Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Von der Abgrenzung zur Rationalität

"Das Abgrenzungs-Kriterium ist ja eigentlich nichts anderes als eine Definition dessen, was wir 'Wissenschaft' nennen wollen und was wir 'Metaphysik' nennen wollen." (Popper 1994b:393)

Popper ist gestartet, indem er den Weg der Bestimmung der empirischen Erkenntnis nahm.

"Die Erkenntnislehre hat die Aufgabe, die echte, objektive Erkenntnis von illegitimen Konkurrenzprodukten zu scheiden."

Eben damit eröffnet Spinner(1974a:10)[1])ganz popper-like (1984a:Anhang *I) die grundsätzliche Fragestellung:

Das allgemeine Erkenntnisproblem und die Idee der Wissenschaft
(oder: Die Idee einer Erkenntnis, die als Wissenschaft wird auftreten können)

Das Erkenntnis- (= Wahrheits-) Problem wird hiermit von vornherein und ganz natürlich mit dem Problem der Abgrenzung von Wissenschaft verquickt. Hierin liegt aber keineswegs eine lo­gische Zwangsläufigkeit. Auch wer das Wahrheitsproblem als zentral für die empirische Wissen­schaft ansieht, ist nicht gezwungen, das Abgrenzungsproblem damit zu identifizieren; noch nicht einmal, es als gleichermaßen zentral oder wenigstens relevant einzustufen. Im Ge­gen­teil, er könnte, ohne logische Inkonsequenz, so weit gehen, das sog. "Abgrenzungsproblem" [2]) als grundsätzlich oder praktisch irrelevant zu behandeln. Die Abgrenzung ist im Hinblick auf einen Wissenschaftsbegriff bzw. auf ein bestimmtes Erkenntnisprogramm nie in logischem oder praktischem Hinblick so trennscharf hinzukriegen, wie es das Dogma der "Wissen­schaft­lich­keit" beanspruchen zu können glaubt. Wir werden immer wieder das hinter dem Zaun [3]) finden, was wir lieber davor hätten, oder umgekehrt.

Mit ein Motiv ist für Popper wie schon für Weber [4]) vor allem die Abweisung der Ansprüche ei­nes "wissenschaftlichen Sozialismus". Dieses Motiv wird aber nur zur Bildung abschreckender Bei­spiele herangezogen, nicht jedoch bei der Begründung der Methodologie eingesetzt. Statt­dessen führt Popper (1984a:3) als Problemformulierung eine Definitionsfrage ein:

  • „Was nennen wir ‘empirische Wissenschaft’?"

Eine Definition könne aber nie wahr sein, sondern nur zweckmäßig. Gut so! Aber gerade da­durch kann Poppers Lösungsversuch uns unmöglich zufrieden stellen, da er uns weitgehend dar­über im unklaren lässt, wozu, d.h. in welchem Problemzusammenhang er diese Definition von „Wissenschaft" überhaupt benötigt. Er zeigt sich vielmehr darin als ein echter Kant-Nach­fol­ger [5]), indem er aufgrund vorgeblich absolut feststehender apriorischer Eigenschaften von Aus­sagen notwendige Begriffsmerkmale von Erfahrungswissenschaft zu eruieren bemüht ist: „Ver­suche einer definitiven Grenzziehung"(Wendel 1998a:60). So präsentiert sich Poppers Pro­blem­stellung der Definition der wesentlichen Eigenschaften von „empirischer Wissenschaft" schließ­lich doch als in eklatantem Widerspruch stehend zur Angriffslinie seiner eigenen Es­sen­ti­alismuskritik. Denn in einer Definition die Lösung eines Problems zu sehen, das ist aber ge­rade das, was nach Poppers eigener Darstellung aristotelischen Essentialismus ausmacht.

Nachdem dann Popper (1984a:426) sein Abgrenzungskriterium eigentlich als einen (indes wis­sen­schaftshistorisch relevanten) „normativen Vorschlag" bezeichnet, fehlt dazu bei ihm fast ganz die im Sin­ne des Fallibilismus notwendige kritische Auseinandersetzung mit relevanten Alter­nativ­vor­schlägen. Die Darstellung erweckt vielmehr den Anschein, als ob Logik die Wissen­schafts­logik und diese notwendigerweise den richtigen Begriff von „Wissenschaft" zu begrün­den in der Lage sein sollte.

Es würden nun aber Poppers Attacken auf Hegel völlig unverständlich, wenn es für ihn keine philosophische Wahrheit gäbe. Stritt er gegen ihn etwa um Glaubensfragen?!

„Die Vernunft ist die Regel, der Glaube die Ausnahme von der Regel. Selbst in der besten Harmonie ist daher eine Kollision zwischen beiden unvermeidlich, denn die Spezialität des Glaubens und die Universalität der Vernunft decken sich nicht vollkommen, sondern es bleibt ein Überschuss von freier Vernunft, welcher für sich selbst, im Widerspruch mit der an die Basis des Glaubens gebundenen Vernunft, wenigstens in besonderen Momenten, empfunden wird. So wird die Differenz zwischen Glauben und Vernunft selbst zu einer psychologischen Tatsache."

Feuerbach (1976a:11) hält die Differenz von Glaube und Vernunft zu recht für eine real erfahr­ba­re psychische Möglichkeit. Ihr verdankt sich Aufklärung. Aufklärung ist aber kein All­zweck­rei­niger, der Aberglaube [6]) raus und Vernunft rein zwingt. Das Ziel der Mündigkeit schließt nicht die Gefahr der psychischen Beschädigung auf dem Wege dahin aus. Brauchen wir vielleicht, wie Hinrichs (1999a:151) fragt, unsere intellektuelle Beschränktheit, um bei Trost zu bleiben? Aber: Schon der Mythos enthält aufklärerische Momente, wie auch Auf­klä­rung nie dagegen gefeit ist, in einen Mythos neuester Bauart umzuschlagen (Horkheimer, Adorno 1998a:18).

Nun ist gerade freiwillige und kostenlos verteilte Kritik an seinen lieben Nächsten meist ein Kol­lektivgut, das seinem Lieferanten keinen, wenn nicht sogar negativen Nutzen einträgt, wie je­der Kritiker aufgrund seiner eigenen ihm zuteil werdenden Lebenserfahrung (soweit diese ihm in aus­reichendem Maße zu machen erlaubt wird) zu bestätigen weiß und schon Sokrates in seiner be­rühm­ten Verteidigungsrede sehr überzeugend formuliert hat:

„Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, dass ich das Meinige samt und sonders versäumt habe und so viele Jahre schon ertrage, dass meine Angelegenheiten zurückstehen, dass ich aber immer die euri­gen betreibe ..." (Platon, Des Sokrates Verteidigung:22)

So gesehen ist rationale Kritik zumindest in ihrem Entstehen irrational oder doch, zumindest öko­nomisch betrachtet, ein rechtes Wunder. Damit aber hinwieder ein Problemfeld, das so recht nach der Beackerung durch die Theologen ruft, da diese auf Wunderliches sich von Pro­fes­sion aus verstehen und die rein himmlischen Probleme, da eh ewig, ruhig in der War­te­schlan­ge der Dinge, die da kommen sollen, harren können. Sehr angebracht wären aber theo­lo­gische Beratungsstellen für Kritische Rationalisten, denen ihre Mitmenschen allzu übel mit­ge­spielt haben und darob ihre Berufung [7]) zu sauer ward. Doch einmal ausnahmsweise im Ernst gesprochen: Spinner (1978a:119ff) findet die Naivität von Kritischen Rationalisten schwerlich zu verzeihen, wenn sie normative Problemlösungen, die vielleicht gerade noch für den Klein­gruppenbereich funktionieren mögen (wie Entlastung von existentiellen Entscheidungen, Privile­gie­rung der Rolle des Kritikers, etc.), unbesehen als empfehlenswerten Lebensstil für alle mög­lichen Be­reiche der Gesellschaft oder gar für die Gesellschaft insgesamt propagieren. Was in der Me­thodologie richtig sein mag, muss allein deswegen nicht schon auch für Politik eine brauch­bare Lösung darstellen.



[1] ) Helmut F. Spinners Schriftenverzeichnis

[2] ) "Die Aufgabe, ein solches Kriterium zu finden, durch das wir die empirische Wissenschaft gegenüber Mathematik und Logik, aber auch gegenüber 'metaphysischen' Systemen abgrenzen können, bezeichnen wir als Abgrenzungsproblem." (Popper 1984a:9)

[3] ) "Narrowness would imply that it rules out too much. But what actually gets ruled out includes claims that can­not be tested; claims that can be tested, but have failed to survive empirical tests; and claims that contain self-contradictions, ambiguities, or invalid arguments. In short, we exclude the untestable, the false and the fuzzy. There are actually very few substantive interests in our field that are outside the realm of scientific inquiry. So the approach is not narrow in that sense." (Markovsky 1996a:32 )

[4] ) "So ist aus der Sicht Webers solch ein Ausdruck wie 'wissenschaftlicher Sozialismus' genauso unannehmbar, wie es der der 'Christian Science' sein würde, wenn der Wissenschaftsbegriff dort in einem empirischen Sinne gemeint wäre." (Parsons 1965a:46)

[5] ) Obwohl für Kant sich die Aufgaben der Philosophie keineswegs auf eine Wissenschaftswissenschaft redu­zieren: "Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernt, dass Philosophie nicht etwa eine Wis­senschaft der Vor­stellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches sei; son­dern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns; - sie soll den Menschen nach allen seinen Bestandteilen darstellen, wie er ist und sein soll, d. h. sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverhältnis." (Kant XI:340)

[6] ) "Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Ver­trauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Physischen oder Moralischen." (Kant XI:335,Anm.*)

[7] ) "Wie glücklich wäre ich, wenn ich die Wahrheit oder das, was ich dafür halte, verbreiten könnte, ohne einem Men­schen dadurch wehe zu tun." (Börne 1964a:319)

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