Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Wie entscheidet man vernünftig?

"Es lässt sich kein Problem ohne die Beachtung seiner Werte und ihrer offen­sicht­li­chen Be­dro­hung richtig an­packen. Beides sind wesentliche Aspekte des Pro­blems selber." (Mills 1963a:178)

Ebenso wie Mills tritt auch Albert (1972c:119) sowohl für eine technologische als auch für eine kritisch aufklärerische Funktion von Sozialwissenschaft ein. Ra­tio­nal kann eine Aussage aber nur sein, wenn sie von einem anderen, der gegenteilige Wert­posi­ti­o­nen ver­tritt [1]), dennoch ebenfalls akzeptiert werden muss, das heißt: wenn jeder rationale Mensch aufgrund des vom je­wei­ligen Au­tor explizit vor­gegebenen Wert­stand­punkts zu denselben Entscheidungen lo­gisch zwin­gend kom­men muss. Das ist schließlich auch die fundamentale Funk­tion des Wert­frei­heits-Po­stulats [2]), nämlich ei­ne wissenschaftliche Kom­munikation trotz diver­gie­renden Wert­hal­tungen zu er­mög­lichen.

Aller­dings insistiert Albert (1976a:170ff), normative Aussagen seien nicht notwen­dig, um eine em­pirische Wissenschaft praktisch anwenden zu können [3]). Auch methodologische Re­geln, ob­wohl in ihrem Charakter und in ihrer pragmatischen Funktion wirklich normativ, brau­ch­en und sollten da­her auch nicht normativ formuliert werden. Offenbar steht hinter die­ser seiner Posi­tion die Auf­fas­sung, dass sich die Überprüfbarkeit von Normen und Wertungen le­dig­lich auf ihren sach­li­chen Ge­halt erstreckten, so dass es vorzuziehen sei, genau diesen bei de­ren For­mulie­rung in den Vor­der­grund zu stellen.

Darin zeigen sich aber bei Albert selbst Rudimente des posi­ti­visti­schen An­sat­zes der Ideologie-Kritik von Geiger und Myrdal (1932a), die gerade in der "Kryp­to-Norma­ti­vi­tät“ den ideologi­schen Charak­ter ökonomischer Lehren festzumachen suchten. Gei­gers (1953a) radi­ka­le Interpretation von Wert­ur­tei­len als falsche Aus­sagen geht zurück auf eine plato­nistische Deu­tung von Wert­ur­tei­len, ver­bun­den mit einer anti-plato­ni­stischen Frontstel­lung (Al­bert 1972c:134, Anm.18).

So wird am Wesens-Begriff von Nominalisten heftig kritisiert, dass er spielend den Übergang zur Wertung erlaube (Albert 1967d:247). Beispielsweise etwa voll­führt Popper am Begriff "Wis­senschaft" spielend den Übergang zwi­schen historischen Tatsachen­be­hauptungen und normativen "Vorschlägen". Man vergleiche Hegel:

„Die Kritik, in welchem Teil der Kunst oder Wissenschaft sie ausgeübt werde, for­dert einen Maßstab, der von dem Beurteilenden ebenso unabhängig als von dem Be­urteilten, nicht von der ein­zelnen Erscheinung noch der Besonderheit des Sub­jekts, sondern von dem ewigen und unwandelba­ren Urbild der Sache selbst her­genommen sei.“ (Hegel, Aufsätze:2)

Albert (1976a:127) räumt indessen letzt­lich ein, dass Dingfestmachen eines krypto-normativen Charakters keineswegs hin­rei­che, um eine Theorie für den wissenschaftlichen Wettbewerb zu dis­qualifizieren. Wir können näm­lich logisch immer vom normativen Charakter absehen, wenn wir nur wollen. Da die normative Funktion einer bestimm­ten Formulierung sogar vom Kontext ab­hängen kann (Albert 1972c:141), ist sogar unver­meid­lich, eine entspre­chen­de Bedeutungs-Di­a­ly­se vorzunehmen, wenn man sach­liche und normative Aus­sa­ge auseinanderhalten will. Ent­schei­dend ist dann aber wohl, was an des­kriptiv-nomologischen Gehalt vom Patienten übrig­bleibt, nach­dem wir diese Operation vor­ge­nommen haben. Da ein Wert­ur­teil nicht nur der Sache nach, son­dern auch von seiner wertenden Form bzw. ihrer Wert­struktur nach kritisch geprüft wer­den kann, ergibt sich daraus m.E. keine be­gründbare Präferenz weder für eine deskriptive noch für ei­ne wertneutralisierende Aus­drucks­weise.

„Die Eigenart der präskriptiven Sprache besteht aber gerade darin dass die prag­ma­tische Kom­ponente in der Vordergrund gerückt wird. Die normierende Funk­ti­on, die beabsichtigte Wirkung auf die Motivation des Verhaltens, kommt sozu­sa­gen schon in der Grammatik zum Ausdruck.“ (Albert 1976a:168)

Wenn aber eine Kritik am meisten durch eine transparente Darstellung gefördert wird, ist es vor­zuziehen, dass normative und wertende Urteile diesen ihren Charakter schon in ihrer lo­gi­schen Grammatik zum Ausdruck bringen, d.h. dass diese als normative Aussagen, Regeln, Im­pe­ra­ti­ve etc. formuliert werden und damit unter ihrer wahren logischen Flagge segeln. Die Sach­lich­keit der Kritik muss unter dieser Darstellungsform überhaupt nicht leiden. Es stellt ein unbe­gründetes Präjudiz dar, dass Werturteile stets zu unsachlicher Argumentation führen müs­sen. Un­sachlichkeit ist letztlich im­mer nur auf die Konfusion und Verwechslung der dif­fe­rie­ren­den lo­gi­schen Formen zurückzufüh­ren. Dass aber unterschiedliche Menschen sich mit un­ter­schied­licher Lautstärke zu unterschiedlichen Nor­men und Werten bekennen, dies kann nicht schon der Sach­lich­keit einer Dis­kus­sion abträglich sein.



[1]) Weber (1988a): „einem Chinesen“

[2]) „Vorurteile findet man durch Kontrast und nicht durch Analyse." (Feyerabend 1976a:50)

[3]) Insbesondere in Kritik an Weisser (1923a), seinem akademischen Lehrer, der das Programm ver­folgt hatte, Wirt­schaftspolitik auf ein System expliziter Werturteile zu gründen. "Die Rationalität im Bereich politischer Entschei­dungen hängt nicht von der Existenz einer more geometrico konstru­ier­ten politischen Wissenschaft ab." Albert (1972c:112); vgl. dazu Braybrooke, Lindblom (1963a)

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