Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Von Popper zu Bartley

Poppers Abgrenzungsproblem aber bleibt im Vordergründigen stecken. Hier nun tritt Bartley (1968a:40) mit seinem Vorschlag an, die Demarkation von

Wissenschaft vs. Nichtwissenschaft


als vergleichsweise unwichtig gegenüber der Unterscheidung von

rational vs. irrational

einzustufen.

"Bartley's theory is an extension of Popper's view, and it leads, as far as I can see, quite directly to the re­jec­tion of Popper's theory of demarcation: If philosophical or metaphysical theories also may be ratio­nal, we may use them in science." (Wettersten 1996a:107)

Schließlich ist erstere Unterscheidung weniger relevant für die interne )[1] wissenschaftliche Kom­mu­nikation als für die Legitimierung wissenschaftlicher Resultate nach außen (Fujigaki 1998a:16). Das Problem der Abgrenzung der Wissenschaft von Pseudowissenschaft stellt sich da­mit aufgrund Poppers eigenem Lösungsfortschritt als ein Pseudoproblem heraus.

„Why does a theory of science as conjectures and refutations even need demarcation? Is not the exi­stence of refutations and the quest for new ones enough?" (Wettersten 1992a:199)

Nur auf dem Hintergrund der tabula rasa [2]) der positivistischen Philosophie leuchtet das Pro­blem der Abgrenzung überhaupt erst ein. Hegel konnte ein philosophischer Nachweis, dass Philosophie Not tue (bzw. unvermeidlich ist), nur für Nichtphilosophen notwendig erscheinen (Man kann das Philosoph-Werden Poppers als eine Paraphrase zur „Phänomenologie des Geistes" ansehen.). Allein, Poppers starrköpfiges Festhalten am positivistischen Ausgangsproblem (wobei er wie ein alter Kriegsveteran [3]) nicht nur im Traume, sondern auch im Wachzustande immer wieder die Schaukämpfe der Vergangenheit durchlebt und durchficht) hinderte ihn, die philosophischen Konsequenzen aus seiner eigenen Problemänderung und der dadurch ermöglichten neuartigen Lösung selbst durchgän­gig zu ziehen.

Poppers Entscheidung für den Rationalismus basiert auf einer nicht rational begründeten, ergo irrationalen Entscheidung. Diese durfte Bartley (1987a:114) getrost „Fideismus" heißen:

"Poppers Fideismus wird in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde in prominenter Weise zum Aus­druck gebracht, wo er vorschlägt, 'jenes minimale Zugeständnis an den Irrationalismus zu akzeptie­ren'(II,S.284f). Diese Wahl, in der wir uns, wie Popper sagt, an die Vernunft 'binden', kann für ihn nicht zwischen Wissen und Glauben, 'sondern nur in der Wahl zwischen zwei Glaubensarten bestehen. Das neue Problem lautet: Welcher Glaube ist der richtige und welcher ist der falsche?' Wenn nun aber je­de adäquate Rationalitätstheorie das Ziel verfolgt, dem Fideismus zu entgehen, dann ist Poppers Dis­kus­sion der Rationalität inadäquat. Denn sie ist selbst offenkundig fideistisch."

Poppers Position entspricht hier nämlich ziemlich haargenau derjenigen Polanyis: Der eine glaubt an die Wissenschaft, der andere eben an die Bibel oder sonst was. Das Engagement für Wissenschaft steht rationalitätsmäßig auf derselben Ebene mit dem Engagement für Religion oder eine politische Überzeugung etc. Poppers Fideismus ist somit als Ansatz ohne Weiteres vergleichbar mit Hegels Zielsetzung, Religion und Philosophie rational zu vermitteln; womit hier aber nicht gesagt werden soll, dass beide auch dieselbe Lösung im Auge hätten oder auch nur dieselbe Methode hierzu herangezogen.

Ist etwa der Mönch Anselm v. Canterbury (1033-1109), der sich mit dem Glauben, so wie er ihn hatte, nicht zufrieden geben vermochte, sondern diesen außerdem auch noch philosophisch zu begründen strebte (Flasch 1981a:181ff), seinerzeit an das Verhältnis von Glauben und Wissen viel­leicht gründlicher und damit kritischer herangegangen als ein Popper, dem Glaube schlicht mit Wissenschaft ineinsfiel? Während jener aus dem Glauben zur Vernunft vorstieß, ver­wandelte dieser Wissenschaft letztlich in einen bloßen Glauben. Im historisch-ver­glei­chen­den benchmarking pankritischer Rationalität wird der Kritizist Popper haushoch über­trumpft (?!).

Bartleys Rationalitätstheorie zeigt hingegen, dass man "Kritik" von "Begründung" trennen kann und kritische Rationalität zuallererst und erst einmal Kritisierbarkeit verlangt. Diese Rationa­li­tätstheorie kann auf sich selbst angewandt werden, d.h. steht ihrerseits wieder der Kritik of­fen. Dass aufgrund von Selbstbezüglichkeit innerhalb einer natürlichen Sprache semantische Pa­radoxien ableitbar sind, ist hierbei kein beachtenswertes Gegenargument, weil man sie bei ent­sprechender Sorgfalt vermeiden kann. Insofern stellt Bartleys Konzeption auch ein Fort­schritt dar im Hinblick auf Spinners (1974a:206) Kritik, dass Popper den Rationalitätsbegriff tau­tologisch als eine lediglich definitorische Gleichsetzung verwende. Immerhin: Hier er­eig­ne­te sich der auch nicht gerade häufig vorkommende Fall, dass ein Kritischer Rationalist öf­fent­lich kundtat, dass der Kaiser keine Kleider [4]) anhabe. „rational" ist ein mindestens so viel benutzter wie vager Begriff wie „dialektisch" [5]). Legionen von Autoren haben sich bemüht und werden sich fürderhin bemühen, den in diesem Nebel hoffentlich verborgen ruhenden Stein der Weisen [6]) zu heben.

Wenn der gesunde Menschenverstand in dem ihm verwachsenen natürlichen Dogmatismus [7]) des Alltagslebens mit dem Terminus „Wissen" einen absoluten Wahrheitsanspruch verknüpft, so ist allerdings richtig, dass unter Voraussetzung des Fallibilismus eine Bedeutungsverschie­bung [8]) gegenüber dem gewöhnlichen Sprachgebrauch des naiven, bzw. dogmatischen Rea­lis­mus stattfindet. Dies ist auch nichts weniger als außergewöhnlich für eine Erkenntnisthe­o­rie, dass sie ihre Begriffe anders fasst als der gesunde Menschenverstand [9]).

"Dafür habt ihr ja studiert, dass ihr mehr wissen müsst als unser einer (von euch Idioten genannt), der auf nichts weiter, als auf gesunden Verstand Anspruch macht." (Kant XI:294)

Wenn Erkenntnistheorie dies nicht tun dürfte, bräuchten wir sie überhaupt nicht, sondern könn­ten uns mit den Vorurteilen, so wie wir sie gelernt haben, befriedigt halten. Wenn Dykes (o.J.:02) aus solch einem Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand einen Einwand ge­gen den Fallibilismus meint herleiten zu können, so muss man ganz im Gegenteil zum um­ge­kehr­ten Schluss kommen: umso schlimmer für den gesunden Menschenverstand! Der naive Re­a­­lis­mus ist zwar prinzipiell von jeder Philosophie als Grundlage unserer alltäglichen Welt­ori­entierung zu berücksichtigen. Philosophie darf sich jedoch bei Fragen der Gültigkeit der Er­kenntnis nicht in einem Appell an den gesunden Menschenverstand erschöpfen; sondern sie muss ihn überschreiten und dabei aber dessen Funktionieren miterklären(Hennemann 1961a:437; Molitor 1961a).

Gesunder Menschenverstand ist implizite Philosophie. Philosophie ist expliziter gesunder Menschenverstand:

„All science, and all philosophy, are enlighted common sense." (Popper 1973a:34)

Das eine ist ohne das andere nicht zu verstehen. Bei Fragen erkenntnistheoretischer Gültigkeit sollten wir uns jedoch auf die Teile unseres Wissens stützen, welche systematisch überprüft sind. Aber, wie Feyerabend (1976a) klarzumachen sucht: Aus dem Wahnsinn von heute entsteht der common sense von morgen. Der common sense von heute rekapituliert vielfach nur die überholten Theorien von gestern. Wird im Positivismus die Stupidität Methode, so bei Feyerabend der Wahnsinn zur Schocktherapie. Gesunder Menschenverstand ist immer nur das, was die Allgemeinheit nicht (mehr) für verrückt hält.

Bedeutungsverschiebung ist aber nicht per se strafbar; es sei denn, man halte sprachliche Tra­di­tionen für eine genauso sakrosankte Tradition, wie es Hayek die vorgeblich naturwüchsigen, un­geplanten Institutionen wie Privateigentum und Familie [10]) sind. Es sei denn auch, die Kri­tik an der Bedeutungsverschiebung unterstelle nicht eben eine einzige richtige Bedeutung ei­nes Begriffs, sondern vielmehr, dass die Bedeutungsdifferenz von dem kritisierten Philoso­phen entweder

(1) nicht konsequent durchgehalten werde (Erschleichung von Schlussfolgerungen; freilich erfolgen solche Bedeutungsverschiebungen nicht selten dadurch, dass der Sprecher unversehens von einer Sprache in eine andere fällt; Ajdukiewicz 1934a) oder
(2) dass es diesem aus verschiedenen, einzeln angebbaren Gründen argumentativ un­möglich sei, diese Begriffsdifferenz durchzuhalten bzw. durchzuführen (theoretische Sack­gasse).

Während (1) dem Theoretiker einen logischen Schnitzer (gleichsam eine lässliche Sünde) vorwirft (für die durch Korrektur Buße geleistet werden kann), unterstellt (2) zwar nicht ei­ne Todsünde des Theoretikers, aber der Theorie; nämlich ihr Versagen vor einer kritischen ex­ternen Autorität. Da Letzteres auf eine Theoriekritik insgesamt hinausliefe, soll dies hier nicht weiter verfolgt werden. Es kann nur soviel angemerkt werden, dass, solange eine The­orie­kritik nicht ausführlich geliefert wird, der eine solche gleichsam ankündigende Vorwurf ei­ne implizite Geste verbleiben muss, oder besser gesagt, nichts weiter als eine Gebärde, wel­che eine unspezifizierte Kritik androht. Schließlich ist für jemand wie Feyerabend, dem die Be­deutung eines Begriffs durch ihren jeweiligen theoretischen Kontext geliefert wird, mit je­der neuartigen Theorie ein Bedeutungswechsel notwendigerweise mitvollzogen.

Dasselbe Argument der Bedeutungsverschiebung holte Becker [11]) im Hinblick auf Descartes und den deutschen Idealismus hervor. Es wäre jedoch stichhaltig nur dann, wenn gezeigt wer­den könnte, dass

1. die dem Idealismus entgegengesetzte Erkenntnistheorie, also die realistische Position, als wahr und

2. die Rechtfertigungsstrategie als unausweichlich erwiesen angesehen werden müsste.

Popper ist nun sowohl Realist wie Fallibilist, womit er m.E. in beiden Fällen die stärkeren Po­si­tionen vertritt (zu einer Kritik dieser Positionen siehe Keuth 1978a). Da derlei Thesen aber be­sten­falls nur durch ein vollständig durchgeführtes philosophisches System begründet werden könn­ten, möchte ich mich hier darauf beschränken, auf folgende zwei Punkte hinzuweisen:

1.) Wenn man empirischer Wissenschaft das Ziel setzt, theoretisch gefasste Erklärungen zu lie­fern, so wird man dies im Allgemeinen am besten dadurch plausibel machen können, dass man eine kritische Metaphysik im Sinne des Realismus (Bunge 1973a:169; Hennemann 1961a) unterstellt, insbesondere durch die erkenntnistheoretische Idee, dass es zur Ermöglichung der Widerlegung unserer Theorien von denselben unabhängige Zeugnisse geben muss:

„Die Aufgabe der empirischen Wissenschaft, die, wie ich angedeutet habe, darin besteht, befriedigende Erklärungen zu finden, kann kaum verstanden werden, wenn wir nicht Realisten sind. Denn eine befrie­digende Erklärung ist eine, die nicht ad hoc ist; und diese Idee - die Idee unabhängiger Zeugnisse - kann kaum verstanden werden ohne die Idee der Entdeckung, des Fortschreitens zu tieferen Schichten der Er­klä­rung; ohne die Idee daher, dass es für uns etwas zu entdecken gibt und dass es etwas gibt, das kri­tisch diskutiert werden kann." (Popper 1972a:40)

Letzteres ist jedoch unverkennbar eine Argumentation in oder aus Richtung des Subjek­tivis­mus: Die These der Objektivität der Realität wird damit begründet, dass empirische Wissen­schaft­ler sich reichlich absurd vorkommen müssten, wenn es keine Welt gäbe, wovon sie Wis­sen­schaft haben. Für einen Realisten ist dies allerdings die entgegengesetzte Position, aus der hier zu argumentieren unternommen wird. Er könnte sich stattdessen einfach mit dem Hin­weis begnügen, dass Subjektivisten in der uns bekannten Welt nur minimale Über­lebens­chan­cen haben. Jedenfalls sind weder Realismus noch Idealismus weder beweisbar noch wi­der­legbar. Natürlich lässt sich trotzdem darüber trefflich streiten:

„Realism like anything else outside logic and finite arithmetic is not demonstrable; but while empirical scientific theories are refutable, realism is not even refutable. (It shares this irrefutability with many phil­­osophical or ‘metaphysical’ theories, in particular also with idealism.) But it is arguable, and the weight of the arguments is overwhelmingly in its favour." (Popper 1973a:38)



[1] ) "Interestingly, despite all the talk for and against scientific theorizing in sociology, such theorizing is not so much an ideological starting point as it is the result of implementing a small set of conventions. Taken one at a time, those conventions are much less debatable and controversial than more diffuse questions about whether so­cio­logy can or should be scientific." (Markovsky 1996a:33)

[2] ) "... we always pick out our problem against a third-world background." (Popper 1973a:165)

[3] ) "They just could not let go of the old dispute, they just could not recast anew the problems and debates of the old Vienna that is no more." (Agassi 1993a:xiv)("they": Popper + Carnap)

[4] ) "Now this reference to tests and to criticism which is supposed to guarantee the rationality of science and, perhaps, of our entire life may be either to well defined procedures without which a criticism or test cannot be said to have taken place, or it may be purely abstract so that it is left to us to fill it now with this, and now with that concrete content. (...) In the second case we have but a verbal ornament ..." (Feyerabend 1970a:218)

[5] ) "Dialectics remains the only useful practical logic. (...) This presents philosophy with a built-in crisis: we do not know and have not tried to explore the immediate corolloraries to this old-new idea." (Agassi 1993a:245)

Zur Begriffsgeschichte von "Dialektik" und "Logik" siehe neuerdings auch den exzellenten Kurzüberblick von Hoering 1999a

[6] ) "Ihr Wahrheitsaufsatz ist das beste, was Sie bisher geschrieben haben. Er enthält in nuce das Ganze der dialektischen Logik - die Sie aber doch schreiben müssen!"
Marcuse an Horkheimer, 03.12.1935, (zit. nach Dahms 1994a:111)

So lange bleibt die Begriffsverwendung indes ein ungedeckter Wechsel.

[7] ) Für Popper (1979a:64) ist die dogmatische Denkungsart eine Folge des angeborenen Bedürfnisses nach Regelmäßigkeiten und eines angeborenen Mechanismus, der uns anhält, Regelmäßigkeiten zu suchen. Feyerabend (1976a:115) spricht von „natürlichen Interpretationen". Für Andersson (1988a:129ff) jedoch sind aber letztere nichts weiter als Hilfshypothesen.

[8] ) "Indeed, the term 'conjectural knowledge' may be claimed to be a contradiction in terms, if the matter is thus approached from the side of the commonsense theory." (Popper 1973a:76)

[9] ) "Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet sei­ner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; ..."
[Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 31. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 7662 (vgl. MEW Bd. 20, S. 21)]

[10] ) Wie Bell (1965a) klarmacht, wird in diesen Institutionen häufig nur die Wertordnung einer untergegangenen Epoche, nämlich die des Familienkapitalismus, in reaktionärer Weise verherrlicht.

[11] ) "Man muss sich nun darüber im Klaren sein, dass der radikale Zweifel an außersubjektiver Wirklichkeit überhaupt den Sinn solcher Begriffe wie 'Wirklichkeit' und 'Existenz' in der Konsequenz entscheidend verändert. Die Sinnverschiedenheit ergibt sich als unmittelbare Folge jener Abänderung des Wahrheitsbegriffs."
(Becker o.J.:8; vgl. auch 1972a)

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