Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Theorienpluralismus vs. Monopolpluralismus

„Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich durch Konstruktion und Kritik, wo­bei die Er­fin­dung theoretischer Alternativen und die Erfindung und Her­stel­lung brauchbarer experimenteller Si­tua­tionen - bzw. die Suche nach relevanten Tat­sa­chen - eine wichtige Rolle spielen. Zur Wissenschaftslehre des Kritizismus gehört al­so ein theoretischer Pluralismus, der ausdrücklich die po­si­tive Bedeu­tung von Al­ter­nativen für das Problemlösungsverhalten betont und darüber hin­aus die Mög­lich­keit eines Erkenntnisfortschritts in kontra-intuitiver und in kontra-induktiver Rich­tung be­rücksichtigt.“ (Albert 1972c:199)

Der „Streit der Fakultäten“, auch innerhalb denselben, ist so unvermeidlich und gesetzmäßig wie ei­ne Pflicht (Kant XI:296). Wissenschaft ist wie eine Wohnung, in der wirkliches Leben ist, wenn sie jemals aufgeräumt scheint, so niemals für längere Zeit.[1])

Man soll daher Popper auch erst gar nicht zu kanonisieren [2]) suchen. Nichts ist widersin­ni­ger als die Begriffe eines Autoren definieren zu streben, der selber Definitionen verabscheute. Ei­ne Kanonisie­rung setzt im Allgemeinen voraus, dass ein wissenschaftliches Gebiet erschöpft sei und seinen de­finitiven Abschluss gefunden habe, so wie ihn Kant auf dem Gebiet der (ari­sto­telischen [3]) Lo­gik erreicht geglaubt und wie er dasselbe in Bezug auf die Philosophie zu lei­sten erhofft hat­te. Wird eine Kanonisierung auf einem Gebiet unternommen, das nicht er­schöpft ist oder auf­grund seiner inhalt­lichen Problematik nie werden wird (was m.E. sowohl für die Philosophie im All­ge­mei­nen wie die Poppersche im besonderen zutrifft), so kann dieses Ka­nonisieren nur Scholasti­fi­zie­rung oder weitere Vulgarisierung bedeuten. Der Kritische Rati­o­nalismus aber drohte das Schick­sal einer dogmatischen Philosophie zu erleiden, die ihre we­sent­lichsten Pro­bleme be­reits als gelöst ansieht. Sie erhält zwar immer mehr Zulauf von Men­schen, die in ihr die Lö­sung ihrer Probleme vorhanden glauben, die nicht aber gekommen sind, um immer wie­der neue Fragen zu stellen oder gestellt zu bekommen. Ab einer kritischen Masse sol­cher An­hän­ger überwiegt dann der Trend zur Selbstbestätigung und zur geistigen Inzucht. Die Zer­falls­pro­zesse kritischen Bewusstseins werden gesteuert durch um sich greifende Sprach­re­ge­lun­gen zur Umgehung prekär gehaltener Probleme. Kanonisierung führt unter sol­chen Um­stän­den da­zu, dass Antworten behauptet werden, von de­nen kein Mensch mehr zu sa­gen weiß, zu wel­chen Fragen sie gegeben wurden. Indikator für eine solche Entwicklung kann dann sein, in­wie­weit innerhalb der in-group kritische Infragestellung des theoretischen Kerns über­haupt noch toleriert wird.

Kanonisierung unterschlägt auch die historische Entwicklung, die jeder Autor durchmacht. Zu wel­chen unterschiedlichen Bildern einer Philosophie man dabei kommt, wenn man diese ent­we­der retrograd oder in der historischen Entwicklung betrachtet, macht der Tagungsstreit zwi­schen Pop­per (1968a) und Bartley deutlich: Popper betont die Kontinuität seiner Philo­so­phie und sieht überhaupt keinen Widerspruch zwischen seiner Theorie der Demarkation und der Ra­ti­onalität. Bart­ley sieht Brüche in der Entwicklung und Problemverschiebungen, die von Pop­per überkleistert wurden. Da Identität der Philosophie auch ein Problem der persönlichen Iden­ti­tät des Philosophen ist, ist verstehbar, dass dem Philosophen die Unterschiede seiner Ent­wick­lung keineswegs so gra­vie­rend vorkommen wie einem Gegenüber. Wer schreibt, der bleibt. Wer schreibt, dessen Ände­run­gen sind dafür aber anderen umso besser feststellbar. Auch Iden­ti­tät [4]) muss ja erst hergestellt, konstruiert werden, will das Individuum als solches wei­ter exi­stie­ren, was uns allen heutzutage, wo der Kultur­schock mittlerweile All­tags­er­fahrung darstellt, aus der eigenen Erfahrung bekannt sein dürfte. Wer sich aber berufen fühlt, ei­nen in­tel­lek­tuel­len Führungsanspruch auszuüben, erliegt umso schneller einer Neigung zum window-dressing.

Popper hat die aposteriorische Rekonstruktion seiner philosophischen Identität in seiner Au­to­bi­o­grafie [5]) niedergelegt, die seitdem zum Springquell aller angeblich „authentischen“ Pop­per-Dar­stel­lung geworden ist. Während Popper seine Kontinuität fast schon im Sinne eines Tri­umph­zugs der Unfehlbarkeit überbetont [6]), ist man geneigt, bei Alberts (1996a) erratischer Wan­derung von Hei­deg­ger über den Positivismus hin zu Popper ein viel stärkeres Profil nach­zu­zeichnen, als die­ser selbst vielleicht zugeben würde. Wie einstens bei der Kanoni­sie­rung von Marx, Engels und Lenin ist man bei solchem Vorgang gewohnt, dass die bio­gra­fi­sche Entwick­lung des phi­lo­so­phischen In­di­viduums unter der Hand zu einer hagiografischen In­karnation chan­giert: Er kam auf die Welt, stach schon hervor vor Leuten seines Alters durch seine Weis­heit und Tu­gend und brauchte fortan nur noch seine im Ganzen fertige Lehre zu ver­künden [7]). Ob jedoch eine neu hin­zu­gefügte Information als die kritische Masse be­trachtet wird, die zu ei­ner Än­derung des Ge­samten zwingt, hängt im­mer auch von der Masse des Ausgebreiteten ab.

Fal­libilismus bedarf eines Pluralismus von Theorien, um sein kritisches Erkenntnispo­ten­ti­al voll entfalten zu können. Denn der Wahrheit nähert man sich nicht durch endgültige Be­grün­dun­gen, sondern durch Auseinandersetzung mit relevanten Alternativen. Diese Alter­na­tiven müs­sen zuerst aufgestellt, d.h. expliziert und rekonstruiert werden, hernach vergli­chen. Dabei wird die Grundregel von brain storming angewandt: Die Produktion und die Eva­lu­ation von Einfällen sind als voneinander getrennte Schritte bzw. Gebiete zu behandeln!

Diese Methodologie eines Pluralismus an Alternativlösungen ist auch bei der Entscheidung für eine Metatheorie bzw. für eine Methodologie durchzuführen. Den wissenschaftlichen Dis­kurs von vornherein auf die Anerkennung von Fallibilismus, Pluralismus oder sonst wie defi­nierter Wissen­schaftlichkeit festlegen zu wollen, liefe auf einen „Monopolpluralismus“, d.h. einer von einer Partei einseitig diktierten Fassung von „Pluralismus“ [8]) hinaus - nach dem Motto: Pluralismus ist, wenn nur Positionen vertreten werden, welche ich für wissenschaftlich vertretbar halte. Solchem wider­spräche aber schon der Idee und Aufgabe von Me­thodologie, eine Verständigung über die Regeln des Diskurses herbeizuführen.

Es wird von Kritischen Rationalisten im Allgemeinen als ihre philosophische Position de­finierend anerkannt:

Keine wissenschaftliche Aussage kann definitiv bewiesen oder definitiv wider­legt [9]) werden.

Erkenntnisfortschritt ist allein durch kritischen Vergleich mit Alternativen zu er­lan­gen.[10])

Ist der erste Punkt durch die Kritik am Münchhausen-Trilemma der Rechtfertigungs-Strategie be­grün­det, so der zweite durch die Einsicht, dass eine Kritik von Theorien am effektivsten durch andere Theorien vollzogen werden kann.

„This is all that is needed: as soon as we have competing theories, there is plen­ty of scope for critical, or rational, discussion: we explore the consequences of the the­ories, and we try, especially, to discover their weak points - that is, con­se­quen­ces which we think may be mistaken. This kind of critical or ratio­nal dis­cussion may sometimes lead to a clear defeat of one of the theories; more often it only helps to bring out the weaknesses of both, and thus challenges us to pro­du­ce some further theory.” (Popper 1973a:35)

Da es eine von jeglicher Theorie prinzipiell unabhängige Beobachtungssprache nicht gibt, stel­len also Basisaussagen für eine zu prüfende Theorie immer schon Aussagen dar, die im Lich­te der­sel­ben The­o­rie und in deren Sprache formuliert sind. Deswegen sind zu einem stren­gen Test einer Theo­rie stets Alternativtheorien notwendig, welche in der Lage sind, ihre ei­ge­nen, evtl. zu konkur­rie­renden The­orien konträre Fakten zu produzieren (Feyerabend 1965a:150). Also ist der Theori­en­pluralismus eine notwendige Ergänzung des Fallibilismus (Spinner 1971a).

Außerdem kann gerade die Metaphysik, die einem empirischen Theorieansatz mehr oder we­ni­ger ausgesprochen zugrunde liegt, zur Kritik dieses Ansatzes eingesetzt werden. [11]) Auch die analytische Philosophie ist zu der Einsicht der Offenheit des philosophischen Ent­wurfs ge­langt, nachdem es sich sowohl für die Logik und die Mathematik wie auch für die Er­kennt­nis­the­o­rie her­ausgestellt hat, dass grundsätzlich stets verschiedene Möglichkeiten vor­han­den sind, die­sel­be zu rekonstruieren und wir wohl nie zu definitiven Lösungen aller dieser Fra­gen gelangen wer­den (Steg­mül­ler 1974a:XXVI).

Dass Popper jedoch gerade in seiner Essentialismus-Kritik so tut, als ob er über die definitive Lo­gik verfüge, ist eine andere Sache und wird im Anschluss erörtert werden. Es zeigt sich, dass sein Anti-Es­sentialismus einen proprietären Popper-Essentialismus [12]) zu seiner un­über­seh­ba­ren, aber nicht eingestandenen Voraussetzung hat. Poppers Methodologie und So­zial­philoso­phie entpuppen sich dabei als die Inszenierung ei­nes Diskurs, dessen half-hidden agenda aus­er­koren ist, seine ei­gen­tüm­li­chen Glaubensartikel im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit und of­fene Gesellschaft als uni­versell gültige Essenz von Rationalität und menschlicher Freiheit zu eta­b­lieren.



[1]) “Debate, I heard since my childhood, is the symptom of ignorance, and this is why politi­ci­ans have de­ba­tes but scientists agree among themselves. I hated this ideas before I could say why; later I came to think that it is the same idea as: clean people do not have to take a bath, only dirty people bathe re­gular­ly.” (Agassi 1975a:21)

[2]) "Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Ver­mitt­lung zwischen zwei verschiedenen Kartotheksystemen. Denn alles Wesentli­che findet sich im Zettelkasten des Forschers, der's verfasste, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek." (Ben­ja­min 1955a:42) Heutzutage finden sich Zettelkästen, das sind die Stoffwechselprodukte "ergebener Büchervernichter, einem Nest von Papierbakterien, die eifrig an der Literatur arbeiten" (Dubravka Ugresic), erfreulicherweise im WWW, z. B.: "Beats Bi­blionetz" . - "This means for CRIS, that it will be no longer a database con­cept, but a search engine coupled with WWW presentation." Wolfgang Adamczak, The future of CRIS: a "LINK" system . Current Research In­formation Systems in Europe: The Way to Innovation 12th - 14th of March 1998 in Luxem­bourg

[3]) Die Weiterentwicklung der Aussagenlogik der Stoa durch das Mittelalter wird häufig über­sehen; vgl. Dürr (1937a).

[4]) „Der Mensch ist nur als Toter mit sich selbst identisch." (Gandler 1998a)

[5]) Agassi (1993a:174) beklagt, dass Popper allfällige Hinweise auf Änderungen seiner Mei­nun­gen in der Regel unterlässt.

[6]) zu nachträglichen, irreführenden sowie schönenden Korrekturen durch Poppers eigene Hand siehe Wettersten (1992a:146)

[7]) Wettersten (1992:197) mutet dermaßen Pop­pers Selbstdarstellung an.

[8]) Fidel Castro hält der Forderung des Auslands nach mehr Pluralismus entgegen, Kuba habe zu einer ei­ge­nen Form von Pluralismus ("pluralismo singular") gefunden. Dieser komme mit einer ein­zigen Partei aus, weil alle Strömungen und Tendenzen darin Platz gefunden hätten. (FAZ. wha, Havanna 17.11.99.

[9]) "Nun gibt es endgültige Falsifizierbarkeit, wie bereits angedeutet. Trotzdem gibt es, wie ich in der Logik der Forschung nachdrücklich betonte, kaum so etwas wie eine Falsifikation durch Be­ob­achtungen, die als un­zwei­fel­haft (oder endgültig) bezeichnet werden kann." (Popper 1994b: XXIX) „Auch wenn Revisionen von Falsifikationen in der Praxis selten sind, so sind sie vom Stand­punkt ei­nes kon­se­quenten Fallibilismus aus immer möglich. Aus diesem Grun­de ist die An­nahme, dass Fal­sifikationen endgültig sind, mit einem konse­quen­ten Fallibilismus unvereinbar." (Andersson 1988a:110)

[10]) „... all appraisals of theories are appraisals of the status of their critical discus­si­on.” (Popper 1973a:58)

[11]) Dies hat Al­bert (1976a:103, Anm.24) betont und selbst am Beispiel hervorragend demon­striert, indem er die Prä­missen der Nutzenmetaphysik (Majumdar 1958a ) zur Kritik der Berech­nungs­methoden des So­zialpro­dukts bzw. des Modelldenkens der neoklassischen Ökonomie ver­wen­det.- „Wer also ein Maximum an Kritik in der Wissenschaft will, muss philosophische The­o­rien in die Wissenschaft einführen und wissenschaftliche Theorien mit philosophi­schen Ideen mög­lichst direkt (...) kon­frontieren." (Spinner 1969a:331)

[12]) so wie in analoger Weise die westliche Islam-Kritik einen Essentialismus in Form des „Uni­versalismus" der besonderen Kultur des Westens vorauszusetzen pflegt (Sayyid 1998a)

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