Mitnichten kann man behaupten, dass dem theoretischen Erbe unserer Geistesgeschichte im erforderlichen Ausmaß die entsprechende Rezeption widerfahren wäre.
“I found a great deal that neither its followers nor its opponents had prepared me to expect.” (Robinson 1966a:vi)
Dies vermeldete Robinson nach ihrer ersten Lektüre des „Kapital“. Die sog. „Klassiker“ (Alexander 1987a) sind oft unbekannt oder werden nur in verzerrter Gestalt wahrgenommen. Ihre ursprünglichen Problemstellungen werden ignoriert, ihre Lösungsversuche scholastifiziert sowie durch Vulgarisierung trivialisiert. Meist ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten main-stream-Vertreter selbst die Richtungen überhaupt nicht genügend kennen, gegen deren angebliche Musealität sie die selbstentlastende und anscheinend auch identitätstiftende Routine erworben haben zu polemisieren.
„Wer glaubt, die Wissenschaften unter dem Blickwinkel ständigen Fortschritts betrachten zu dürfen, für den ist freilich das Ältere zugleich das Überholte.“ (Joas 1998a:269)
Vermutlich liegt diesem Widerstreit zwischen Modernismus vs. Antiquarianertum auch ein Generationskonflikt [1]) zwischen Alterskohorten von Wissenschaftlern zugrunde.
Nach Coleman ist die bislang universitär betriebene social theory überholt [2]), wenn es um anstehende Fragen der Gesellschaft, d.h. um aktuelle Gegenwartsanalyse geht. Wichtiger denn wurzelhafte Klassiker sei eine robuste Theorie, welche die Probleme der aktuellen Gesellschaften und ihren Wandel in Angriff nehme.
“In the times of rapid change, learners inherit the Earth, while the learned find themselves beautifully equipped to deal with a world that no longer exists.” (Eric Hoffer)
Das wirkliche Problem ist wohl aber nicht so sehr, dass Soziologie und Ökonomie sich zu sehr mit ihren Klassikern beschäftigen, sondern dass sie es nicht verstehen, eine solche Wechselwirkung zwischen Theorie und Empirie herzustellen, dass letztendlich sowohl ein aktueller Sinnbezug wie auch eine Rückmeldung zwischen Theorie und Praxis fehlt. Wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, wird immer wieder von vermeintlichen Neuerern alter Wein in neue Schläuche gefüllt.
Was denn aber ist „klassisch“?
„Klassisch ist, was sich bewahrt, weil es sich selbst bedeutet und sich selber deutet; was also derart sagend ist, dass es nicht eine Aussage über ein Verschollenes ist, ein bloßes, selbst noch zu deutendes Zeugnis von etwas, sondern das der jeweiligen Gegenwart etwas so sagt, als sei es eigens ihr gesagt.“ (Gadamer 1960a:274)
Zu den wechselnden Problembezügen der Gegenwart geben die Klassiker immer wieder neue Antworten, eben weil unser Problembewusstsein sich wandelt und damit auch unsere Fragen, die wir an die Klassiker richten.[3]) Die Unendlichkeit des Interpretationsreichtums eines Textes wurde von Engels im Falle der Bibel geleugnet [4]). Wann kann man aber jemals sagen können: Die Debatte ist beendet, rien ne va plus?! Die Interpretation der Bibel wird nicht durch das Spektrum der kirchlichen Deutungen ausgeschöpft (Streminger 1999a; vgl. dazu aktuell Ratibor). Dass das Heilige Buch keine Veränderung mehr dulde und für immer abgeschlossen sei (Kant XI:287), ist bestenfalls eine notwendige Fiktion der Eigenwerbung dieser schriftlichen Autorität. Denn wann wird jemals der Spielraum aller möglichen Argumente und Deutungen erschöpft sein? Im Grunde nie - nur praktisch sind wir fallweise gezwungen, einen Schnitt zu wagen und eine Entscheidung zu fällen, das gegebene Besondere so zu werten, als ob es streng genommen Alles wäre.
Genauso wenig haben sich die hegelsche oder marxsche Theorien durch bestimmte zeitgeschichtliche Ereignisse oder Institutionen „endlich in ihrem wahren Gesicht gezeigt“. Wenn Poppers Essentialismus-Kritik Wert haben soll, dann gegen dergleichen Kurzschlüsse von geschichtlichen Erfahrungen auf das angeblich „wahre Wesen“ einer bestimmten Idee, das als die ursprüngliche Quelle geschichtlicher Emanationen fungiere. Das hat allerdings auch Konsequezen für Poppers "Sieg", etwa über Marx: Genau genommen ist er (so er denn als stichhaltig nachgewiesen wird) ein Sieg über Poppermarx, d.h. über Poppers eigentümliche Rekonstruktion der marxschen Theorie bzw. Argumentation. Eine logisch strikte Widerlegung der Klasse aller unendlich vielen Rekonstruktionsmöglichkeiten einer Theorie insgesamt ist schon darum ausgeschlossen, weil sich diese Klasse formallogisch nicht genau definieren lässt.
„In fact, understanding a theory is something like an infinite task, so that we may well say that a theory is never fully understood, even though some people may understand some theories extremely well.” (Popper 1973a:299)
Diese Überfülle interpretativen Reichtums hat sicherlich auch mit der Offenheit an Sinnbezügen zu tun, womit sich klassische Texte stets in bestimmte Problemtraditionen und Diskurszusammenhänge einfügen.
„A great classic often has many different aspects that permits many different and mutually inconsistent interpretations by later scholars.” (Negishi 1985a:11)
Wissenschaftsgeschichtlich wie methodologisch hoch interessant sind daher die verschiedenen Weisen problemrelevanter Textverweise und Bezüge, wie sie Fox (1995a)vor allem mit dem Konzept „intertextuality“ zu analysieren sucht. Engels übersieht hierbei ganz einfach, dass Interpretation prinzipiell kein abgeschlossenes bzw. abschließbares System darstellt, sondern eine infinite Reihe von Relationen zwischen Textobjekt, interpretierendem Subjekt und dessen sich wandelnden Situationen, wobei aus letzteren sich insbesondere die unterschiedlichen Fragen an einen Text ergeben. Ja, unter dem Gesichtspunkt der Relativität von Text und geschichtlichem Zeitpunkt der Rezeption und dem unabänderlichen Ablauf historischen Wandels erscheint selbst schon das Festhalten an einer bestimmten Lesart als eine unautorisierte Neuinterpretation. Wie Nichthandeln dennoch ein Handeln ist, so ist ein Nichtinterpretieren dennoch ein Interpretieren.
Schlimm ist es allerdings um eine „methodologische“ Einführung bestellt, deren Maxime allen Ernstes zu sein scheint: Man könne Hegel und Marx nicht verstehen, sondern nur zitieren [5]). Auf diese Weise wird Ignoranz zur Methode gemacht, womit „geisteswissenschaftliche Methode“ ihren schlechten Ruf redlich verdient. Wenn man meint, das Verständnis von Dialektik ausschließlich auf den überlieferten Text bestimmter Autoren beziehen zu müssen, so stellt das nicht bloß ein Eingeständnis der Hilflosigkeit vor einer sich vorgeblich verweigernder hermeneutischen Problematik dar, sondern entdeckt sich als ein exegetischer Obskurantismus, der nur noch auf die fehlende Offenbarung wartet. Die Schuld trägt freilich hier nicht das Interpretandum, sondern die Interpreten, die sich zu einem solchen Modell von Exegese verstehen! Die dogmatische Verwendungsweise des Textes ist hier wie nur selten eindeutig dem Interpreten bzw. seiner Weise, den Text als Autorität zu verwenden, zuzuschreiben.
Letztlich hat eine Interpretation, so nützliche und sogar notwendige Vorstufe sie auch in jedem Falle ist, doch nur eine dienende Funktion. Letztes Ziel kann niemals sein, mit letzter Gewissheit festzustellen, was Marx oder Popper wirklich gemeint haben, sondern inwiefern wir ihre zur sinnvollen Verwendung entsprechend brauchbar interpretierten Ideen zu unseren eigenen Zwecken der Erklärung etc. einsetzen können:
„What is important is not whether a particular interpretation of a past theory is correct, but whether it is useful in developing a new theory in the present.” (Negishi 1985a:2)
Die Irrationalität moderner Ansätze dialektischen Denkens besteht aber darin, dass die Modernen ihre eigene Problemgeschichte nicht mehr kennen. Der Gipfelpunkt der geistesgeschichtlichen Ironie ist dann darin markiert, wenn diese die Karikatur von Dialektik, wie sie ihre Gegner von ihr gezeichnet haben, als bare Münze nehmen und zur Konstruktion ihrer eigenen Identität verwenden (wie wenn einer Poppers Essentialismus-Kritik als Anleitung zur Konstruktion einer essentialistischen Philosophie verwenden würde oder den katholischen Katechismus mit umgekehrten Vorzeichen als Handbuch zur sexuellen Revolution - bloßes Negieren erspart nicht die Erfindung einer neuen Ordnung, das hat in mühseliger Weise schon der junghegelianische Diskurs herausgefunden).
Eine historistische Einstellung zur Geistesgeschichte kann indessen nur zur „Vergreisung der geisteswissenschaftlichen Arbeit“ führen:
„Der Historismus besteht in der resignativ ‘aufgeklärten Einsicht’, dass Sammeln und Sortieren des geisteswissenschaftlichen Materials der eigentlich angemessene Umgang mit Gedanken sei.“ (Heinrichs 1986a:4)
Historismus, aufgefasst als das Anlegen von „Daten-Friedhöfen“, Museen von Fakten und Gebeinhäusern von Theorieversatzstücken, hat schon Marx an der historischen Schule [6]) der Nationalökonomie gegeißelt, die ihm lediglich eine besondere species von Vulgärökonomie war. Vielleicht stellt es es auch eine der Besonderheiten der Sozialwissenschaften dar, dass Klassiker hierinnen eine spezifische Funktion erfüllen: „the present uses of past theory in sociology“ [7]). Diese Parteinahme für die Klassiker scheint jedoch in eklatantem Widerspruch zu stehen zu seiner Kritik der soziologischen „Systembildner“. Denn gerade die vielseitige Befragbarkeit der Klassiker setzt ein entsprechend hohes Niveau der theoretischen Systembildung bei den Klassikern voraus.
Vielleicht ist auch Poppers Sozialphilosophie als ein "Klassiker" einzustufen (Döring 1996a; Keuth 1998b). Von Popper-Nachschwätzern wird Popper natürlich zum "größten Philosophen des Jahrhunderts" hochgejubelt. Wer keine Alternativen kennt, dem mangelt es schließlich auch an einem Maßstab. Wer der größte Philosoph unseres Jahrhunderts sei, darüber sollten wir also lieber in hundert Jahren sprechen, da wir laut Popper heute nicht wissen können, was wir morgen wissen werden. Was einmal unvergangen sein wird, können nur die Nachfahren befinden. Einstweilen halten wir uns an Toulmins Wort:
„Ja, je deutlicher man sich der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Ideen und den Verhältnissen, unter denen sie auftreten, bewusst ist, desto unentbehrlicher werden bestimmte Unterscheidungen, zum Beispiel die zwischen der inneren Autorität von Ideen und der Lehrmeister-Autorität von Büchern, Menschen und Institutionen, oder die zwischen der methodischen Anerkennung von Ideen, deren Vorzüge erwiesen sind, und der dogmatischen Anerkennung von Ideen, deren Vorzüge nicht erwiesen sind." (Toulmin 1978a:142)
Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Popper (1992a, b) ist als ein authentischer Ausdruck des Zeitgeistes [8]) zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu betrachten, so wie James Bond, ein später Nachfahre Churchills, eine geschichtliche Gestalt ist für die politische Atmosphäre der Ära des Kalten Krieges. Dass Poppers politische Philosophie in Deutschland nach der „Tendenzwende“ unerwartet erstmalig parteipolitisch aktuell werden konnte, obgleich sie nach 1945 nicht mehr fort entwickelt worden war, lässt sich als eine Rückentwicklung des öffentlichen Problembewusstseins auffassen:
„... zwar nicht der wirkliche Stand der Problemgeschichte, aber immerhin das aktuelle, im gerade vorherrschenden ‘Geist der Zeit’ gehaltene und so merklich reduzierte Bewusstsein davon und die poppersche Sozialphilosophie sind wieder voll ‘in Phase’.“ (Spinner 1978a:35)
[1]) „When scientists themselves do not understand this reiterative pattern of age-related foci of attention, they are ready to pass invidious judgments upon the behavior of those in „the other" age stratum. Older scientists then describe younger ones as parochial if not downright barbarian in outlook, little-concerned to read and ponder the classical work of some years back and even less concerned to learn about the historical evolution of their field (the judges forgetting all the while that the new youth in science are only reproducing the attitudes and behavior they had exhibited in their own youth). In turn, younger scientists deride the orientation of older ones to the past as mere antiquarianism, as a sign that they are unable to 'keep up' and so are condemned to repeat the obsolete if not downright archaic stuff they learned long ago (the judges being all the while unable to anticipate their own future behavior that they will then likely perceive as providing needed lines of continuity in scientific development)." (Merton 1973a:558)
[2]) "’Sozialtheorie’, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, besteht zum größten Teil aus der Geschichte sozialwissenschaftlicher Ideen. Ein böswilliger Kritiker würde die gegenwärtige Praxis in der Sozialtheorie so beschreiben, dass man alte Weisheiten wiederkäut und Theoretiker des neunzehnten Jahrhunderts beschwört. Die Gesellschaften haben jedoch in der Zwischenzeit eine Revolution ihrer Organisation erlebt." (Coleman 1991a:vi)
[3]) "In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Überlieferung. Ihr Studium ist gerade deshalb lohnend, weil sie immer noch etwas anderes her geben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat." (Gadamer 1960a:474)
[4]) „Das Christentum ist bald zweitausend Jahre alt und hat Zeit genug gehabt, zu sich selbst zu kommen. Der Inhalt desselben ist in der Kirche ausgesprochen, und es ist unmöglich, dass außer diesem noch verborgener positiver Gehalt von Bedeutung darin stecke, oder gar erst jetzt der wahre Sinn verstanden wäre." (Engels 1973a:211)
[5]) „Wie aktuell Fragen der philologisch-historischen Methode gerade auch angesichts der Diskussion innerhalb des und mit dem Marxismus sein können, zeigt schon die Tatsache, dass der Marxismus - mehr als alle anderen bedeutsamen Bewegungen der Geschichte, das Christentum und ähnliche Religionen ausgenommen - auf den ‘kanonischen’ Schriften bestimmter ‘Klassiker’ - Marx, Engels, Lenin und nunmehr auch Mao - fußt, deren ‘Exegese’ sich eben der Mittel bedienen muss und bedient, die von einer ‘bürgerlichen’ Geisteswissenschaft längst entwickelt worden sind -..." - „Es macht die Eigenart - und gleichzeitig Fragwürdigkeit - dieser Methode aus, dass sie an die Schriften bestimmter Autoren, nämlich Hegels und Marx/Engels’, gebunden ist und daher nur anhand dieser Schriften dargestellt werden kann." (Seiffert 1975b:7f)
[6]) „Die letzte Form ist die Professoralform, die ‘historisch’ zu Werke geht und mit weiser Mäßigung überall das ‘Beste’ zusammensucht, wobei es auf Widersprüche nicht ankommt, sondern auf Vollständigkeit. Es ist die Entgeistung aller Systeme, denen überall die Pointe abgebrochen wird, und die sich friedlich im Kollektaneenheft zusammenfinden. Die Hitze der Apologetik wird hier gemäßigt durch die Gelehrsamkeit, die wohlwollend auf die Übertreibungen der ökonomischen Denker herabsieht und sie nur als Kuriosa in ihrem mittelmäßigen Brei herumschwimmen lässt." (MEW 26.3:492)
[7]) „... acquaintance and reacquaintaince with the classics have a variety of functions. These range from the direct pleasure of coming upon an aesthetically pleasing and more cogent version of one’s own ideas, through the satisfaction of independent confirmation of these ideas by a powerful mind, and the educative function of developing high standards for sociological work to the interactive effect of developing new ideas by turning to older writings within the context of contemporary knowledge." (Merton 1968a:35)
[8] ) Hölderlin (3:10):
„Zu lang schon waltest über dem Haupte mir
Du in der dunkeln Wolke, Du Gott der Zeit!
Zu wild, zu bang ist’s ringsum, und es
Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke.“
"For the historicist, the 'Spirit of the Age' is an entity that explains largely, or at least partly, the actions and the sayings of the men living in that age. This approach seems to me quite mistaken. But this does not mean that there is no problem here. The spirit of the age must be demoted from an explanation to a social phenomenon that we have to explain. It is to be explained by the existence of overriding problems and problem situations, and by the interaction of individuals and their plans and aims - that is to say, in terms of situational logic." (Popper 1994a:132)
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