strengen Test einer Theorie stets Alternativtheorien notwendig, welche in der Lage sind, ihre eigenen, evtl. zu konkurrierenden Theorien konträre Fakten zu produzieren (Feyerabend 1965a:150). Also ist der Theorienpluralismus eine notwendige Ergänzung des Fallibilismus (Spinner 1971a).
Außerdem kann gerade die Metaphysik, die einem empirischen Theorieansatz mehr oder weniger ausgesprochen zugrunde liegt, zur Kritik dieses Ansatzes eingesetzt werden. [11]) Auch die analytische Philosophie ist zu der Einsicht der Offenheit des philosophischen Entwurfs gelangt, nachdem es sich sowohl für die Logik und die Mathematik wie auch für die Erkenntnistheorie herausgestellt hat, dass grundsätzlich stets verschiedene Möglichkeiten vorhanden sind, dieselbe zu rekonstruieren und wir wohl nie zu definitiven Lösungen aller dieser Fragen gelangen werden (Stegmüller 1974a:XXVI).
Dass Popper jedoch gerade in seiner Essentialismus-Kritik so tut, als ob er über die definitive Logik verfüge, ist eine andere Sache und wird im Anschluss erörtert werden. Es zeigt sich, dass sein Anti-Essentialismus einen proprietären Popper-Essentialismus [12]) zu seiner unübersehbaren, aber nicht eingestandenen Voraussetzung hat. Poppers Methodologie und Sozialphilosophie entpuppen sich dabei als die Inszenierung eines Diskurs, dessen half-hidden agenda auserkoren ist, seine eigentümlichen Glaubensartikel im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit und offene Gesellschaft als universell gültige Essenz von Rationalität und menschlicher Freiheit zu etablieren.
[1]) “Debate, I heard since my childhood, is the symptom of ignorance, and this is why politicians have debates but scientists agree among themselves. I hated this ideas before I could say why; later I came to think that it is the same idea as: clean people do not have to take a bath, only dirty people bathe regularly.” (Agassi 1975a:21)
[2]) "Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartotheksystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der's verfasste, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek." (Benjamin 1955a:42) Heutzutage finden sich Zettelkästen, das sind die Stoffwechselprodukte "ergebener Büchervernichter, einem Nest von Papierbakterien, die eifrig an der Literatur arbeiten" (Dubravka Ugresic), erfreulicherweise im WWW, z. B.: "Beats Biblionetz"
[3]) Die Weiterentwicklung der Aussagenlogik der Stoa durch das Mittelalter wird häufig übersehen; vgl. Dürr (1937a).
[4]) „Der Mensch ist nur als Toter mit sich selbst identisch." (Gandler 1998a)
[5]) Agassi (1993a:174) beklagt, dass Popper allfällige Hinweise auf Änderungen seiner Meinungen in der Regel unterlässt.
[6]) zu nachträglichen, irreführenden sowie schönenden Korrekturen durch Poppers eigene Hand siehe Wettersten (1992a:146)
[7]) Wettersten (1992:197) mutet dermaßen Poppers Selbstdarstellung an.
[8]) Fidel Castro hält der Forderung des Auslands nach mehr Pluralismus entgegen, Kuba habe zu einer eigenen Form von Pluralismus ("pluralismo singular") gefunden. Dieser komme mit einer einzigen Partei aus, weil alle Strömungen und Tendenzen darin Platz gefunden hätten. (FAZ. wha, Havanna 17.11.99.
[9]) "Nun gibt es endgültige Falsifizierbarkeit, wie bereits angedeutet. Trotzdem gibt es, wie ich in der Logik der Forschung nachdrücklich betonte, kaum so etwas wie eine Falsifikation durch Beobachtungen, die als unzweifelhaft (oder endgültig) bezeichnet werden kann." (Popper 1994b: XXIX) „Auch wenn Revisionen von Falsifikationen in der Praxis selten sind, so sind sie vom Standpunkt eines konsequenten Fallibilismus aus immer möglich. Aus diesem Grunde ist die Annahme, dass Falsifikationen endgültig sind, mit einem konsequenten Fallibilismus unvereinbar." (Andersson 1988a:110)
[10]) „... all appraisals of theories are appraisals of the status of their critical discussion.” (Popper 1973a:58)
[11]) Dies hat Albert (1976a:103, Anm.24) betont und selbst am Beispiel hervorragend demonstriert, indem er die Prämissen der Nutzenmetaphysik (Majumdar 1958a ) zur Kritik der Berechnungsmethoden des Sozialprodukts bzw. des Modelldenkens der neoklassischen Ökonomie verwendet.- „Wer also ein Maximum an Kritik in der Wissenschaft will, muss philosophische Theorien in die Wissenschaft einführen und wissenschaftliche Theorien mit philosophischen Ideen möglichst direkt (...) konfrontieren." (Spinner 1969a:331)
[12]) so wie in analoger Weise die westliche Islam-Kritik einen Essentialismus in Form des „Universalismus" der besonderen Kultur des Westens vorauszusetzen pflegt (Sayyid 1998a)
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